Alles nur Kosmetik? Geldschneiderei? Das neue Jahr war erst wenige Tage alt, da titelte die Bild-Zeitung : „Regierung bestätigt. Verdacht auf Abzocke mit Zahnspangen“ und berief sich dabei auf ein noch nicht veröffentlichtes Gutachten des Bundesgesundheitsministeriums (BMG).
Die umfangreiche Metaanalyse des IGES-Instituts allerdings gibt die eigenwillige Auslegung der Bild-Zeitung nicht her. Die IGES-Autoren kommen zwar zu dem Schluss, dass die ausgewerteten Studien „keinen Rückschluss auf einen patientenrelevanten Nutzen“ von kieferorthopädischen Behandlungen zuließen. Aber derzeit reiche die Datengrundlage nicht aus, um die Frage nach dem Nutzen kieferorthopädischer Behandlungen abschließend zu bewerten.
Dass Zahnspangen die Morbidität (Karies, Parondontitis, Zahnverlust etc.) verringern, könne zwar nicht belegt werden, ist aber laut IGES-Institut auch nicht ausgeschlossen. Fest stehe, dass sich Zahnfehlstellungen sowie die Lebensqualität der Patienten durch die Behandlung verbesserten. Aufgrund der Berichterstattung der Bild-Zeitung hatte das BMG umgehend klargestellt, dass es nicht „an der Notwendigkeit kieferorthopädischer Leistungen“ zweifele.
Kieferorthopäden-Verband weist Vorwurf zurück
In „aller Deutlichkeit“ weist auch der Berufsverband der Deutschen Kieferorthopäden (BDK) den Vorwurf der Abzocke zurück. „Die Kieferorthopädie ist und bleibt ein wesentlicher Bestandteil der Zahnheilkunde und der vertragszahnärztlichen Versorgung, mit der notwendigen Zielsetzung, Zahn- und Kieferfehlstellungen zu korrigieren und damit einen Beitrag zur Mundgesundheit der Bevölkerung zu leisten“, so Dr. Hans-Jürgen Köning, Vorsitzender des BDK, in einem Statement.
„Wir haben keine Untersuchung, die sagt, wenn du nicht behandelt wirst, dann kriegst du zu soundsoviel Prozent Kiefergelenksbeschwerden, kannst später nicht kauen, verlierst deine Zähne früher“, erklärte Köning gegenüber dpa. Es fehlten die unbehandelten Kontrollgruppen.
Zahnpflege, regelmäßige Zahnarztbesuche und anderes trage auch seinen Teil zur Zahngesundheit bei. Ziel sei, bei jedem Patienten ein gut funktionierendes Gebiss zu erreichen. „Die ästhetische Korrektur ist in der Kieferorthopädie einfach ein Nebenprodukt“, so Köning. Eine rein ästhetische Behandlung, etwa das Beseitigen einer Lücke zwischen Schneidezähnen, müsse ein Patient selbst zahlen. Daten dazu gebe es nicht.
KZBV: Kein Zweifel am Nutzen
Auch Dr. Wolfgang Eßer, Vorstandsvorsitzender der Kassenzahnärztlichen Bundesvereinigung (KZBV), macht deutlich: „Nachdem das Bundesministerium für Gesundheit eine Klarstellung zu irreführenden Medienartikeln veröffentlicht hat, ist es uns ein wichtiges Anliegen, noch einmal zu unterstreichen, dass es von Seiten der Vertragszahnärzteschaft nicht den geringsten Zweifel am Nutzen kieferorthopädischer Behandlungen zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung gibt. Sie sind elementarer Bestandteil einer qualitativ hochwertigen und flächendeckenden zahnmedizinischen Versorgung, die durch Gesetz, Richtlinien und Verträge eindeutig definiert ist.“
„Ich verstehe die Aufregung nur sehr bedingt“, meint Stephan Gierthmühlen gegenüber Medscape. Der Geschäftsführer des BDK bedauert, dass die „Diskussion ziemlich undifferenziert geführt“ werde. Ein Überbiss oder Unterbiss sei eben „keine rein kosmetische Sache“. Die Fehlstellung bedinge Fehlbelastungen. „Den medizinischen Nutzen von Zahnspangen sehen wir jeden Tag“, fügt er hinzu.
Kritik vom Bundesrechnungshof
Mit dem IGES-Gutachten flammt die Diskussion um Sinn und Nutzen von Zahnspangen wieder auf, die im April vergangenen Jahres der Jahresbericht 2017 des Bundesrechnungshofs losgetreten hatte. Im Frühjahr 2018 hatte der Bundesrechnungshof eine unzureichende Erforschung des medizinischen Nutzens kieferorthopädischer Behandlungen bemängelt und betont, dass dem BMG und den Krankenkassen bei kieferorthopädischen Behandlungen wissenschaftlich fundierte Erkenntnisse über Wirkung und Nutzen fehlten.
Zudem hätten sie keinen Überblick, mit welchen kieferorthopädischen Leistungen die Bevölkerung konkret versorgt werde. Es fehlten bundesweite Daten, zum Beispiel über Art, Dauer und Erfolg der Behandlungen oder der zugrundeliegenden Diagnosen.
Der GKV-Spitzenverband hatte die Vorwürfe im Grundsatz zurückgewiesen, sah aber Verbesserungsbedarf und wies darauf hin, dass die Forschungslage `relativ dünn´ sei. Für eine objektive wissenschaftliche Prüfung brauche es aufwendige klinische Studien mit korrekt gebildeten Vergleichsgruppen.
„Wir sind schon sehr überrascht davon, mit welcher Leichtigkeit der Bundesrechnungshof einem seit langem etablierten Fachgebiet der Zahnheilkunde die Existenzberechtigung abspricht“, kommentierte BDK-Bundesvorsitzender Köning in einer Stellungnahme die Schlussfolgerungen des Bundesrechnungshofs.
Nachvollziehbar sei für ihn der Aspekt, in der Kieferorthopädie existiere zu wenig Versorgungsforschung. „Aber der medizinische Nutzen kieferorthopädischer Behandlungen steht nach unserer Auffassung keinesfalls infrage“, so Köning. In einem Positionspapier hatte die Deutsche Gesellschaft für Kieferorthopädie (DGKFO) im Mai 2018 die Studienlage dargestellt.
Auch einzelne Kieferorthopäden kritisieren Überversorgung
Allerdings hatten auch einzelne Kieferorthopäden die Überversorgung von Kindern und Jugendlichen kritisiert. Etwa 2 Drittel der Kinder und Jugendlichen eines jeden Altersjahrgangs werden in Deutschland mit Zahnspangen behandelt – das sind etwa 1,2 bis 1,7 Millionen junge Patienten. Das sei international eine einmalig hohe Rate, kritisierten die Kieferorthopäden Henning Madsen, Ludwigshafen/Mannheim, und Alexander Spassov, Rostock, im Juli vergangenen Jahres. Zudem sei die Dauer der aktiven Behandlung mit durchschnittlich 3 Jahren zu lang.
Thomas Miersch vom BDK nannte die Kritik „unsäglich“ und betonte, dass alle Behandlungen ausschließlich auf medizinischen Indikationen gründeten. Die Ästhetik sei Nebensache. Fehlstellungen im Kiefer hätten immer Konsequenzen, beispielsweise für die Kiefergelenke, und müssten deshalb behandelt werden.
Auch Bärbel Kahl-Nieke, ehemalige Präsidentin der Gesellschaft für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde (DGZMK), stellte klar, dass die von Medizinern und Kassen beschlossenen Richtlinien einer Überversorgung wirksam einen Riegel vorschieben. Sie räumte aber ein, dass es – wie in jedem Bereich – auch unter den Kieferorthopäden schwarze Schafe gebe.
Antrag auf Nutzenbewertung im G-BA?
Pro Jahr geben die Kassen gut eine Milliarde Euro für kieferorthopädische Behandlungen aus. Laut Lausitzer Rundschau lagen die Kosten für kieferorthopädische Behandlungen im Jahr 2015 mit 1,02 Milliarden Euro zwar auf fast dem gleichen Niveau wie im Jahr 2001. Die Zahl der jährlichen Fälle habe sich in diesem Zeitraum aber auf rund 618.000 praktisch halbiert. Das heißt: Für einen Behandlungsfall müssen die Kassen heute im Schnitt doppelt so viel Geld ausgeben wie noch zur Jahrtausendwende.
Oliver Ewald, Sprecher des BMG teilt dazu mit: „Wir werden mit den betroffenen Verbänden das Gespräch suchen und den weiteren Forschungsbedarf und weitere Handlungsempfehlungen erörtern.“ Allerdings stehe bislang weder fest, welche Verbände beteiligt sind, noch der zeitliche Rahmen. „Das Gutachten wird derzeit noch ausgewertet“, erklärt Ewald auf Nachfrage von Medscape.
„Kurzfristig wird sich sicherlich erst einmal nichts ändern. Wir wollen intern prüfen, ob wir als Verband einen Antrag auf Nutzenbewertung im Gemeinsamen Bundeausschuss (G-BA) stellen“, teilt Ann Marini, Sprecherin des GKV-Spitzenverbandes, auf Anfrage mit. „Sollten wir uns zu einem Antrag auf Nutzenbewertung im G-BA entschließen, braucht es für einen entsprechenden Forschungsauftrag eine Mehrheit“, fährt Marini fort.
Dabei werde es dann sicherlich neben der grundsätzlichen Frage auch um Details einer möglichen wissenschaftlichen Untersuchung gehen. Sollte auch diese Mehrheit zustande kommen, werde die wissenschaftliche Untersuchung an sich sicherlich eine geraume Zeit beanspruchen. „Über die Frage von möglichen leistungsrechtlichen Konsequenzen würden wir nur bei entsprechenden Studienergebnissen reden wollen“, betont Marini.
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Diesen Artikel so zitieren: Gutachten zum (nicht belegten) klinischen Nutzen von Zahnspangen: Viel Lärm um nichts? Wie die Beteiligten argumentieren - Medscape - 9. Jan 2019.
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