Berlin – Der Pflegenotstand in Deutschland ist keinesfalls nur durch den Fachkräftemangel zu erklären. Vielmehr droht er sich auch von Seiten pflegender Angehöriger zu verschärfen. So stehen hochgerechnet 185.000 von rund 2,5 Millionen Personen, die ihre Angehörigen zu Hause pflegen, kurz davor, dies aufzugeben.
Viele wollen nur dann noch die Pflege fortsetzen, wenn sie dabei mehr Unterstützung erhalten. Auch sind Hauptpflegepersonen vergleichsweise häufiger krank. Das geht aus dem aktuellen Barmer-Pflegereport 2018 hervor, der auf einer Pressekonferenz der Krankenkasse in Berlin vorgestellt worden ist [1] .
Der Report basiert auf den Ergebnissen einer nach Barmer-Angaben repräsentativen Umfrage unter rund 1.900 pflegenden Angehörigen sowie der Auswertung von Routinedaten der Krankenkasse, die auf die deutsche Gesamtbevölkerung hochgerechnet worden sind.
Demnach sind von den 2,5 Millionen pflegenden Angehörigen (Hauptpflegepersonen) 1,65 Millionen (66,7%) Frauen. Zum Vergleich: Laut Bundesgesundheitsministerium bzw. Statistischem Bundesamt sind aktuell knapp 1,1 Millionen Fachkräfte (Frauenanteil mehr als 85%) bei Pflegediensten und in Pflegeheimen beschäftigt, mehr als 2 Drittel davon in Teilzeit.
„Größter Pflegedienst der Nation“
Nicht zu Unrecht würden pflegende Angehörige oftmals als „größter Pflegedienst der Nation“ bezeichnet, sagte Studienleiter Prof. Dr. Heinz Rothgang von der Universität Bremen in Berlin. Und sie sind mit einem erheblichen Pflegeaufwand konfrontiert: So pflegt jede 2. Haupt-Pflegeperson dem Report zufolge bereits länger als 2 Jahre.
Rund 85% kümmern sich täglich um ihre pflegebedürftigen Angehörigen – davon die Hälfte mehr als 12 Stunden. Hauptpflegepersonen müssen dabei meist eine Vielzahl von Aufgaben (wie Medikamentenversorgung, Unterstützung beim Essen, bei Mobilität und beim Toilettengang usw.) übernehmen, 60% von ihnen wünschen sich in mindestens einem ihrer Aufgabenbereiche weitere Hilfe.
Psychische Belastungen im Vordergrund
Die Pflege kann mit erheblichen psychischen, aber auch körperlichen Belastungen verbunden sein: Ein Großteil (38%) der Befragten gibt an, nicht genügend Schlaf zu bekommen, knapp 30% fühlen sich in der Rolle als Pflegende gefangen (mit negativen Auswirkungen auf das Sozialleben) und jedem 5. ist die Pflege häufig zu anstrengend. „Viele pflegende Angehörige sind an der Grenze der Belastbarkeit angekommen“, so Rothgang.
Dem Report zufolge sind Haupt-Pflegepersonen nicht nur kränker als Personen, die nicht pflegen, vielmehr geht die Pflege im Vergleich zu altersgleichen Nicht-Pflegenden auch mit einer schnelleren bzw. ausgeprägteren Verschlechterung des Gesundheitszustands einher. Erkennbar wurde dies durch eine Längsschnittanalyse, bei der die Häufigkeit ausgewählter Diagnosestellungen und deren Veränderung über 5 Jahre (2012 bis 2017) für Hauptpflegepersonen und sonstige Versicherte verglichen wurde.
Vor allem psychische Störungen (+6,2%) und Belastungsstörungen (+4%) sowie Depressionen (+3,7%) nahmen dabei bei den Pflegenden im Zeitverlauf stärker zu. Deutliche Zunahmen waren daneben bei Schmerzen (+3,8%) und Rückenbeschwerden (+3,7%) zu beobachten.
„Ein klares Indiz dafür“, so Rothgang, „dass Pflege krankmacht.“ Dazu passt, dass in der Barmer-Versichertenbefragung fast 40% der Haupt-Pflegepersonen die eigene Gesundheit als weniger gut oder sogar als schlecht bewerten.
Hilfsangebote häufig nicht genutzt
Überraschend ist allerdings, dass – trotz des von sehr vielen Pflegenden geäußerten Wunsches nach mehr Unterstützung – Hilfsangebote häufig nicht genutzt werden. So nehmen dem Pflegereport zufolge hochgerechnet knapp 440.000 pflegende Angehörige eine Kurzzeitpflege und je knapp 380.000 Personen die Tagespflege sowie Betreuungs- und Haushaltshilfen nicht in Anspruch.
Teilweise wird dafür „kein Bedarf“ oder „die Leistung ist unbekannt“ als Grund dafür genannt, entsprechende Angebote nicht zu nutzen, häufig aber auch „geringe Qualität“, „zu teuer“, „zu viel Organisation“ oder „es passt zeitlich nicht“. Rothgang zufolge wird hier ein Bedarf deutlich, der aber aus Gründen der Angebotsstruktur oder des Aufwands nicht befriedigt werden kann.
Weniger Bürokratie gewünscht
Insbesondere auch bürokratische Hürden scheinen bei der Antragstellung von Leistungen eine große Rolle zu spielen – hier wünschen sich fast 60% der Befragten weniger Bürokratie. „Es ist höchste Zeit, dass Haupt-Pflegepersonen schon frühzeitig besser unterstützt, umfassend beraten und von überflüssiger Bürokratie entlastet werden“, sagte Barmer-Vorstandsvorsitzender Prof. Dr. Christoph Straub bei der Vorstellung des Reports.
„Denn unser System ist auf die aufopferungsvolle Arbeit pflegender Angehöriger schlicht und ergreifend angewiesen. Und wir können es uns nicht leisten, auf deren Dienste zu verzichten, weil sie an ihre Grenze kommen, sich allein gelassen fühlen, weil sie körperlich und seelisch völlig erschöpft sind.“
Straub wies in diesem Zusammenhang auf von der Barmer angebotene Kompaktseminare für pflegende Angehörige hin, in denen die Teilnehmer lernen können, wie sie sich trotz der anstrengenden Pflegesituation entlasten können.
Unter dem Seminartitel „Ich pflege – auch mich“ geht es dabei 4 Tage lang und modular strukturiert um die Themenbereiche Betreuung und Pflege von Hilfs- und Pflegebedürftigen, Leistungen der sozialen Pflegeversicherung, Patientenverfügung, Vorsorge- und Betreuungsvollmacht, Entlastung, Selbsthilfe, Selbstsorge und Prävention/Gesundheitsförderung.
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Diesen Artikel so zitieren: Barmer-Pflegereport 2018: Pflegende Angehörige an der Grenze der Belastbarkeit – Hilfsangebote oft zu bürokratisch - Medscape - 14. Nov 2018.
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