„Wie geht es dir?“ Diesen Satz haben viele Flüchtlinge seit Jahren von niemandem mehr gehört. Immer ging es ums Überleben und Weiterkommen, an einen sicheren Ort. Den haben sie nun in Deutschland gefunden – doch vielen geht es hier dennoch psychisch nicht gut.
„Das Problem sind aktuell gar nicht so sehr die Traumata, die die Menschen in der Vergangenheit erlebt haben“, sagt Miriam Christof, Sprecherin des Projektes „SoulTalk“, „sondern die aktuellen Belastungen durch die Unsicherheit, ob sie hier bleiben können, die Trennung von der Familie und die Sorge um die Angehörigen in der Heimat.“
„SoulTalk“ gibt ihnen eine Möglichkeit, darüber zu sprechen – in ihrer Sprache und mit Beratern, die selbst eine Flucht hinter sich haben und wissen, wie sich das anfühlt. Das bundesweit einmalige Projekt wurde von Ärzte ohne Grenzen und dem St. Josef Krankenhaus in Schweinfurt gestartet, das mittlerweile die alleinige Trägerschaft hat.
Auch Flüchtlinge haben Kompetenzen
Laien ausbilden, damit sie andere Betroffene psychosozial unterstützen – dieses Konzept wendet Ärzte ohne Grenzen schon seit langem erfolgreich in Flüchtlingslagern weltweit an. „Auch Flüchtlinge haben Kompetenzen, die man nutzen kann und sollte“, sagt Dr. Henrike Zellmann, klinische Psychologin bei Ärzte ohne Grenzen.
Als dann 2015 Hunderttausende in Deutschland ankamen, wurde den Helfern klar, dass sie genau diese Menschen vorher in Lagern in der Türkei, im Irak oder anderen Ländern versorgt hatten: „Wir wussten, dass es da immer auch einen großen Bedarf an psychosozialer Unterstützung gibt.“
Ein Team von Ärzte ohne Grenzen besuchte verschiedene Erstaufnahmeeinrichtungen in Deutschland. Schnell zeigte sich, dass es hier kein passendes niedrigschwelliges psychosoziales Angebot gab. Warum also nicht das Konzept „Hilfe zur Selbsthilfe“, das im Ausland gut funktioniert, auf eine deutsche Erstaufnahme übertragen?
So suchte Ärzte ohne Grenzen nach einem Projektpartner. Ein engagierter Mitarbeiter der Regierung Unterfranken vermittelte den Kontakt zum St. Josef Krankenhaus, das zu dem Zeitpunkt bereits eine medizinische Ambulanz in einer Erstaufnahme-Einrichtung in Schweinfurt betrieb. „Auch wir hatten gemerkt, dass eine rein medizinische Versorgung nicht ausreicht“, sagt Christof.
Im März 2017 startete „SoulTalk“ in Schweinfurt, heute arbeiten in dieser und einer benachbarten Flüchtlingsunterkunft 4 Flüchtlinge – 3 Männer und eine Frau – als Peer-to-Peer-Berater. „Die Berater machen keine Psychotherapie“, betont Psychologin Alexandra Blattner, die das Projekt leitet und gemeinsam mit einer Kollegin die Laienberater begleitet, „sondern Psychoedukation.“
Sie müssen auch nicht zwangsläufig eine soziale Ausbildung mitbringen, „aber eine gewisse soziale Kompetenz und Interesse an der Arbeit im sozialen Bereich.“ Auch müssen die migrantischen Berater schon etwas in Deutschland angekommen sein, brauchen eine Arbeitserlaubnis und dürfen nicht mehr selbst in der Unterkunft wohnen.
Die Schulung erfolgt in 3 Blöcken zu 4 bis 6 Tagen. Die Berater lernen beispielsweise typische Stress-Symptome kennen, erlernen Techniken der Gesprächsführung, aber auch, wie man sich angesichts der vielen Schicksale abgrenzt. Zwischen den Schulungen arbeiten sie bereits unter Anleitung.
Glaube und Familie, aber auch Fußball als seelische Stütze
Die Beratung selbst ist relativ standardisiert: Nach einem Erstgespräch folgen 3 Gruppensitzungen mit einem festen Programm. „Für viele Ratsuchende ist es sehr entlastend zu sehen, dass es anderen genau so geht wie ihnen“, sagt Blattner. Durch verschiedene Übungen sollen die Betroffenen lernen, ihr eigenes Verhalten und Erleben besser zu verstehen – als normale Reaktion auf extremen Stress – und sich Unterstützung zu beschaffen.
Eine Übung ist zum Beispiel der „Ressourcenbaum“, mit dem Flüchtlinge sich bewusstwerden, welche Stärken sie haben und was ihnen hilft, mit Belastungen fertig zu werden. Glaube und Familie werden hier oft genannt, aber auch kleine Dinge wie Fußballspielen und Musik hören. Mancher hängt sich seinen Ressourcenbaum später an die Wand in seinem Zimmer.
Aber reichen 3 Wochen Ausbildung für die Laienberater, um hoch belasteten, eventuell sogar suizidgefährdeten Menschen zu helfen? „Unsere Erfahrungen sind sehr positiv“, sagt Blattner, „viele Teilnehmer berichten von einer deutlichen Verbesserung.“
Die Berater seien auch durchaus in der Lage, unter anderem mit Hilfe von Fragebogen eine Suizidgefahr zu erkennen. Dann holen sie eine Psychologin zur Unterstützung dazu. Diese kann wiederum eine Psychiaterin einschalten, die einmal pro Woche konsiliarisch kommt. Etwa 2 Flüchtlinge pro Monat werden auch in die Psychiatrie überwiesen. „Unser Projekt ist auch eine Brücke in das reguläre Gesundheitssystem“, sagt Blattner. Eine regelrechte Therapie könne man aber selbst nicht leisten.
Große Offenheit auch gegenüber Beratern
Die Beratungen finden direkt in den Einrichtungen statt, um die Schwelle möglichst niedrig zu halten. Medizinische und psychologische Hilfe Tür an Tür – auch dieses Prinzip wurde von Ärzte ohne Grenzen übernommen. Die Nachfrage ist gut, denn es spricht sich herum, dass Reden hilft. „Manche werden auch von ihrem Zimmernachbarn geschickt“, berichtet Blattner.
Dabei ist es durchaus nicht so, dass alle Flüchtlinge nur mit einem Berater des eigenen Geschlechts sprechen wollen. „Wir haben afghanische Männer, die einer iranischen Beraterin vertrauen“, sagt Blattner. Auch gemischte Gruppensitzungen sind für viele Flüchtlinge akzeptabel. Es gibt aber auch reine Frauengruppen.
Die Berater sind mit 75%-Stellen fest angestellt beim katholischen Krankenhausträger „Kongregation der Schwestern des Erlösers“ und erhalten ein Gehalt. „Das ist wichtig, um die Kontinuität zu sichern“, sagt Christof. Finanziert wird „SoulTalk“ bisher ausschließlich aus Mitteln des Trägers, das Land stellt aber die Räume kostenlos zur Verfügung.
Blattner sieht das Projekt auch als Beitrag zur Integration: „Ein Mensch, der Flashbacks hat oder nachts nicht schlafen kann, kann sich im Deutschkurs nicht konzentrieren und auch nur schwer arbeiten.“
Im Mai 2018 landete „SoulTalk“ auf dem 3. Platz beim Crowdfunding-Wettbewerb des Hertie-Integrationspreises. Dafür wurde auch erst der Name des Projektes entwickelt.
Ärzte ohne Grenzen würde das Projekt gern an weiteren Standorten in Deutschland etablieren – doch dafür braucht es lokale Partner und eine Finanzierung. Einen Leitfaden „zur Nachahmung“ ist auch online verfügbar.
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Diesen Artikel so zitieren: „SoulTalk“-Projekt: Psychologische Hilfe von Flüchtlingen für Flüchtlinge – „sehr positive Erfahrungen“ - Medscape - 26. Nov 2018.
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