Ärzte laufen Sturm gegen das von Bundesgesundheitsminister Jens Spahn geplante „Terminservice- und Versorgungsgesetz (TSVG)“. Den heutigen Mittwoch, den 23.Januar 2019, haben sie als Protesttag ausgerufen. Bundesweit laufen Aktionen (Termine unter www.niedergelassene-protestieren.de), zum Beispiel in Hannover, München, Hamburg, Düsseldorf und Köln. Die Niedergelassenen wehren sich gegen gravierende Eingriffe in die Organisation der vertragsärztlichen Versorgung.
Seit Monaten positionieren sich die Verbände und Funktionäre klar dagegen, sprechen von „Staatsmedizin“ und gravierenden Nachteilen für Patienten. Nun gehen die Ärzte auf die Straße und demonstrieren. Niedergelassene kämpfen für die Freiheit, ihren Praxis-Alltag als Selbstständige so zu gestalten, wie sie möchten. Medscape berichtet seit Wochen über die Argumente für und gegen den Gesetzentwurf und freut sich auch über Ihre Kommentare (siehe Klickfeld unten links).
Auch der Ärztenachrichtendienst (ÄND) wollte von seinen Lesern wissen, wie sie über die Pläne Spahns denken und fragte in einem Aufruf „Warum sind Sie gegen das Spahn-Gesetz, Herr Doktor?“ Die Antworten waren zahlreich – und manchmal auch sehr emotional. Täglich trudeln neue „authentische Stimmen“ von Ärzten, Zahnärzten und Psychotherapeuten aus allen Regionen Deutschlands ein. Sie wollen Patienten, Politiker und Medien öffentlich vor einer gefährlichen Fehlentwicklung warnen und unterzeichnen dafür mit vollem Namen, schreibt das ÄND in seinem Magazin „Durchblick Gesundheit“. Hier eine – teils gekürzte – Auswahl der Kommentare als Stimmungsbarometer zum TSVG:
Hauptforderung: Keine Bevormundung!
Die meisten Kommentare richten sich gegen die Versuche, mit dem TSVG in den Arbeitsalltag der Praxen einzugreifen, was als Bevormundung empfunden wird. Der HNO-Arzt Dr. Herbert Meuser aus der Stadt Schloß Holte-Stukenbrock bei Gütersloh nennt das Gesetz sogar ein „Monster“: „Das TSVG ist in meinen Augen ein bürokratisches Monster, welches sich in keiner Art positiv auf die Patientenversorgung auswirken wird. Im Gegenteil. Es wäre wesentlich sinnvoller, vernünftige Rahmenbedingungen für eine effiziente Arbeit am Patienten zu schaffen. Außerdem ist das TSVG ein Frontal-Angriff auf meine Freiberuflichkeit: Ich trage das volle Risiko und muss mir vorschreiben lassen, wie ich zu arbeiten habe? “
Der HNO Kollege Dr. Jost Wilhelm aus Berlin fürchtet, dass seine bewährten Praxis-Abläufe nun gestört werden könnten: „Ich möchte gerne weiterhin Herr über die Organisation meiner Praxis bleiben. Ich möchte weiterhin Termine nach Dringlichkeit vergeben und nicht mir von einer TSS aufdrücken lassen. Ich habe ohnehin täglich 7 bis 10 Puffertermine für akute Fälle. Diese Arbeitsweise hat sich in 30 Jahren zu meiner und der Zufriedenheit meiner Patienten bewährt.“
Keine Einmischung von oben, das fordert auch Dr. Nikolaj Pritzl, Internist im bayerischen Chieming: „Welche Automobilfirma würde es zulassen, dass das Verkehrsministerium anruft und bestimmt, wann ein bestimmtes KFZ ausgeliefert werden muss! Jede Praxis hat ihre eigenen Strukturen, die über Jahre gewachsen sind und nicht einfach von außen umgestoßen werden können. Absolutes Chaos und verlängerte Prozesse und damit Wartezeiten wären die Folgen!“
Bevormundung von „Donald Spahn“ nennt der Kinder- und Jugendarzt Dr. Reinhard Kennemann in Essen das TSVG: „Ich denke, es wäre von Seiten der Politik sinnvoller, die Ärztinnen und Ärzte nicht durch Gängelei und Bevormundung aus dem Land zu vertreiben. Wir arbeiten gern, müssen aber nicht fachfremde "Aufpasser" wie Herrn Donald Spahn akzeptieren. Termine für Patienten gibt es in meiner Praxis und nicht von irgendeiner Vermittlungsstelle. Besonders schwer erkrankte Kinder haben keine Wartezeit, eine Vermittlungsstelle ist überflüssig wie ein Kropf.“
„Das TSVG ist der Weg in die Planwirtschaft. Alle Gängelungen der Politik mit TSVG, Budgetierungen, Regelleistungsvolumen und Pauschale, Bereitschaftsdienstverpflichtungen und nationalen Versorgungsleitlinien lassen mich daran zweifeln, ob ein niedergelassener Arzt nicht schon scheinselbständig ist. Dann muss die Politik aber die Lohnnebenkosten der letzten 20 Jahre nachzahlen“, sagt Dr. Andreas Kühn, Anästhesist mit Schmerztherapie-Vereinbarung aus Künzelsau.
Nicht nur Begriffe wie Planwirtschaft fallen in der Diskussion . Der Augenarzt Dr. Martin Rauber aus Saarlouis zieht noch einen anderen Vergleich aus dem Staatswesen: „Gesetze, die fordern, dass die ohnehin am Limit Ihrer Kräfte arbeitenden Ärzte nun auch noch gesetzlich überwacht, genötigt und im Vergleich zu allen anderen Berufsgruppen sanktioniert werden, gehören nicht in ein demokratisches System. Bisher waren Ärzte häufig Freiberufler – unterzieht man sie der Diktatur des Gesundheitsministeriums, hat man eine Staatsmedizin.“
Seine Selbstbestimmung sieht auch Dr. Heinrich Gleitz, Hausarzt in Bergneustadt, bedroht und zieht einen Vergleich mit anderen Berufsfeldern: „Ich bin Freiberufler und lasse mir doch nicht bis ins Detail vorschreiben, wie und wann ich zu arbeiten habe. Hat das schon mal jemand bei Anwälten, Architekten oder Tierärzten auch nur ansatzweise in Erwägung gezogen?“
Deftige Vergleiche wählt Dr. Reinhard Kühn, Facharzt für Allgemeinmedizin in Dorfprozelten: „Das TSVG ist der Totengräber für die Freiberuflichkeit. Ein niedergelassener Arzt in Deutschland ist nur noch umgeben von Zwängen und Vorschriften (siehe auch Budgetierung, TI, DSVG), weswegen immer mehr abwandern oder – wenn möglich – vorzeitig in Rente gehen. Ein deutscher Arzt ist zum Müllschlucker verkommen! Im Ausland genießen sie noch Wertschätzung und angemessene Bezahlung.“
Mehr Termine für Notfälle?
Ein Ziel des TSVGs ist es die Terminvergabe für Notfälle zu verbessern. Doch die Praktiker habe oft schon eine eigene gute Lösung für sich gefunden. Einen Einblick in ihren Workflow sendet mit einem Gruß aus Rostock die Frauenärztin Dr. Carolyn Troeger. Das TSVG löst aus ihrer Sicht das Problem nicht. Ihre Argumente dagegen: „Wir haben eine gut funktionierende Frauenarztpraxis mit Bestellsystem, reguläre Termine gibt es mit 4 Wochen Vorlauf. Bei dringenderen Fragestellungen, z.B. Schwangerschaft, gibt es eher einen Termin. Notfälle nehmen wir jeden Morgen um 8 Uhr dran. Das wissen die Patienten auch. Es gibt jeden Tag 2-4 Patienten, die einen Termin erhalten haben, diesen aber nicht wahrnehmen. Dieser Termin fehlt dann möglicherweise anderen…. Wenn ich am Quartalsende feststellen muss, dass ich die hinterlegte Arbeitszeit von 840 Stunden überschreite, oder das Regelleistungsvolumen überschritten habe, dann sind es nur noch die netten Patienten und die Liebe zu meinem Beruf, die mich weitermachen lassen. Wenn endlich der Deckel vom Budget-Topf genommen würde, wäre das vermeintliche Problem nur halb so groß.“
Ein Callcenter zur Vermittlung von Terminen, wie im TSVG angedacht, lehnt auch die Remscheider Frauenärztin Dr. Chris Schlicker ab: „ Wir haben in unserer Gemeinschaftspraxis seit Jahren eine Notfallsprechstunde von einem Zeitfenster von 30 bis 60 Minuten während der Mittagszeit integriert. Die Patientinnen mit akuten Beschwerden rufen morgens an und bekommen in der Regel am gleichen oder nächsten Tag einen Notfalltermin. Eine Notwendigkeit von extern organisierten Terminen, die im Verwaltungsaufwand viel Geld kosten, besteht meines Erachtens nicht.“
Zur Diskussion um die Notfälle sagt Dr. Stefan Schumann, Facharzt für HNO und Belegarzt, ebenfalls in Remscheid: „Es gibt zur Zeit keinen Mangel an Terminen. Auch nicht bei den meisten Fachärzten. Arzttermine werden oft wegen Bagatellen in Anspruch genommen. Patienten erklären ihre Befindlichkeitsstörungen immer öfter zu Notfällen. Ca. 50% der Termine für Allergietestungen werden von Kassenpatienten in meiner Praxis regelmäßig nicht wahrgenommen. Das Personal muss vorgehalten werden und der Ausfall des Verdienstes wird nicht erstattet. Hierfür ein Gesetz zu machen, welches diesen Blödsinn noch fördert, ist der Gipfel. … Wenn ich einen wirklich dringlichen Fall habe, dann wird dieser auch auf der Überholspur behandelt, egal wie er versichert ist. Und das ist bei mindestens 99% aller Mediziner/innen so. Herr Spahn, kümmern Sie sich um eine Abschaffung der Medizinerbesuchsflatrate seitens der Kassenpatienten. …Und machen Sie Ihre Hausausgaben. Praxis kann da nicht schaden.“
Noch mehr umsonst arbeiten?
Nein, danke! Zu viele Überstunden sind schon im heutigen System ein großes Problem. Viele Ärzte fürchten durch das TSVG eine noch größere Belastung ohne entsprechende Honorierung. „Dieses Gesetz ist im Rahmen der Budgetierung unhaltbar. Wir arbeiten momentan schon an Ende des Quartals umsonst. Und das dann auch noch am Samstag? Pro Patientin 2,50 € Zuschlag, dafür würde sich kein Handwerker rühren“, sagt zum Beispiel die Frauenärztin Dr. Urte Steinert aus Nürnberg.
Die Augenärztin Dipl.-Med. Karin Oehmig aus Penig dazu: „Die Praxen sind schon übervoll – Arzte und Personal arbeiten jetzt schon am Limit. Das TSVG kostet die Praxen noch mehr Zeit, die den Patienten verloren geht!!!“
Dass das Klischee vom Golfplatz nicht zutrifft, erklärt Dr. Burkhardt Picken, Allgemein- und Unfallchirurg aus Wetzlar: „In unserem Ärztekreis um Wetzlar sind über 180 fleißige Ärzte, die, wie ich auch, alle über 45h pro Woche arbeiten und mittwochs nicht auf dem Golfplatz stehen oder ihren (nicht vorhandenen) Ferrari putzen, sondern Haus- und Altenheimbesuche bis spätabends machen oder wie ich operiere ohne Mittagspause. Das können sich unsere Politiker gar nicht vorstellen. Zusammenfassung: Anstatt Probleme anzupacken und mit den Ärzten zu arbeiten, wird ein unnötiger Druck aufgebaut, um die immer weniger werdenden Ärzte noch zu vergraulen. Dieses Gesetz ist kein Gesetz, sondern ein Schlag ins Gesicht der Ärzte, die mit ihrer vielen unbezahlten Mehrarbeit ohnehin schon am Limit arbeiten. Es bringt NICHTS für die Patienten und auch keine zusätzlichen Termine.“
Neue Hürden für die Psychotherapie
„Das TSVG ist gerade für Patienten mit psychischen Störungen eine Katastrophe, weil die geplanten Gesetzesvorgaben darauf hinauslaufen, sich mit ihrem Behandlungsanliegen vor jeglichem Beginn einer Psychotherapie erst einmal quasi rechtfertigen zu müssen, die Anzahl verfügbarer Psychotherapieplätze nochmals reduziert und damit die Wartezeit auf entsprechende Behandlungen nochmals verlängert wird“, sagt der Psychologische Psychotherapeut aus Dortmund, Bernd Nolde.
Auch Anne-Marie Schlösser, Psychologische Psychotherapeutin und Psychoanalytikern in Göttingen, sieht das ähnlich: „ Das Erstzugangsrecht soll den Psychotherapeuten genommen werden. Das bedeutet unzumutbare Belastungen für Patienten. Statt die Versorgung zu verbessern, werden neue Hürden aufgebaut. Darüber hinaus werden Psychotherapeuten diskriminiert und in ihrer Kompetenz beschnitten.“
Dr. Rebecca Leopold, Psychologische Psychotherapeutin in Ettlingen: „Das TSVG schafft keinen einzigen weiteren Therapieplatz, den bedürftige Patientinnen und Patienten dringend bräuchten.“
Rundumschlag gegen das Spahn-Gesetz
„Das TSVG ist der hilflose Versuch der Politik, das Versprechen eines „Rundum-Sorglos-Pakets" der Gesundheitsversorgung für 80 Mio. Deutsche in Zeiten knapper werdender Ressourcen einzuhalten – auf Kosten eben jener, die dieses System bislang aus Verantwortung und Liebe zu ihrem Beruf aufrechterhalten haben“, sagt der Internist Ulrich Hempel in Brake.
Das TSVG ist eine Zumutung, meint auch Dr. Michael Holl, Rehabilitationsmediziner in Rastatt, weil:
Ein bestehender Vertrag einseitig geändert wird.
Ein nicht hinnehmbarer Eingriff in die Praxisorganisation erfolgt.
Seit Jahren 20 - 40% meiner Tätigkeit nicht bezahlt wird.
Eine zusätzliche Behandlung von Patienten nicht zu einer Erhöhung des Honorars führt, sondern sich erst nach 4-8 Quartalen evtl. bemerkbar macht., da es sich ja um eine unerwünschte (!!) Ausweitung der ärztlichen Tätigkeit handelt.
Die Sprechstundenanzahl jetzt bereits über 25 Std./Woche liegt.
Es nicht zu einem mehr an Terminen führt, da es mich motiviert, die Sprechstundenzeiten auf 25 Std./Woche nach unten anzupassen.
Wir keine Leistungserbringer, sondern Ärzte sind und der Umgang mit uns einfach nur unterirdisch ist.
Ich mein eigener Chef bin und es nicht nötig habe mir von irgendjemandem Vorschriften machen und mich kontrollieren zu lassen.
Noch ein Vorschlag zur Güte
Eine Einladung an Jens Spahn spricht der Hamburger Hausarzt Dr. Mike Müller-Glamann aus: „ Die Einmischung in meine Patientenversorgung durch die Politik nervt. Herr Spahn kann ja mal bei mir einen Tag verbringen, dann sieht er, dass wir jetzt schon mehr machen als für uns und manchmal auch für die Patienten gesund ist. Wenn ich statt 120% jetzt 150% arbeiten soll – mache ich das, aber das geht nur mit einem deutlichen Zuschlag, um mehr Personal einzustellen... Ein Budget oder Abstaffelung ist da leider kontraproduktiv.“
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Diesen Artikel so zitieren: “Staatsmedizin, Frontal-Angriff“ – so deutlich äußern Ärzte ihren Ärger über das geplante TSVG und rufen zum Protest-Tag auf - Medscape - 23. Jan 2019.
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