Bei Patienten mit Multipler Sklerose (MS) ist eine Nahrungsmittel-Allergie mit einer größeren Anzahl von Krankheitsschüben assoziiert – und mit einer höheren Wahrscheinlichkeit, Gadolinium-anreichende Läsionen im zerebralen Kernspin zu finden. Das berichten Dr. Rami Fakih vom Brigham and Women's Hospital Boston, USA, und seine Coautoren im Journal of Neurology Neurosurgery & Psychiatry [1]. Basis ihrer Querschnittstudie ist eine Kohorte mit 1.349 MS-Patienten.
„Hier handelt es sich um eine interessante Studie, die aber weit davon entfernt ist, Nahrungsmittel-Allergien als Cofakor bei MS zu etablieren“, sagt Prof. Dr. Hans-Peter Hartung im Gespräch mit Medscape. Er ist Direktor der Klinik für Neurologie am Universitätsklinikum Düsseldorf und Mitglied der Deutschen Gesellschaft für Neurologie.
In der Erfassung möglicher Allergien in der Studie per Fragebogen sieht Hartung z.B. eine Schwäche. „Sinnvoller wäre gewesen, Allergien mit üblichen Labortests zu erfassen“, sagt der Experte. Außerdem hätten Fakih und Kollegen nicht zwischen Patienten mit schubförmigem oder progredientem MS-Verlauf unterschieden.
Zu den Ergebnissen selbst sagt Hartung: „Mich überrascht, dass eine Studie mit pädiatrischen Patienten vor einiger Zeit genau das Gegenteil ergeben hat.“ Bei Kindern und Jugendlichen, die im Schnitt 15,7 Jahre alt waren, standen Nahrungsmittel-Allergien sogar mit weniger Krankheitsschüben in Verbindung. Hartung: „Jetzt ist wichtig, die Ergebnisse von Fakih prospektiv zu evaluieren.“
Studie mit 1.349 MS-Patienten
Wissenschaftler erklären den Ausbruch einer Multiplen Sklerose heute mit Gen-Umwelt-Interaktionen. Sowohl das Erbgut als auch externe Einflüsse spielen eine Rolle. Frauen erkranken häufiger als Männer. Weitere Risikofaktoren sind die Höhenlage, Rauchen, ein niedriger Vitamin-D-Spiegel, Infektionen mit dem Epstein-Barr-Virus sowie Adipositas in jungen Jahren. Allergien gegen Pollen, Hausstaubmilben, Gras, Haustiere, Medikamente und diverse Lebensmittel werden als Co-Faktoren schon länger diskutiert, schreiben Fakih und Kollegen. Allerdings gebe es bislang keine Evidenz.
Deshalb haben sie eine Kohorte mit 1.349 MS-Patienten der Studie Comprehensive Longitudinal Investigation of Multiple Sclerosis am Brigham and Women's Hospital- (CLIMB) aufgebaut. Die durchschnittliche Krankheitsdauer der Teilnehmer lag bei 16 Jahren. Alle Patienten wurden gebeten, per Fragebogen Informationen über bekannte Allergien zu liefern. Sie wurden in 4 Gruppen unterteilt:
Umweltallergien
Lebensmittelallergien
Allergien gegen Arzneistoffe
Keine bekannten Allergien (als Kontrolle)
427 Personen hatten keine bekannte Allergie, während 922 von einer oder von mehreren Allergien berichteten. Darunter waren 586 Personen mit einer Umweltallergie, 238 mit einer Nahrungsmittelallergie und 574 waren allergisch gegen verschriebene Arzneistoffe.
Außerdem wurde die Zahl an MS-Schüben erfasst. Hinzu kam der EDSS-Grad Expanded Disability Status Scale (EDSS) zur Beurteilung der Behinderung durch MS sowie der Multiple Sclerosis Severity Score (MSSS) zur Quantifizierung des MS-Schweregrads. Gadolinium-anreichernde Läsion erfassten Neurologen im MRT. Diese gelten als Indikator für akute entzündliche Vorgänge.
MS und Allergien – kein klares Bild
In der Gruppe mit Lebensmittel-Allergien traten MS-Schübe 1,38-mal häufiger auf als in der Gruppe ohne Allergien. Dieser Unterschied war auch nach statistischen Korrekturen, um andere Einflussfaktoren zu berücksichtigen, signifikant (Faktor 1,27). Außerdem ließen sich bei Patienten mit Lebensmittel-Allergie Gadolinium-anreichernde Läsionen mit mehr als doppelt so hoher Wahrscheinlichkeit (Odds Ratio: 2,53) nachweisen, verglichen mit der Gruppe ohne Allergien.
Bei Personen mit Umwelt- oder Medikamenten-Allergie fanden die Wissenschaftler jedoch keine Besonderheiten im Vergleich zu Kontrollen. Die EDSS- und MSSS-Scores waren in keinem Fall mit Allergien assoziiert.
„MS-Patienten mit Nahrungsmittel-Allergie hatten mehr Schübe und eine höhere Wahrscheinlichkeit für Gadolinium-anreichernde Läsionen im Vergleich zu Patienten ohne bekannte Allergie“, fassen die Autoren zusammen. „Unsere Ergebnisse deuten darauf hin, dass MS-Patienten mit Allergien eine höhere Krankheitsaktivität haben als Menschen ohne Allergien, und dass dieser Effekt durch Lebensmittel-Allergien verursacht wird.“
Hypothesen zum Pathomechanismus
Die Beobachtungsstudie zeigt aber nur Assoziationen, keine Kausalitäten. „Zukünftige prospektive Studien sind notwendig, um unsere Ergebnisse zu bestätigen und die zugrundeliegenden biologischen Mechanismen zu untersuchen bzw. um therapeutische und präventive Strategien für MS zu entwickeln“, konstatieren Fakih und Kollegen.
Eine Hypothese haben sie schon jetzt: Lebensmittel-Allergien und MS könnten über vergleichbare Prozesse ablaufen. Hartung differenziert: „Bei Allergien haben TH2-Zellen eine hohe Aktivität und es werden große Mengen an TH2-Zytokinen ausgeschüttet.“ Regulatorische Dysfunktionen bei MS würden jedoch eher zur überschießenden Produktion von TH1-Zytokinen führen.
Die Autoren vermuten außerdem, dass Lebensmittel-Allergien das Mikrobiom verändern. Darmbakterien setzen je nach Spezies neuroaktive Chemikalien in unterschiedlicher Menge frei, was Folgen für das zentrale Nervensystem hat.
„Allergene könnten die Zusammensetzung unseres Mikrobioms beeinflussen und die Durchlässigkeit der Darmwand erhöhen, so dass Autoimmunzellen ins Gehirn oder Rückenmark einwandern“, bestätigt Hartung. Er sieht darin „interessante Hypothesen“, von denen bislang aber nichts bewiesen sei. „Daraus therapeutische Konsequenzen abzuleiten, erscheint mir etwas weit gegriffen.“
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Diesen Artikel so zitieren: Mehr MS-Schübe bei Lebensmittel-Allergien: Welcher Pathomechanismus steckt dahinter? - Medscape - 14. Jan 2019.
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