Chicago – Die Empfehlungen zum Cholesterin-Management und zur KHK-Prävention haben seit dem Jahr 2013 in den USA einen langen wechselvollen Weg zurückgelegt. Damals hatte man dort bei dieser wichtigen Praxis-Leitlinie einen radikalen Wechsel vollzogen und von der Zielwert-orientierten Strategie zum „Fire-and-Forget“-Vorgehen gewechselt – und damit zum einen Lob, aber auch Skepsis und Ablehnung geerntet.
Die neueste Version der Leitlinie ist nun bei den Scientific Sessions der American Heart Association (AHA) 2018 vorgestellt worden – und sie behält einige Basis-Überlegungen bei, fokussiert nun aber auch wieder auf Prinzipien, die ab 2013 in den Hintergrund getreten waren [1].
Zusätzlich enthält die neue Leitlinie jetzt auch eine konkrete Anleitung zum Einsatz von PCSK9-Hemmern wie Evolocumab (Repatha®, Amgen) und Alirocumab (Praluent®, Sanofi/Regeneron).
Aber auch eine der umstrittensten Neuerungen aus dem Jahr 2013 wird beibehalten: Ein Scoring-System zum 10-Jahresrisiko für atherosklerotische Herz-Kreislauf-Erkrankungen (ASCVD). Dieses wurde jedoch modifiziert, so dass es mehr bevölkerungsbezogene Daten als bislang enthält. Eine geringere Gewichtung erhält der ASCVD-Risikorechner als Indikation für die Statin-Therapie.
Diese Lücke schließt nun die Wiedereinführung der LDL-Cholesterin-Behandlungsziele, die vor allem für Menschen mit hohem Risiko gelten. Außerdem wird die Arzt-Patienten-Kommunikation in einem gemeinsamen Entscheidungsprozess (‚shared decision-making‘) gestärkt, vor allem in der Primärprävention bei Patienten mit mittlerem Risiko. In der Gruppe mit mittlerem Risiko wird die Messung des Koronarkalziums (CAC) in begrenztem Umfang als potenzieller ‚Tie-Breaker‘ im Entscheidungsprozess „Statine – ja oder nein?“ beibehalten.
PCSK9-Hemmer-Empfehlungen
Die Leitlinie empfiehlt PCSK9-Hemmer, deren Wirksamkeit inzwischen in großen Endpunktstudien bestätigt worden ist, vor allem für Patienten mit familiärer Hypercholesterinämie (FH) und für Patienten mit sehr hohem ASCVD-Risiko und mit immer noch zu hohen LDL-Cholesterinwerten – trotz maximaler Statin- und Ezetimib-Therapie.
Bei Patienten mit FH und bei Patienten mit sehr hohem ASCVD-Risiko sollte die Einleitung einer zusätzlichen Non-Statin-Therapie zur weiteren Lipidsenkung dann erwogen werden, wenn das LDL (unter Statinen und Ezetimib) nicht unter 70 mg/dL gefallen ist.
„Die Grenzwerte sind zurück in den Leitlinien“, kommentierte Dr. Roger S. Blumenthal, einer der Leitlinien-Autoren und Direktor des Johns Hopkins Ciccarone Centers for the Prevention of Heart Disease, Baltimore, Maryland, gegenüber Medscape. „Der Schwerpunkt liegt auf ‚niedriger ist besser‘ – dies aber mit herkömmlichen Therapien.“
Leitlinie übernimmt Patienten-Kategorien
Die AHA/ACC Leitlinie 2018, die von mindestens 10 weiteren medizinischen Fachgesellschaften unterstützt wird, ist zeitgleich zu ihrer Präsentation bei den AHA-Sitzungen im Journal of the American College of Cardiology [2] und in Circulation [3] veröffentlicht worden. Die Autorengruppe wurde von Dr. Scott M. Grundy, University of Texas Southwestern Medical Center in Dallas, und von Dr. Neil J. Stone, Northwestern University, Chicago, Illinois, gemeinsam geleitet.
Das neue Dokument übernimmt vieles aus den Leitlinien von 2013, insbesondere die 4 großen Kategorien von Patienten mit unterschiedlichem Versorgungsbedarf, für die Statine in Betracht gezogen werden können:
Primärprävention: keine klinische ASCVD oder Diabetes, aber ein 7,5%iges oder höheres 10-Jahres-Risiko laut ASCVD-Rechner und ein LDL-Cholesterin von 70 mg/dl oder höher
Keine klinische ASCVD, aber Diabetes und ein LDL-Cholesterin von 70 mg/dl oder höher;
Sekundärprävention: klinisch manifeste ASCVD ohne Herzinsuffizienz
Schwere primäre Hypercholesterinämie (LDL-C ≥190 mg/dl), oft als Familiäre Hypercholesterinämie (FH) bezeichnet.
Risikobewertung in der Primärprävention überarbeitet
Seit der Leitlinie von 2013 „haben wir die Risikobewertung in der Primärprävention überarbeitet, aber diese beginnt immer noch mit der Abschätzung des 10-Jahres-Risikos“, sagte Dr. Donald Lloyd-Jones von der Northwestern University Feinberg School of Medicine in Chicago und Mitglied der Leitlinien-Autoren gegenüber Medscape. „Das muss der Ausgangspunkt sein“, betonte er. Denn der Risiko-Score beeinflusse die Intensität des Managements, sei es durch Lebensstil-Änderung oder medikamentöse Therapie.
„Während der Risikorechner nicht erneuert worden ist, gibt es jetzt aber viel mehr Hinweise, wie der Patient und der Arzt über die Risiken des Patienten diskutieren sollten, was 2013 noch nicht so viel Aufmerksamkeit erhalten hatte“, sagte Blumenthal.
Der 10-Jahres-Risiko-Score bietet seiner Ansicht nach „fundierte Anhaltspunkte“ dafür, dies mit den meisten Patienten im breiten mittleren Risikobereich (10-Jahresrisiko 7,5 bis 20%) so zu diskutieren, dass eine gemeinsame Entscheidung gefällt werden kann.
„Diese Grauzone, der mittlere Bereich, wird jetzt in der Leitlinie viel besser akzentuiert“, sagte Blumenthal. „Ein ASCVD-Risiko-Score von beispielsweise 10% oder 15% schreibt nicht zwingend die Gabe eines Statins vor. Aber er sollte zu einer detaillierteren Diskussion führen. Ich denke, damit machen diese Leitlinien einen großen Schritt nach vorne.“
Um den gemeinsamen Entscheidungsprozess zu erleichtern, nennt das Dokument eine Reihe von „Risiko-verstärkenden Faktoren“, die im Risikorechner nicht berücksichtigt werden und, falls vorhanden, „uns dazu bringen könnten, ein Statin zu verschreiben, wenn der Patient einverstanden ist“, sagte Lloyd-Jones.
Zu diesen Risikoverstärkern gehören:
LDL-Cholesterin von 160 mg/dL oder mehr, ein C-reaktives Protein (hochempfindlicher Test) von 2,0 mg/l oder mehr, Apolipoprotein B von 130 mg/dl oder mehr oder erhöhtes Lipoprotein(a);
Knöchel-Arm-Index kleiner als 0,9;
Komorbiditäten wie das metabolische Syndrom, chronische Nierenerkrankungen, chronisch entzündliche Erkrankungen wie rheumatoide Arthritis, Lupus oder HIV oder vorzeitige Wechseljahre;
positive Familienanamnese für eine frühe ASCVD;
südasiatische Abstammung
sowie ein höheres Lebensalter, das natürlich auch mit einem erhöhten ASCVD-Risiko einhergeht.
Die Leitlinie rät zu einer Statin-Therapie bei Patienten mit grenzwertigem ASCVD-Risiko (5 bis 7,5% über 10 Jahre), wenn Risikoverstärker vorliegen (Klasse-IIb-Empfehlung).
Für Patienten mit einem mittleren Risiko (7,5 bis 20%) haben Statine eine Klasse-I-Empfehlung.
Bei hohem Risiko (über 20%) sollte die Statin-Therapie hochintensiv sein (ebenfalls Klasse-I-Empfehlung).
Bewertung nach dem Kalzium-Score
„Sind nach dieser Diskussion Arzt und Patient noch unsicher oder möchte der Patient etwas mehr Bestärkung haben, dann haben wir spezielle Empfehlungen für den Einsatz des Koronararterien-Kalzium-Screenings entwickelt“, so Lloyd-Jones. Eine Herz-Computertomografie zur Bestimmung des Kalzium-Scores sei in erster Linie für Patienten mit mittlerem Risiko eine Option.
Wenn der Kalzium-Score bei 0 liegt, „wie das bei etwa 50 Prozent dieser Menschen der Fall sein wird, dann sagen wir, dass es sinnvoll ist, auf ein Statin zu verzichten“, sagte Lloyd-Jones.
Patienten mit einem Agatston-Score von 100 (was einer mäßigen Koronar-Kalzifikation entspricht) „sagen wir sehr deutlich, dass sie zu einer Gruppe gehören, die von einer Statin-Therapie profitieren wird. Wir glauben nicht nur, dass sie ein höheres Risiko haben, sondern auch, dass ihre Kalziumwerte darauf hindeuten, dass sie eine erhebliche Belastung durch Atherosklerose haben.“
Liegt der Kalzium-Score im Bereich 1 bis 99 (das entspricht einer leichten Koronar-Kalzifikation) kann entschieden werden, mit einer Statin-Therapie zu beginnen oder aber den Kalzium-Score nach 2 Jahren erneut zu ermitteln. „Und wenn er sich schnell verändert hat, ist das ein Indikator dafür, dass Sie ein Statin stärker in Betracht ziehen sollten“, so Lloyd-Jones.
Wann Statine bei Diabetes?
Das Dokument empfiehlt, dass alle Patienten mit Diabetes im Alter von 40 bis 75 Jahren mit einem LDL-Cholesterin von 70 mg/dL oder höher ein Statin mittlerer Intensität einnehmen sollten. Sie benötigen keine 10-jährige ASCVD-Risikobewertung. Ein hochintensives Statinsollte für solche Patienten mit mehreren Risikofaktoren in Betracht gezogen werden, heißt es in der Leitlinie.
Das Dokument biete jedoch auch bei Patienten mit Diabetes eine gewisse Flexibilität, sagte Blumenthal: „Wenn der Patient immer noch unsicher ist, ob er eine lebenslange Statin-Therapie – als Ergebnis der Risikodiskussion – durchführen soll, ist es sicherlich sinnvoll, eine Reihe von Lebensstil-Änderungen auszuprobieren, die intensiviert werden, und dann zu sehen, ob er dadurch sein HbA1c in den Bereich von 6,5% oder niedriger bekommt. Vielleicht verbessern sich dabei auch – über Gewichtsabnahme und Bewegung – die Lipide.“
Statine zur Sekundärprävention
Für die Sekundärprävention empfiehlt die Leitlinie eine maximal verträgliche Statin-Therapie, wobei zusätzlich Ezetimib in Betracht gezogen werden kann, wenn das LDL-Cholesterin nicht um mindestens 50% abnimmt oder auf unter 70 mg/dl sinkt.
Laut Lloyd-Jones ist im Schnitt durch Ezetemib ein zusätzlicher 20%iger Rückgang des LDL-Cholesterins zu erwarten. Bleibe das LDL-Cholesterin über 70 mg/dl, sei es „sinnvoll, zusätzlich einen PCSK9-Hemmer auszuprobieren“.
Schwere primäre Hypercholesterinämie oder FH
Für Patienten mit schwerer primärer Hypercholesterinämie oder FH, die ein LDL-Cholesterin über 190 mg/dL haben, „müssen Sie das 10-Jahres-Risiko nicht berechnen. Wir wissen, dass diese Patienten eine Behandlung brauchen. Also: eine maximal verträgliche Statin-Therapie für alle“, sagte Lloyd-Jones.
Nehme damit das LDL-Cholesterin nicht um wenigstens 50% ab oder bleibe über 100 mg/dl, „dann ist es sinnvoll, zunächst einen Versuch mit Ezetimib zu unternehmen und dann PCSK9-Hemmer in Betracht zu ziehen, wenn der Zielwert noch nicht erreicht ist“.
Nicht-medikamentöse Therapie wichtig
Das Leitliniendokument befürwortet zudem einen „herzgesunden Lebensstil – und dies lebenslang“ als Basis sowie detaillierte Empfehlungen, die sich am individuellen Risiko des Patienten und an der medizinischen Behandlung orientieren. „Selbst, wenn man mit einem Medikament gegen Cholesterin oder Bluthochdruck oder beidem beginnt, sollte der Arzt Wege finden, den Lebensstil der Patienten in den nächsten 3 oder 6 Monaten weiter zu bessern“, sagte Blumenthal.
Der ACC/AHA-Leitlinie stimmten auch folgende Gesellschaften zu: American Association of Cardiovascular Pulmonary Rehabilitation, American Academy of Physician Assistants, Association of Black Cardiologists, American College of Preventive Medicine, American Diabetes Association, American Geriatrics Society, American Pharmacists Association, American Society for Preventive Cardiology, National Lipid Association und Preventive Cardiovascular Nurses Association.
Dieser Artikel wurde von Ute Eppinger aus www.medscape.com übersetzt und adaptiert.
Medscape Nachrichten © 2018 WebMD, LLC
Diesen Artikel so zitieren: Die neue AHA/ACC-Leitlinie zum Cholesterin-Management: Auch in den USA erhalten die LDL-Ziele nun wieder mehr Gewicht - Medscape - 26. Nov 2018.
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