Überraschende Hypothese: US-Forscher wollen Alzheimer mit HIV-Medikamenten behandeln

Nadine Eckert

Interessenkonflikte

3. Dezember 2018

Lässt sich Alzheimer womöglich mit HIV-Medikamenten heilen? US-Forscher haben im Gehirn von Alzheimer-Patienten Genveränderungen entdeckt, die durch eine Reverse Transkriptase erzeugt werden. Es handelt sich dabei um genau die Enzymklasse, mit der HI-Viren Zellen infizieren und gegen die die antiretrovirale HIV-Therapie wirkt.

„Die Abhängigkeit dieser Mutationen von der Aktivität der Reversen Transkriptase könnte für die geringere Inzidenz bestätigter Alzheimer-Erkrankungen bei HIV-infizierten Menschen über 65 Jahren verantwortlich sein, die über einen langen Zeitraum antiretroviral behandelt wurden“, schreiben die Autoren um Dr. Ming-Hsiang Lee vom Sanford Burnham Prebys Medical Discovery Institute, La Jolla, USA im Fachmagazin Nature [1]. „Sollte sich dies bestätigen, spricht diese Beobachtung für den Einsatz zugelassener Reverse-Transkriptase-Hemmer zur Behandlung der Alzheimer-Krankheit.“

 
Sollte sich dies bestätigen, spricht diese Beobachtung für den Einsatz zugelassener Reverse-Transkriptase-Hemmer zur Behandlung der Alzheimer-Krankheit. Dr. Ming-Hsiang Lee
 

„Noch sehr hypothetisch“

Auf Nachfrage von Medscape bestätigt Prof. Dr. Richard Dodel vom Lehrstuhl für Geriatrie an der Universität Duisburg-Essen, dass es sich um „spannende und neuartige Erkenntnisse“ handelt. Der Essener Neurologe schränkt aber ein: „Bislang ist das alles noch sehr hypothetisch und viel zu früh, um Patienten fortgeschrittenen Alters mit antiretroviralen Medikamenten zu behandeln, die starke Nebenwirkungen verursachen können und in dieser Altersklasse nicht ausreichend untersucht sind. Dafür ist noch mehr Evidenz erforderlich“.

Lee und seine Kollegen gründen ihre Schlussfolgerungen auf der Untersuchung von Gehirnen verstorbener Alzheimer-Patienten sowie gesunder Kontrollen. Sie analysierten das Gen für das Amyloid-Precursor-Protein (APP), ein integrales Membranprotein, welches als Ausgangssubstanz für die Biosynthese von Beta-Amyloid fungiert.

Genrekombination in Nervenzellen

Erstmals entdeckten sie dabei Gen-Rekombination in Nervenzellen, ein Prozess, der zuvor nur in anderen Zellarten beobachtet worden war. „Die Gen-Rekombination fand sich zum einen als normaler Prozess im gesunden Gehirn und zum anderen als Prozess, der bei Alzheimer falsch läuft“, berichtet Seniorautor Prof. Dr. Jerold Chun in einer Mitteilung des Forschungsinstituts.

Alle untersuchten Gewebeproben von Alzheimer-Gehirnen enthielten übermäßig viele verschiedene Varianten des APP-Gens – im Vergleich zu Proben von gesunden Gehirnen. Für die Rekombination und die Entstehung dieser Mutationen erwies sich eine Reverse Transkriptase als verantwortlich. Es waren Tausende Genvarianten, die die Wissenschaftler um Lee und Chun fanden, doch besonders häufig waren in den Alzheimer-Gehirnen 11 APP-Einzelnukleotid-Mutationen, die bereits von erblichen Formen der Alzheimer-Krankheit bekannt sind.

„Rationale für antiretrovirale Therapie“

„Diese Ergebnisse könnten grundlegend verändern, wie wir das Gehirn und die Alzheimer-Krankheit verstehen“, so Chun und ergänzt: „Sie liefern eine wissenschaftliche Rationale für die sofortige klinische Evaluation antiretroviraler HIV-Medikamente bei Menschen mit Alzheimer-Krankheit.“

Möglicherweise sind bereits zugelassene antiretrovirale Therapien, die die Reverse Transkriptase hemmen, auch in der Lage, den Rekombinationsprozess zu stoppen. Dass bestätigte Alzheimer-Erkrankungen bei alternden HIV-Patienten unter antiretroviraler Therapie statistisch selten sind, spräche dafür.

 
Bislang ist das alles noch sehr hypothetisch und viel zu früh, um Patienten fortgeschrittenen Alters mit antiretroviralen Medikamenten zu behandeln. Prof. Dr. Richard Dodel
 

Hat Beta-Amyloid ausgedient?

Bislang ist es vor allem die Hypothese, dass Beta-Amyloid-Plaques im Gehirn Alzheimer verursachen, die die Forschung antreibt. Doch Therapien, die an Beta-Amyloid angreifen, scheitern in klinischen Studien immer wieder. „Die vielen Tausend APP-Mutationen bei Alzheimer liefern eine mögliche Erklärung für das Scheitern von fast 400 klinischen Studien, die auf Beta-Amyloid oder damit verbundene Enzyme abzielten“, sagt Chun. „Möglicherweise führt die Gen-Rekombination zu weiteren genotoxischen Veränderungen sowie zur Bildung krankheitsassoziierter Proteine, die in den bisherigen klinischen Studien therapeutisch nicht angegangen wurden.“

Eine klinische Studie, die den Effekt einer antiretroviralen Therapie mit Reverse-Transkriptase-Hemmern bei Alzheimer untersucht, würde basierend auf diesen Daten durchaus Sinn machen, sagt Dodel, warnt aber vor zu viel Enthusiasmus: „Es könnte durchaus sein, dass es sich bei den APP-Mutationen schlicht um einen Alterseffekt handelt, der mit der Alzheimer-Pathologie gar nicht zusammenhängt.“ Der Essener Neurologe betont, dass die Untersuchung von Lee und seinen Kollegen nur 7 Gehirne von Alzheimer-Patienten umfasste.

„Es gibt viel, was wir noch nicht wissen“

„Unsere Entdeckung ist ein Schritt nach vorne – aber es gibt viel, was wir noch nicht wissen“, räumt Chun ein. Als nächstes will die US-Arbeitsgruppe mehr Gehirne und auch verschiedene Gehirnregionen untersuchen, und dies nicht nur bei Alzheimer, sondern auch bei anderen neurodegenerativen und neurologischen Erkrankungen. 

Interessant wäre Dodel zufolge auch eine Untersuchung der etwa 10% Alzheimer-Patienten, deren Gehirne die typischen Beta-Amyloid-Plaques aufweisen, die aber kognitiv vollkommen gesund sind: „Weisen ihre Gehirne die rekombinierten Varianten von APP auf, wäre dies ein Hinweis darauf, dass die Mutationen nicht mit den kognitiven Veränderungen assoziiert sind. Finden sich bei ihnen dagegen keine entsprechenden Mutationen, spräche dies dafür, dass es sich bei den Plaques nur um ein gut nachzuweisendes Epiphänomen handelt, die APP-Mutationen aber das eigentliche Problem darstellen.“

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Kommentar

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