Der deutsche Ernährungsbericht 2019 in der Kritik: PR-Broschüre mit begrenztem Erkenntnisgewinn

Ute Eppinger

Interessenkonflikte

16. Januar 2019

Wie kochen und essen die Deutschen? Der vor kurzem von Ministerin Julia Klöckner unter großem Medien-Echo vorgestellte Ernährungsreport 2019 des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL) hat gezeigt: Es soll vor allem schmecken, aber auch gesund und schnell zubereitet sein.

 
Die Bundesregierung muss das große gesellschaftliche Problem der Fehlernährung ernst nehmen und wirksame Schritte dagegen unternehmen. Sarah Häuser
 

Nahezu jeder Verbraucher (99%) legt Wert darauf, dass das Essen schmeckt, 91% der Befragten legen Wert auf gesundes Essen, 71% essen täglich Obst und Gemüse, 64% konsumieren täglich Milch und Käse und 28% der Befragten essen täglich Fleisch und Wurst – vor 2 Jahren waren es noch 34% gewesen.

Vegetarisch ernähren sich 6% der Befragten; 1% lebt vegan. Jüngere Menschen essen eher vegetarisch: Unter 14- bis 29-Jährigen sind es 11%. In Ostdeutschland wird mehr Fleisch und Wurst gegessen als im Westen (43% vs. 26%), aber auch mehr Obst und Gemüse: 80% im Osten vs. 69% im Westen.

Dass 91% der Befragten demnach viel Wert auf gesundes Essen legen, hob Ministerin Klöckner auf der Bundespressekonferenz zum Ernährungsreport 2019 hervor. Das klingt zunächst einmal gut. Doch der Report ist vor allem eine Willensbekundung.

Das ist auch Klöckner klar: Er zeugt in erster Linie, wie Deutschland essen will. „Die Verhaltensebene können wir damit nicht widerspiegeln“, so Klöckner und fügt hinzu. „Mein Ziel ist, dass die gesunde Wahl des Essens zur leichten Wahl für die Bürgerinnen und Bürger wird.“

Der Ernährungsreport basiert auf einer jährlichen, repräsentativen Forsa-Umfrage unter 1.000 Verbraucherinnen und Verbrauchern. Allerdings sind solche Erhebungen fehleranfällig – auch beim Thema Ernährung neigen Menschen dazu, Antworten zu geben, die sozial erwünscht sind.

Darauf deutet beim aktuellen Report beispielsweise hin, dass 50% der Befragten angaben, auf Biosiegel oder Kennzeichnungen für „Fairtrade“ etc. zu achten. Wie viele der Befragten dann tatsächlich Bioprodukte kaufen, erfasst der Report nicht. 2017 jedenfalls lag der Marktanteil von Bio-Lebensmitteln bei gerade mal 5,4%.

„Belanglose PR-Broschüre“

„Der Ernährungsreport von Ministerin Klöckner ist nicht viel mehr als eine belanglose PR-Broschüre. Was bringt uns die Erkenntnis, dass 99 Prozent der Verbraucher Wert darauf legen, dass das Essen schmeckt?“, erklärt Sarah Häuser, Sprecherin von foodwatch im Gespräch mit Medscape.

„Wichtiger sind doch die Fakten, die schon lange auf dem Tisch liegen: 15 Prozent der Kinder und Jugendlichen in Deutschland sind übergewichtig oder fettleibig, die Hälfte der Frauen und zwei Drittel der Männer. Die Bundesregierung muss das große gesellschaftliche Problem der Fehlernährung ernst nehmen und wirksame Schritte dagegen unternehmen.“ Würden diese Zahlen ernst genommen, gäbe es auch in Deutschland politische Maßnahmen wie die Lebensmittelampel oder die Steuer auf überzuckerte Getränke, meint Häuser.

 
91 Prozent der Befragten wollen, dass Lebensmittel gesund sind. Doch zurzeit ist in Deutschland das Gegenteil Realität: Viele Fertiglebensmittel sind zu süß, zu fett, zu salzig. Barbara Bitzer
 

Seit Jahren fordern medizinische Fachgesellschaften und auch die WHO politische Maßnahmen gegen das zunehmende Übergewicht. Im Mai 2018 hatte ein breites Bündnis aus Fachorganisationen und mehr als 2.000 Ärztinnen und Ärzten in einem Offenen Brief von der Bundesregierung verschiedene Maßnahmen gefordert: Etwa die Einführung einer Lebensmittelampel, eine Beschränkung von Werbung, die sich an Kinder richtet, und eine Steuer auf besonders zuckerhaltige Getränke.

Frankreich hat Ende 2017 die Lebensmittelampel Nutri Score eingeführt, Belgien zog im August 2018 nach, und Spanien hat Ende 2018 angekündigt, die Ampel einführen zu wollen. Im März 2016 hatte die britische Regierung beschlossen, überzuckerte Getränke zu besteuern, seit April 2018 ist das Gesetz in Kraft. Doch Ministerin Klöckner setzt statt auf politische Maßnahmen auf die sogenannte Nationale Reduktions- und Innovationsstrategie, die auf einer Selbstverpflichtung der Lebensmittelwirtschaft basiert.

foodwatch allerdings räumt dieser Strategie keine Chancen ein. Wie Häuser berichtet, hatten auch die Niederlande diese Strategie erprobt und seien damit – wie ein Monitoring von 2011 bis 2016 – gezeigt habe, gescheitert. „Eine freiwillige Selbstverpflichtung bringt uns nicht weiter“, so die foodwatch-Expertin.

Eine Steuer auf zuckerhaltige Getränke dagegen sei wirksam, wie das Beispiel Großbritannien zeige, so Häuser. Die Ankündigung der britischen Regierung im März 2016, dass auf Getränke, denen mehr als 5 g Zucker pro 100 ml zugesetzt wurden, künftig eine Steuer fällig sei, hat dazu geführt, dass Coca-Cola, britische Handelsketten und Handelsunternehmen wie Lidl in Großbritannien den Zuckergehalt etlicher Produkte gesenkt haben, um der Abgabe zu entgehen.

„In einer Fanta in Großbritannien ist die Hälfte an Zucker enthalten wie in Deutschland“, berichtet Häuser. Coca-Cola hat den Zuckergehalt seiner Getränke Fanta und Sprite unter die 5-Gramm- Marke gesenkt, in Deutschland enthalten Fanta und Sprite noch mehr als 9 g Zucker.

Deutsche Diabetes-Gesellschaft: Ergebnisse werden zu positiv interpretiert

Auch nach Ansicht der Deutschen Diabetes Gesellschaft stellt sich Ministerin Klöckner gegen die Verbraucher. „Der Report enthält eine klare Handlungsaufforderung an die Ernährungsministerin: 91 Prozent der Befragten wollen, dass Lebensmittel gesund sind. Doch zurzeit ist in Deutschland das Gegenteil Realität: Viele Fertiglebensmittel sind zu süß, zu fett, zu salzig. Daran wird auch die Nationale Reduktionsstrategie von Frau Klöckner nicht viel ändern, denn die darin bisher vereinbarten Ziele sind viel zu gering – und sie sind nur freiwillig. Damit ignoriert Frau Klöckner ganz klar den Befund, dass 84 Prozent der Befragten den Zuckeranteil in Fertiggerichten reduzieren möchten“, so Barbara Bitzer, Geschäftsführerin der Deutschen Diabetes Gesellschaft, in einer Stellungnahme der DDG.

 
Wissenschaftler fordern schon länger, die Mehrwertsteuer auf Obst und Gemüse abzuschaffen und im Gegenzug ungesunde Lebensmittel stärker zu besteuern. Barbara Bitzer
 

Sie kritisiert ferner, dass an mehreren anderen Stellen die Interpretation des Ministeriums deutlich zu positiv erscheine. „So sollte der Befund, dass fast 30 Prozent der Bevölkerung nicht täglich Obst und Gemüse essen, eigentlich ein Weckruf für eine Ernährungsministerin sein. Frau Klöckner sieht darin offenbar kein Problem. Dabei fordern Wissenschaftler schon länger, die Mehrwertsteuer auf Obst und Gemüse abzuschaffen und im Gegenzug ungesunde Lebensmittel stärker zu besteuern“, so Bitzer. Viele kritische Punkte frage der Bericht auch gar nicht ab, etwa die Frage, ob die Verbraucher die derzeitige Lebensmittelkennzeichnung verstehen.

Die Nationale Reduktions- und Innovationsstrategie für Zucker, Fette und Salz

Auf der Bundespressekonferenz zur Getränke-Steuer in Großbritannien befragt, antwortete Ministerin Klöckner: „Wir haben eine Reduktions- und Innovationsstrategie vorgelegt, die mehr ist als Großbritannien gemacht hat. Sie ist umfassender, weil wir nicht nur Zucker, sondern auch Salz und Fett betrachten, uns geht es um die Reduktion der Gesamtkalorienzahl.“ Man könne zwar theoretisch einen Plan machen, was gesund sei, doch das bringe am Ende nichts, wenn das Essen nicht schmecke. Deshalb werde in Deutschland eben nicht von „heute auf morgen vorgeschrieben, den Zucker um die Hälfte zu reduzieren“. Solche Produkte, meint Klöckner, würden dann zum Ladenhüter.

Ende 2018 hatte das Bundeskabinett die Nationale Reduktions- und Innovationstrategie für Zucker, Fette und Salz in Fertignahrungsmitteln beschlossen. „Mit der Nationalen Reduktions- und Innovationsstrategie wird es uns das erste Mal überhaupt in Deutschland gelingen, den Gehalt von Zucker, Fetten und Salz in Fertignahrungsmitteln zu senken. So können wir den Ursachen von Krankheiten wie Übergewicht, Diabetes und Bluthochdruck entgegenwirken“, erklärte Klöckner.

Ein ganzheitlicher Ansatz soll es richten

Basis der Nationalen Reduktions- und Innovationsstrategie ist allerdings nur eine Selbstverpflichtung der Lebensmittelwirtschaft. Dies sei ein ganzheitlicher Ansatz, meint Klöckner, denn man schaue nicht nur auf einzelne Facetten wie Zucker, sondern nehme die gesamte Ernährung in den Blick.

So habe sich z.B. die Lebensmittelwirtschaft dazu verpflichtet, bis 2025 Kinderlebensmittel weniger zu süßen. Das heißt, dass neben der Reduzierung von Zucker um mindestens 20% in Frühstückscerealien für Kinder, auch in Erfrischungsgetränken und Kinderjoghurts mindestens 15% bzw. 10% weniger Zucker enthalten sein dürfen.

Die Strategie soll bis 2025 durch ein engmaschiges Monitoring überwacht werden, im Herbst 2019 gibt es eine erste Überprüfung. Ein Zwischenbericht soll Ende 2020 vorgelegt werden. Bis Ende 2025 soll die Reduktions- und Innovationsstrategie umgesetzt sein.

Kritik von foodwatch

Zur Nationalen Reduktions- und Innovationsstrategie findet Luise Molling von foodwatch deutliche Worte: „Es ist geradezu lächerlich, was Frau Klöckner als großen Wurf verkauft. Offenbar denkt die Ministerin, sie muss nur möglichst dünne Strategiepapiere vorlegen und die Menschen nehmen automatisch ab. Die sogenannte Grundsatzvereinbarung überlässt es den Unternehmen selbst, welche Zielvorgaben sie sich setzen, um eine gesunde Ernährung zu fördern“, kritisiert Molling.

 
Anstatt auf die Experten zu hören, schlägt sich Frau Klöckner auf die Seite der Zucker-Lobby. Luise Molling
 

Sie fährt fort: „Kinderärzte, Krankenkassen und die Weltgesundheitsorganisation fordern seit Jahren effektive Maßnahmen gegen Fehlernährung wie eine farbliche Nährwertkennzeichnung, gesetzliche Beschränkungen der an Kinder gerichteten Werbung und auch steuerliche Anreize für gesündere Rezepturen. Anstatt auf die Experten zu hören, schlägt sich Frau Klöckner auf die Seite der Zucker-Lobby.“

 

Kommentar

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