Unzählige Überstunden, lange Anfahrtswege und geringe Vergütung – das Leben als Landarzt ist alles andere als idyllisch. Außerhalb der Ballungszentren herrscht ein Mangel an Hausärzten. Und die Lage wird noch schlimmer, weil ein Drittel aller praktizierenden Hausärzte bereits über 60 Jahre alt ist und in den kommenden Jahren in Rente gehen wird. In vielen Fällen sind keine Nachfolger in Sicht. Junge Mediziner werden daher zum Beispiel mit Stipendien motiviert, nach ihrer Ausbildung erst einmal in einer Praxis auf dem Land zu arbeiten. Aber was erwartet sie dort, welche Mühen, welche erfüllenden Momente?
Inspiriert vom Medscape-Report zur Job-Zufriedenheit schrieb uns Leser Dr. Martin Kleine, der anonym bleiben möchte, dessen echter Name der Redaktion jedoch bekannt ist. In einem Kommentar schildert er seine Erfahrungen, die er an den Nachwuchs weitergeben möchte:
Ich habe, zusammen mit 2 bis 3 Arzthelferinnen, über 30 Jahre eine Landpraxis geführt. Die Mehrzahl meiner Patienten war entweder noch in der Landwirtschaft tätig oder sie waren früher Landwirte gewesen. Denn das sogenannte „Höfesterben" führte dazu, dass viele sich in den weiter entfernten Industriezentren Arbeit suchen mussten, wo sie übrigens wegen Fleiß und Findigkeit sehr geschätzt waren. Mehrheitlich sind diese Menschen selbstbewusst und zurückhaltend, oft sogar misstrauisch. Es ist anstrengend, zu ihnen einen Zugang zu finden. Doch wenn dies gelingt, sind sie ausgesprochen anhänglich, was die von Stadtärzten beklagte „Arztwechselei" zur Seltenheit macht.
Meine Patienten haben meist ein gutes Medizinverständnis, möglicherweise wegen der immer noch vorhandenen „Naturnähe" und aus Sparsamkeitsgründen. Denn beim Kalben kommt oft nicht der Tierarzt und auch die Ferkel „greift" man selbst. Dies erleichtert mir oft die Erklärung medizinischer Sachverhalte. So besehen sind dies für einen Arzt paradiesische Verhältnisse. Trotzdem hatte mein Leben mit den beliebten Fernsehsendungen wie "Schwarzwaldklinik" oder "Der Landarzt" nicht viel gemeinsam und ich habe mich manchmal gefragt, wie wohl solche Drehbücher zustande kommen. Im relaen Leben als Landarzt habe ich viele Schattenseiten kennengelernt:
In die Praxis kommen fast ausschließlich Kassenpatienten und die Umsätze sind daher eher gering. Die Sparzwänge sind manchmal zermürbend. Ich bin etwas früher „in Rente" gegangen, denn diese kam – wenn auch deutlich geringer – pünktlich jeden Monat.
Manche schwere Enttäuschung hätte ich mir ersparen können, wenn ich zu Beginn der langen Ausbildung klaren Wein eingeschenkt bekommen hätte. Junge Menschen sollten sich vor ihrem langen und teuren Studium über die Schattenseiten erkundigen, zum Beispiel bei ihrem Hausarzt, der ihnen die ärztliche Perspektive schildern könnte, mit all ihren schönen Seiten, aber auch den nachteiligen!
Die Beratung durch die KV vor der Niederlassung war unzureichend. Rückblickend kann ich sagen, dass man dort vermutlich froh war, einen Dummen für die vakante Landpraxis gefunden zu haben. Eine Finanzberatung z.B. wäre sehr hilfreich gewesen. Auf der Uni lernt man ja viel, doch erfährt man zu spät, dass die freie Praxis nicht wirklich frei ist und man dann für Banken und Versicherungen ein leichtes Opfer ist.
Außerdem ist eine 7-Tage-Woche mit oftmals 24-Stunden Schichten keine Seltenheit. Sehr angenehm ist es, wenn die Praxis dicht bei oder sogar im eigenen Haus ist. Viele Wege kann man so vermeiden. Ein Praxis/Wohnhaus hat aber nicht nur Vorteile. Man wird sehr oft auch außerhalb der Sprechstunden bemüht. Die Distanz zu Beruf fehlt und man ist eben nur noch Arzt.
Ein Wohnhaus mit einer Praxis ist heute für ein Rentnerehepaar wie uns völlig überdimensioniert, teuer im Unterhalt und sehr schwer verkäuflich - eigentlich nur an einen Praxisnachfolger. Die Aufnahme eines großen Kredits für den Erwerb dieser Praxis hätte auch im Dabeisein eines Sachverständigen wesentlich besser gestaltet werden können. Das war ein Versäumnis meinerseits, weil ich wirklich sehr unerfahren war und gegelaubt hatte, dass ein Geldinstitut mich korrekt beraten würde (so wie ich z.B. einen Patienten beraten sollte)
Echte Kollegialität ist sehr selten, denn der nächste Kollege ist auch zugleich Konkurrent um die Patientengunst. Ein Segen in diesem sehr unsteten Leben ohne richtigen Urlaub oder Feierabend sind eine verständnisvolle Ehefrau und Kinder.
Ärgerlich sind die ständigen Eingriffe der Krankenkassen bzw. der Politik in die Praxisführung und der anschwellende Verwaltungsaufwand, der offenbar nicht von „Insidern" erdacht wird.
Trotzdem würde ich diesen Weg wieder gehen – möglichst unter Vermeidung der vielen von mir gemachten Fehler. Ich bin heute immer noch fähig, meine Kenntnisse und Erfahrungen zu nutzen. In welchem anderen Beruf könnte ich das? Zum Reichwerden ist die Arbeit als Hausarzt meines Erachtens nicht geeignet – ganz entgegen den Mutmaßungen neidvoller Mitbürger. Doch dafür bin ich auch nicht auf dieser Welt.
Das Modewort „Work-Life-Balance" soll vermutlich die freie Übersetzung für die Goethe-Worte „saure Wochen – frohe Feste" sein. Doch wer in seiner Tätigkeit Sinn und Freude findet, muss den „Burnout" wirklich nicht fürchten.
Meine Affinität zum Landleben erkläre ich mir heute so: Ich wurde während des Krieges geboren und wuchs in einer von Bomben stark zerstörten Großstadt auf. Mit allen damals üblichen Mängeln war ein Dorf ohne Trümmerwüste eine bessere und überschaubare Welt: mit Tieren, freundlichen Menschen und auch ausreichendem Essen.
So stand mein Berufswunsch sehr früh fest, auch wenn zwischendurch etliche Hindernisse zu bewältigen waren, wie mein Wehrdienst, und einige Semester „Ausweichstudium“ auf Grund des Numerus clausus. Nach dem Physikum ging alles glatt. 6 Jahre hatte ich verloren, doch geschadet hat mir diese Verzögerung vermutlich nicht.
Die Absicht der Politik heutzutage, Jungärzte für das Landarztdasein zu rekrutieren ist löblich. Man sollte die Landbevölkerung aber nicht ausschließlich Berufsanfängern ausliefern, denn zu Beginn macht man die meisten Fehler. Ich empfehle, "Nachfolgepraxen" zu bilden, wo ein Neuling sich mit Land und Leuten vertraut machen kann und von seinem Vorgänger (auch von den Arzthelferinnen !) das erforderliche Hintergrundwissen vermittelt bekommt. Ich hätte dies sehr gern getan, damit ich meine Patienten in guten Händen weiß, aber für meine Praxis konnte ich keinen Nachfolger finden.
Ich liebe meinen Beruf sehr – auch nach 45 Jahren Primärmedizin. Und ich stehe immer noch mittendrin. Nach sehr kurzem Pausieren als Rentner fragte mich eine Kollegin, ob ich vielleicht ihre Nachtdienste übernehmen könnte. Das Nichtstun gefiel mir nicht besonders. Daher übernehme ich inzwischen die kompletten Dienste an Sonn-und Feiertagen für mehrere Praxen, auch kurze Urlaubs-oder Krankheitsvertretungen und ich fühle mich wohl dabei.
Es ist kein Dauerlauf wie früher. Zwischen den Diensten liegen fast immer 2 bis 4 Tage Pause, an denen ich mich erholen oder auch notwendige Arbeiten in Haus und Hof gemütlich angehen kann. So darf es gerne noch ein paar Jahre weitergehen. Wenn mir Patienten die Frage stellen, warum ich nicht meine Rente genieße und immer noch arbeite, kann ich nur entgegnen „ich hab nix anneres gelernt".
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Medscape Nachrichten © 2018
Diesen Artikel so zitieren: „Einen Dummen für die Landarztpraxis finden?" Ein Kollege resümiert sein Arbeitsleben in der Provinz und gibt Tipps - Medscape - 5. Dez 2018.
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