Frauen mit ST-Hebungsinfarkt (STEMI) warten im Schnitt 215 Minuten, bis sie Hilfe holen. Männer dagegen nur 192 Minuten. Im Krankenhaus selbst werden dann aber Patientinnen und Patienten gleichermaßen rasch behandelt.
Dies berichten Dr. Matthias R. Meyer vom Züricher Stadtspital Triemli und seine Koautoren im European Heart Journal:Acute Cardiovascular Care auf Basis einer Kohortenstudie [1]. Sie schreiben, dass sich die Situation – trotz aller entsprechender Info-Kampagnen und Aufklärung – in den letzten Jahren nicht nennenswert verbessert habe.
„Eine der Stärken der Studie ist die Zahl an aufgenommenen Patienten“, so Dr. Christina Magnussen, Kardiologin am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE), zu Medscape. „Es gab keine Vorauswahl der Teilnehmer, wir haben also Real-Life-Daten vor uns.“
Als Schwäche bewertet sie die retrospektive Analyse, die per se keine kausalen Schlüsse zulasse. „Die Autoren können eine Patientenverzögerung nachweisen, aber die Gründe dafür nicht erklären“, ergänzt Magnussen. „Das wäre aber extrem spannend, um Maßnahmen abzuleiten.“
So kann auch Magnussen nur Vermutungen aufstellen: „Frauen haben andere Beschwerden als Männer.“ Bei Männern komme es typischerweise zu Angina pectoris, zu thorakalen Beschwerden oder ausstrahlenden Schmerzen bis in den linken Arm bzw. den Kiefer. „Bei Frauen gibt es diese Symptome auch, meist kommt es jedoch zu eher atypischen Beschwerden.“ Dazu zählten Luftnot, Oberbauchbeschwerden und vegetative Symptome wie Übelkeit oder Erbrechen, was nicht unbedingt mit einem STEMI assoziiert werde.
„Möglicherweise denken manche Frauen nicht an den Infarkt und kommen deswegen später ins Krankenhaus.“ Die Expertin will aber auch Verhaltensunterschiede nicht ausschließen: „Vielleicht versorgen Frauen zuvor noch ihre Kinder oder ihre pflegebedürftigen Verwandten, bevor sie Hilfe holen.“
Herzinfarkte sind keine Männerkrankheit
„Es gibt immer noch das Missverständnis, Herzinfarkte als reines ‚Männerproblem‘, darzustellen, obwohl Frauen genauso oft betroffen sind“, warnt die European Society of Cardiology (ESC) in einer Pressemeldung.
Im Durchschnitt sind Frauen bei einem Herzinfarkt etwa 8 bis 10 Jahre älter als Männer und zeigen andere Symptome. „Frauen und Männer haben zwar ähnliche Schmerzen während eines Herzinfarkts, aber der Ort kann anders sein“, sagt Meyer. „Patienten mit Schmerzen in der Brust und im linken Arm denken eher, dass es sich um einen Herzinfarkt handelt. Und dies sind übliche Symptome für Männer.“ Frauen haben Meyer zufolge dagegen häufiger Rücken-, Schulter- oder Bauchschmerzen.
Beide Geschlechter profitieren von der raschen Behandlung. Zeitnahe perkutane koronare Interventionen (PCI) senken die Mortalität von Frauen und Männern gleichermaßen. Aus älteren Untersuchungen war bekannt, dass es speziell bei Frauen zu großen Verzögerungen zwischen dem STEMI-Ereignis und der Reperfusionstherapie kommt. Deshalb wollte das Team um den Kardiologen Meyer wissen, ob sich die Situation mittlerweile verbessert hat.
Frauen warten länger ab, bis sie Hilfe holen
Das gelang ihnen über Daten aus einem Schweizer STEMI-Netzwerk. Zwischen den Jahren 2000 und 2016 wurden im Schweizer Stadtspital Triemli 4.360 Patienten mit STEMI behandelt. Darunter waren 967 Frauen und 3.393 Männer. Um Trends zu identifizieren, wurden die Intervalle 2000 bis 2005, 2006 bis 2011 und 2012 bis 2016 separat betrachtet.
Über Fragebögen erfassten Meyer und seine Kollegen, wie viel Zeit zwischen den ersten Beschwerden und dem ersten medizinischen Kontakt (Patientenverzögerung) bzw. zwischen dem ersten medizinischen Kontakt und der PCI (Systemverzögerung) vergeht.
Bei der Systemverzögerung fanden die Forscher entgegen älteren Untersuchungen keine statistisch signifikanten Unterschiede zwischen den Geschlechtern: „Sowohl Männer als auch Frauen erhielten nach der Kontaktaufnahme mit den medizinischen Diensten schneller einen Stent als in der Vergangenheit“, berichtet der Erstautor.
Anders sah es bei der Patientenverzögerung aus: Im Zeitraum von 2012 bis 2016 vergingen bei Frauen 215 Minuten bis sie Hilfe alarmierten, und bei Männern waren es 192 Minuten. Die Ischämie-Gesamtzeit war bei Frauen um 12% länger als bei Männern. Verglichen mit dem Zeitraum von 2000 bis 2005 ging die Patientenverzögerung um 18 Minuten (Frauen) bzw. 25 Minuten (Männer) zurück.
Die Mortalität im Krankenhaus war bei Frauen (5,9%) während des Studienzeitraums signifikant höher als bei Männern (4,5%). Nach der Korrektur weiterer Einflussfaktoren zeigte sich jedoch, dass die Unterschiede medizinische Gründe hatten. Die Patientenverzögerung spielte keine Rolle.
Meyer warnt trotzdem: „Wir wissen aus früheren Studien, dass Verzögerungen Einfluss auf die langfristige Mortalität haben.“ Gleichzeitig verweisen die Autoren auf die Grenzen ihrer Arbeit: Es handele sich eben nur um eine Beobachtungsstudie mit retrospektiver Auswertung der Daten.
Mehr Aufklärung erforderlich
In ihrem Artikel schreiben Meyer und seine Kollegen, das Problem einer stärkeren Patientenverzögerung bei Frauen sei nicht neu. Zahlreiche Fachgesellschaften und Verbände wie die European Society of Cardiology, die Swiss Heart Foundation bzw. die American Heart Association hätten bereits reagiert und Kampagnen entwickelt. „Trotzdem hat sich in der letzten Dekade wenig getan“, heißt es weiter. Die Studie liefere neue Impulse, hier nachzubessern.
Medscape Nachrichten © 2019
Diesen Artikel so zitieren: Immer noch über 20 Minuten später – Studie bestätigt, dass Frauen beim Infarkt lange zögern. Wegen untypischer Symptome? - Medscape - 10. Jan 2019.
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