Masse statt Klasse: Wie falsche Belohnungssysteme und Raub-Journale Patientenversorgung und Forschung gefährden

Ute Eppinger

Interessenkonflikte

21. Januar 2019

Eine gute Therapie basiert auf seriöser medizinischer Forschung. Doch die ist in Gefahr: durch Pseudowissen über sogenannte „Predatory Journals“, Fake-Kongresse und durch die Einflussnahme von Lobbygruppen, warnt die Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften e. V. (AWMF) in einer Pressemitteilung. Auf ihrer Delegiertenkonferenz gingen die AWMF-Mitgliedsgesellschaften auf Ursachenforschung und diskutierten Gegenmaßnahmen.

Unseriöse Informationen breiten sich ungehemmt aus: „Dadurch sehen wir Patienten in Gefahr“, erklärt Prof. Dr. Rolf Kreienberg. „Die zu beobachtende, rasante Zunahme der Entstehung pseudowissenschaftlicher Journale und Fachtagungen sowie die zunehmende Einflussnahme von Lobbygruppen auf systematische Übersichtsarbeiten und Leitlinien sind aber nur Symptome einer Fehlentwicklung – die Ursachen dafür liegen tiefer“, fügt der Präsident der AWMF hinzu.

Eine Forderung der AWMF an die Politik ist, dass Forschungsleistungen besser evaluiert werden sollten. „Wir brauchen wissenschafts-adäquatere Ansätze“, sagt Prof. Dr. Christoph Herrmann-Lingen, Leiter der ständigen AWMF-Kommission Leistungsevaluation in Forschung und Lehre.

Studien sollten hinsichtlich ihrer Relevanz nicht nur unter dem Aspekt des Impact Factors der Fachzeitschrift beurteilt werden, sondern danach, wie wichtig die Ergebnisse für die Patientenversorgung sind, betont der Direktor der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie am Universitätsklinikum Göttingen im Gespräch mit Medscape.

Dazu gehört auch, die Leitlinien der medizinischen Fachgesellschaften und ihre Autoren aufzuwerten. „Die Politik sollte die gesellschaftliche Relevanz von Leitlinien anerkennen“, bislang passiere das zu wenig.

 
Wir brauchen wissenschafts-adäquatere Ansätze. Prof. Dr. Christoph Herrmann-Lingen
 

Die allermeisten Leitlinien werden ohne externe Förderung erstellt, die Autoren leisten diese wichtige Arbeit ehrenamtlich und investieren Zeit, in der sie selbst nicht forschen und keine Drittmittel einwerben können. Eine Idee, die Arbeit von Leitlinien-Autoren aufzuwerten, könnte sein, dass der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) ähnlich dem Innovationsfonds ein Förderprogramm für die Leitlinien-Entwicklung auflegt.

Falsche Belohnungssysteme und immer mehr Publikationsmöglichkeiten

Prof. Dr. Gerd Antes

Gründe dieser Fehlentwicklung sind falsche Belohnungssysteme, die nicht nur durch Fremdeinflüsse, sondern auch durch die Erosion eigener Ansprüche der medizinischen Wissenschaft befeuert werden. Prof. Dr. Gerd Antes, ehemaliger Direktor von Cochrane Deutschland, beobachtet diese Fehlentwicklung schon seit Jahren kritisch. Kernproblem aus seiner Sicht: „Masse zählt anstatt Klasse.“ Symptomatisch dafür seien zunehmende Vielfachveröffentlichungen von Studien.

Die Möglichkeiten, Forschungsergebnisse zu publizieren, haben in den vergangenen Jahren stark zugenommen: Das Directory of Open Access Journals listet nach eigenen Angaben die „guten“, also wissenschaftlichen Open-Access-Fachzeitschriften mit Qualitätskontrolle auf. Waren im Dezember 2004 dort noch überschaubare 1.400 Journale verzeichnet, so waren es Ende 2015 bereits über 10.800. Parallel dazu hat auch die Zahl der Predatory Journals – der Raub-Journale – zugenommen.

Laut Neue Züricher Zeitung lag die Zahl dieser Pseudo-Journale im Februar 2018 bei über 10.000. In seiner erschreckend langen Beall´s List of Predatory Journals and Publishers hat Jeffrey Beall, Bibliothekswissenschaftler der Universität Colorado, USA, diese Raub-Journale aufgelistet.

Weil digitales Publizieren von wissenschaftlichen Originalartikeln billig ist, entstanden vor allem in Asien und Afrika in den vergangenen Jahren tausende Webpages von Raub-Verlegern, schreibt das Science Media Center Germany. Im Kern basiere das Geschäftsmodell dieser Verlage darauf, Autoren aus wissenschaftlichen Institutionen anzuwerben, um dann gegen Gebühr Forschungsergebnisse zu veröffentlichen – ungeprüft, ohne ernsthaftes Peer Review.

Die Folge: Die Flut wertloser Publikationen beschädigt die Integrität des wissenschaftlichen Kommunikations- und Publikationssystems.

 
Masse zählt anstatt Klasse. Prof. Dr. Gerd Antes
 

„Predatory Journals bieten Einfallstore für Menschen außerhalb des wirklichen Wissenschaftsbetriebs. Pseudo-Wissenschaftler können ihre Thesen und Meinungen in Pseudo-Studien verpacken“, schreibt Beatrice Lugger, die Direktorin des Nationalen Instituts für Wissenschaftskommunikation (NaWik) in Karlsruhe im Onlinemagazin des Stifterverbandes für Bildung, Wissenschaft, Innovation.

Zunehmend werde das von der AWMF unterstützte Open-Access-Verfahren, das die freie Verfügbarkeit wissenschaftlicher Publikationen per Bezahlung durch die Autoren sicherstellen solle, durch Predatory Journals unterwandert, „die sich durch von Autoren bezahlte Publikationen finanzieren, aber die notwendige Qualitätssicherung – Peer-Review-Verfahren – nicht gewährleisten“, kritisiert auch Herrmann-Lingen.

Unsinnige Studie publizieren? Leichter als gedacht …

Dass es diese Raub-Verleger gibt, ist innerhalb der Wissenschaften kein Geheimnis. Wer im Wissenschaftsbetrieb Fuß gefasst hat, für den gehören E-Mails von „Spitzen-Fachjournalen“ aus Indien oder Einladungen zu „Top-Konferenzen“ nach China zum Klickalltag. Klick – und sie landen meist im Spam-Ordner. Prof. Dr. Stefan Hell, Nobelpreisträger für Chemie 2014, bestätigt in der Reportage „Fake Science – Die Lügenmacher“, dass er täglich mit Werbemails von Fake-Verlagen überschüttet werde.

Wie einfach es ist, eine komplett unsinnige Studie in einem dieser Fake-Verlage zu publizieren, hatten die Macher von „Fake Science“ getestet. Mit den ausgedachten Namen Christian Schreibaumer und Isabella Stein, Wissenschaftler an der „Universität Himmelpforten“, bieten die Journalisten der „Weltakademie für Wissenschaft, Ingenieurwesen und Technologie“ (WASET) ihre Arbeit an.

Stein und Schreibaumer wollen M.O.P. entwickelt haben, ein Rechenprogramm, das auch auf einem Gameboy laufe. WASET, die als wissenschaftlicher Verlag und Konferenzveranstalter auftritt, antwortet nach wenigen Tagen: Der Einstieg des Papers solle um 3 Sätze verlängert und eine Fußnote eingefügt werden. Mehr nicht. „Dass ein eingereichtes Paper einfach so durchgeht, kommt eigentlich nicht vor. Und wenn es so durchgeht, ist das ein großes Alarmzeichen, weil das heißt: Da ist jemand entweder schlampig gewesen oder oberflächlich oder zu großzügig“, kommentiert dies Antes in der Reportage.

Auch Wissenschaftler aus Harvard und Stanford, Wissenschaftler der Charité, der TU München, der RWTH Aachen, der Universität Hannover und der Fraunhofer Gesellschaft publizieren bei solchen Fake-Verlagen. Mehr als 5.000 deutsche Wissenschaftler verschiedener Fachrichtungen veröffentlichen bei 3 der großen Fake-Verlage ihre Arbeiten, so das Fazit von „Fake Science“. Die Macher der Reportage haben Studien aus Predatory Journals auch in Patentanträgen für Medizinprodukte und in der Datenbank des G-BA gefunden.

 
Pseudo-Wissenschaftler können ihre Thesen und Meinungen in Pseudo-Studien verpacken. Beatrice Lugger
 

Antes nennt es „unverantwortlich von seriösen Wissenschaftlern, dort zu publizieren, wo erkennbar und vorsätzlich unseriösen Autoren der Raum gegeben wird und diese damit aufzuwerten“.

Und Nobelpreisträger Hell sieht die Wissenschaft in der Pflicht zu handeln: „Wenn das System hat, und die Leute darauf nicht einfach nur reinfallen, sondern das sogar nutzen, dann muss man das abstellen.“

Falsche Anreize an den Universitäten und Studien, die in der Schublade bleiben

Mitverantwortlich für die schiere Publikationsmasse macht Antes falsche Anreizmechanismen an den Universitäten. Der Druck, ständig zu veröffentlichen, ist hoch. „Einschränkungen auf eine geringe Zahl relevanter Veröffentlichungen anstatt 25-seitiger Listen sind eher die Ausnahme als die Regel. Das gilt nicht nur für die persönliche Karriere, sondern auch institutionell. Wir in der Medizin haben eine leistungsorientierte Mittelvergabe, für die die Publikationsmenge ein entscheidender Faktor ist. Die wird an dem seit Jahren heftig kritisierten Impaktfaktor gemessen und schafft ein Klima, in dem die Menge zählt“, erklärt Antes im Interview mit dem Onlinemagazin der Universität Freiburg.

Berücksichtigt werden sollten Publikationen, die für eine bessere Patientenversorgung relevant sind und nicht – wie bislang – lange Listen mit Veröffentlichungen, die für die Karriereentwicklung von Wissenschaftlern ausschlaggebend sind. Auch die Raub-Verlage mit ihren Pseudo-Journalen haben nicht wenig Anteil an der immer größeren Menge von Publikationsmöglichkeiten.

 
50 Prozent aller randomisierten klinischen Studien werden niemals publiziert. Insbesondere gelangen unerwünschte Studienergebnisse nicht an die Öffentlichkeit. Prof. Dr. Ina Kopp
 

Ein weiteres Problem im Wissenschaftsbetrieb ist: „50 Prozent aller randomisierten klinischen Studien werden niemals publiziert. Insbesondere gelangen unerwünschte Studienergebnisse nicht an die Öffentlichkeit“, betont Prof. Dr. Ina Kopp, Leiterin des AWMF-Instituts für Medizinisches Wissensmanagement.

Die AWMF unterstützt deshalb internationale Initiativen zur Verbesserung klinischer Studien und zu deren vollständiger Publikation. „Die offizielle Registrierung aller Studien und die Veröffentlichung aller Studienergebnisse müssen verpflichtend sein“, fordert Kopp. Nur so sei eine Qualitätssicherung möglich. In Deutschland ist für die Durchsetzung dieser Forderung der Gesetzgeber gefragt. Unerlässlich dafür sind verlässliche Studienregister wie das Deutsche Register Klinischer Studien (DRKS) in Freiburg.

Dass Studien nicht publiziert werden, gefährdet die Patienten

Dass 50% aller durchgeführten Studien nicht publiziert werden – weil die Ergebnisse nicht „passen“ oder eher unspektakulär sind – gefährdet schon jetzt konkret Patienten, wie Herrmann-Lingen am Beispiel Pregabalin zur Behandlung der schmerzhaften diabetischen Neuropathie erläutert. „Bisherige Metaanalysen und Leitlinien, beziehen sich ganz oder überwiegend auf Studien der Hersteller des Mittels.“

Eine neue Metaanalyse unter zusätzlicher Einbeziehung von registrierten, aber nicht publizierten Studien zeigt dagegen wesentlich schwächere Effekte des Mittels, insbesondere in Studien, die von Konkurrenzfirmen gefördert wurden. „Das kann Patienten unmittelbar gefährden, indem ihnen auf der Basis ungenügender Daten suboptimale Behandlungsempfehlungen gegeben werden“, erklärt er.

 
Das kann Patienten unmittelbar gefährden, indem ihnen auf der Basis ungenügender Daten suboptimale Behandlungsempfehlungen gegeben werden. Prof. Dr. Christoph Herrmann-Lingen
 

Aber auch unseriöse Darstellungen von Studien im Internet gefährden Patienten. „Da heißt es dann: in klinischen Studien getestet. Doch Patienten können kaum beurteilen, wie seriös solche Informationen sind.“

Solche ‚Informationen‘ hätten dazu geführt, dass Patienten gegen Statine Sturm laufen und so eine sinnvolle Therapie ablehnen. Der Grund: Im Internet wurde vor starken Muskelschmerzen aufgrund der Statin-Einnahme gewarnt. „Das ist nicht völlig absurd, diese Nebenwirkungen gibt es, aber es ist aus dem Kontext gerissen, und die Nebenwirkungen werden massiv überschätzt“, so Herrmann-Lingen.

Maßnahmen gegen die „Trumpisierung“ der Wissenschaft

Erschwerend kommt hinzu, dass ein offener, kontroverser Austausch über Studienergebnisse nicht immer möglich ist. „Mit Sorge beobachten wir, dass Interessengruppen auf Autoren und seriöse Publikationsorgane Einfluss nehmen, um ‚unliebsame‘ Veröffentlichungen zurückzuhalten. Damit ist die Freiheit der Forschung in Gefahr. Diskussionen über kontroverse medizinische Studienergebnisse sind notwendig, müssen sachorientiert geführt und veröffentlicht werden“, fordert Herrmann-Lingen.

 
Mit Sorge beobachten wir, dass Interessengruppen auf Autoren und seriöse Publikationsorgane Einfluss nehmen, um ‚unliebsame‘ Veröffentlichungen zurückzuhalten. Prof. Dr. Christoph Herrmann-Lingen
 

„Medizinische Wissenschaft ist ein hohes Gut, da sie unmittelbaren Einfluss auf die Behandlung von Patienten hat. Wir können es uns als Gesellschaft nicht leisten, tatenlos zuzusehen, wie unseriöses Wissen die medizinische Behandlung infiltriert“, betont Kreienberg.

Antes spricht von einer „Trumpisierung in der Wissenschaft“: „Diesen Zeitgeist – Donald Trump ist ja nur ein Symptom – finden wir auch in der Wissenschaft. Auch wenn es nur 2 Prozent sind. Wir brauchen öffentliche Mittel, um Forscherinnen und Forschern Orientierungshilfen in Form von Positivlisten von Zeitschriften – gegebenenfalls auch Negativlisten – zu geben. Die Institutionen müssen dann kontrollieren, dass diese Vorgaben auch beachtet werden“, betont Antes in dem Interview mit dem Onlinemagazin der Universität Freiburg.

Positivlisten seriöser Open-Access-Journale

Die AWMF spricht sich für eine ethisch reflektierte Forschungskultur aus und fordert Forscher, medizinische Fakultäten, medizinische Verlage und die Bundesregierung auf, Maßnahmen gegen Fehlsteuerungen zu ergreifen. Sie empfiehlt den Autoren wissenschaftlicher Arbeiten, sich an Positivlisten seriöser Open-Access-Journale zu orientieren, wie sie vom Directory of Open Access Journals und von der AWMF geführt werden, oder die in ausgewählten Datenbanken des Web of Science gelistet sind. Immer mehr Hochschulen, wie z.B. die Hochschule Bonn-Rhein-Sieg oder die Universität Freiburg informieren über Raub-Journale und Raub-Verlage.

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Kommentar

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