„Migration ist das drängendste Thema für die globale Gesundheit“, sagt Lancet-Chefredakteur Prof. Dr. Richard Horton, „aber in vielen Ländern wird es benutzt, um Gesellschaften zur spalten und rechtspopulistische Positionen zu verbreiten.“
Dem will der Lancet nun mit Evidenz entgegentreten: Gemeinsam mit dem University College of London (UCL) hat er eine „Commission on Migration and Health“ ins Leben gerufen. 2 Jahre lang haben 20 Experten aus 13 Ländern den aktuellen Wissensstand und Daten zu Migration und Gesundheit zusammengetragen. Am vergangenen Samstag haben sie auf der UN-Konferenz zum Globalen Migrationspakt in Marrakesch, Marokko, einen umfassenden Bericht vorgestellt [1]. Darin überprüfen sie unter anderem gängige Mythen zum Thema Migranten und Gesundheit auf ihre empirische Grundlage – beispielsweise die Frage, ob Einwanderer Krankheiten einschleppen.
Eine Milliarde Menschen, fast ein Siebtel der Weltbevölkerung, sind derzeit Migranten. Allerdings: 3 Viertel davon im eigenen Land, nur ein Viertel überquert dabei Ländergrenzen. Von diesen wiederum sind der Großteil (65%) Arbeitsmigranten. Nur 13,4% aller Migranten weltweit wandern in eines der reichen Länder („high-income-countries“) aus.
Zwar ist dies eine deutliche Zunahme seit 1990 (damals waren es 7,6%), doch sei dies darauf zurückzuführen, dass mehr Arbeitnehmer und Studenten sich auf den Weg machten, schreiben die Lancet-Autoren. Insgesamt machen Flüchtlinge in reichen Ländern nur 0,2% der Bevölkerung aus, in armen Ländern 0,7%.
Die Kommission hat 4 Mythen identifiziert, die immer wieder zum Thema Migration und Gesundheit kolportiert werden, und hat diese empirisch überprüft.
Mythos 1: Migranten schaden der einheimischen Wirtschaft
Die Autoren fanden eine „überwältigende Evidenz“ für das Gegenteil: In Industrieländern führe jedes Prozent mehr an Migranten in der erwachsenen Bevölkerung zu bis zu 2% mehr Bruttoinlandsprodukt. „Migranten nützen der Gesellschaft mehr, als sie sie kosten“, sagt Horton.
Zudem stärkten Migranten durch Überweisungen in ihre Heimat auch die weltweite Gesundheit. 2017 sei die Summe, die von Migranten in Länder mit geringem oder mittleren Einkommen überwiesen wurde, 3-mal so hoch gewesen wie die offizielle Entwicklungshilfe.
Mythos 2: Migranten belasten das Gesundheitssystem
Auch dies stimmt nicht: Migranten stützen es eher, bilanziert der Report. In vielen reichen Ländern machten sie einen substanziellen Anteil der Leistungserbringer in der medizinischen Versorgung sowie in Pflege und Bildung aus. So haben in Großbritannien 37% der Ärzte einen ausländischen Abschluss.
Zugleich sind Migranten offenbar gesünder als Einheimische: Eine Metaanalyse mit Daten aus 92 Ländern kommt zu dem Schluss, dass ihre Sterblichkeit für Krankheiten im Bereich Herz-Kreislauf, Verdauung, Stoffwechsel, Krebs, Neurologie, Atemsystem, Psyche und Unfälle unter der der einheimischen Bevölkerung liegt. Höhere Sterberaten gebe es nur bei Virus-Hepatitis, Tuberkulose, HIV und externen Ursachen wie Straftaten.
Die Autoren kritisieren, dass Migranten und insbesondere Flüchtlinge in vielen Ländern nur einen eingeschränkten Zugang zum Gesundheitssystem haben, obwohl ärztliche Versorgung ein Menschenrecht ist. Auch in Deutschland haben Asylbewerber in den ersten 15 Monaten nur einen Anspruch auf Notfallbehandlung bei „akuten Erkrankungen und Schmerzzuständen“ sowie auf Leistungen im Zusammenhang mit Schwangerschaft und Geburt. Jede weitergehende Versorgung muss einzeln beantragt werden.
Dr. Michael Knipper, einziger deutscher Experte in der UCL-Lancet-Kommission, sieht darin einen klaren Verstoß gegen die Menschenrechte: „Wir haben hier eine Gruppe, die durch ihre schwierigen Lebensumstände besondere Krankheitsrisiken hat, aber keinen zuverlässigen Zugang zu Behandlung“, sagt der Arzt, Medizinhistoriker und Ethnologe vom Institut für Geschichte der Medizin an der Justus-Liebig-Universität Gießen, gegenüber Medscape.
Letztlich führe dies sogar zu höheren Kosten: „Wenn sich der Zustand verschlechtert und akut bedrohlich wird, behandeln wir ja doch, aber oft mit viel mehr Aufwand – warum dann nicht rechtzeitig?“
Mythos 3: Migranten übertragen ansteckende Krankheiten
„Dieses Stereotyp ist eines der häufigsten“, schreiben die Autoren, „und eines der schädlichsten.“ Dabei gebe es keinen statistischen Zusammenhang zwischen Migration und dem Import von Infektionskrankheiten.
Zwar lässt sich für bestimmte Krankheiten wie Tuberkulose ein erhöhtes Risiko innerhalb der migrantischen Community feststellen. „Aber das Risiko für eine Übertragung auf die einheimische Bevölkerung ist gering.“
Zur internationalen Verbreitung von Krankheitserregern tragen eher der Tourismus, der Reiseverkehr und der Transport von Lebendvieh bei. Dennoch werde nicht selten der Gesundheitsschutz der Bevölkerung und die befürchteten Behandlungskosten als Gründe angeführt, um Migranten abzuweisen, zu internieren oder abzuschieben. „Dieses Verhalten nimmt weltweit zu“, konstatiert der Report. Zum Beispiel kann in Australien eine dauerhafte Aufenthaltsgenehmigung bei bestimmten Erkrankungen verweigert werden, etwa bei HIV, Krebs oder Nierenerkrankungen.
In Deutschland ist es wiederum der eingeschränkte Zugang, der zuweilen eine adäquate und schnelle Behandlung von Infektionskrankheiten bei Flüchtlingen erschwert, sagt Knipper – wenn etwa die Finanzierung eines Klinikaufenthaltes für einen Tuberkulosepatienten erst aufwändig mit den Sozialbehörden geklärt werden muss.
„Es liegt daher auch in unserem eigenen Interesse, die Versorgung von Flüchtlingen zu verbessern“, betont Knipper. In dieser Woche will sich die Kommission bei einer Veranstaltung in Berlin noch detaillierter zur Situation in Deutschland äußern, gemeinsam mit der Organisation Ärzte der Welt.
Mythos 4: Migranten haben höhere Geburtenraten als Einheimische
In einer Analyse von 6 europäischen Ländern, darunter auch Deutschland, bekamen Migrantinnen, mit Ausnahme von türkischen Frauen, sogar weniger Kinder als Einheimische. Ihre Geburtenrate lag mit weniger als 2,1 Kindern pro Frau ungefähr in Höhe der Sterberate in dieser Gruppe.
Report auch als Aufruf, die Menschenrechte zu achten
Der 60-seitige Report behandelt neben den 4 genannten Mythen noch viele weitere Themen und ist fast ein kleines Nachschlagewerk. Die Autoren verstehen ihn als Aufruf an die Politik, aber auch an Akteure im Gesundheitsbereich, aktiver zu werden, um die Rechte von Migranten zu stärken, den Nutzen der Migration zu maximieren und die negativen Auswirkungen auf die Gesundheit zu minimieren: „Gesundheit muss bei politischen Entscheidungen zur Migration eine größere Rolle spielen.“
Knipper sieht letztlich jeden, der die Erklärung der Menschenrechte unterstützt, in der Verantwortung: „Die Menschenrechte sind genau für Situationen wie jetzt in Deutschland gemacht: Da gibt es eine Gruppe, die von vielen in der Bevölkerung abgelehnt wird, die man vielleicht einfach wieder weghaben will. Aber auch diese Personen sind eben in erster Linie Menschen und haben dieselben Rechte.“
Es könne nicht angehen, dass das Recht auf ärztliche Versorgung verweigert werde mit der Begründung, dass diese zu teuer sei: „Menschenrechte zu achten, bedeutet eben auch Zumutungen. Wie wollen wir sonst noch andere Länder für Menschenrechtsverletzungen kritisieren?“
Medscape Nachrichten © 2018 WebMD, LLC
Diesen Artikel so zitieren: Migration und Gesundheit: Lancet-Kommission entlarvt die häufigsten Mythen - Medscape - 11. Dez 2018.
Kommentar