Berlin – Krieg, Bürgerkrieg, Gewalt und Naturkatastrophen – weltweit gibt es laut WHO ungefähr 65 Millionen Flüchtlinge, die gewaltsam aus ihren Ländern vertrieben wurden. Viele büßen ihre körperliche und psychische Gesundheit ein in den Krisengebieten, auf der Flucht und in den Aufnahmeländern, wo sie zum Teil isoliert in den Flüchtlingsunterkünften leben. Hilfsorganisationen stellten ihre Positionen, aber auch Ideen auf dem World Health Summit in Berlin vor [1].
Ob und in welchem Umfang Flüchtlinge und Migranten medizinische Versorgung erhalten, etwa in den 53 Ländern der WHO-Region Europa, regeln die Länder in Europa sehr unterschiedlich, sagte WHO-Regionaldirektorin Europa Dr. Zsuzsanna Jakab. Mittlerweile sei jede 10. Person in der WHO-Region Europa ein Flüchtling oder Migrant.
WHO: Universelle Gesundheitsversorgung
Während zum Beispiel Frankreich, Italien, Norwegen, Portugal und Spanien allen Flüchtlingen kompletten Zugang zu ihrem Gesundheitswesen gewährten, hänge dies in anderen Ländern vom Rechtsstatus ab, zum Beispiel, ob der Asylbewerber anerkannt ist. Die WHO vertritt hierzu eine klare Position: „Alle Flüchtlinge sollten Zugang zu einer universellen Gesundheitsversorgung haben. Denn Gesundheit ist ein Menschenrecht“, sagte Jakab.
Der Generalsekretär der International Federation of Red Cross and Red Crescent Societies (IFRC) Elhadj As Sy appellierte an das Mitgefühl der Aufnahmeländer: „Flüchtlinge und Migranten sollten nicht als ein Problem gesehen werden. Vielmehr geht es um Menschen, die sich in extrem schwierigen Situationen befinden.“ Auch sogenannte illegale Einwanderer bräuchten einen Zugang zum Gesundheitssystem, ohne eine Anzeige bei den Behörden befürchten zu müssen.
Psychische Gesundheit von Kindern gefährdet
„Kinder sind die vulnerabelste Gruppe auf der Flucht“, sagte Susanna Krüger, CEO der internationalen Organisation Save the Children. Ein Drittel der Menschen, die laut WHO durch Krieg und Gewalt vertrieben worden sind, sind Kinder. „Die meisten Kinder haben auf der Flucht keinen Zugang zu medizinischer Versorgung. Sie sind oft mangelernährt und haben auch keine Möglichkeit, die Schule zu besuchen“, schilderte Krüger. Die Situation von Kindern in Flüchtlingsunterkünften sei belastend und eine Bedrohung für ihre psychische Gesundheit. Krüger nannte Beispiele aus dem Irak und Deutschland.
In den Flüchtlingsunterkünften im Nordirak, wo viele syrische Flüchtlinge leben, hätten Kinder oftmals keinen Zugang zu Gesundheitsversorgung, zu sauberem Trinkwasser, sanitären Anlagen, oder Elektrizität. Selbst die Schulen seien bombardiert und zerstört worden. Viele Kinder litten unter anhaltendem psychischen Stress und traumatischen Erlebnissen.
Ein großer Teil der Kinder habe Familienangehörige auf der Flucht verloren und sei zum Teil traumatisiert vom Anblick getöteter Menschen und Gewalttätigkeiten. Solche schrecklichen Erlebnisse beeinträchtigten ihr psychisches Wohlbefinden. Die Kinder zeigten häufig körperliche Stresssymptome, Angst und Schlafstörungen.
Ähnliche Symptome weisen laut Krüger auch Flüchtlingskinder in deutschen Unterkünften auf, obwohl sie vor der Gewalt des Krieges sicher seien. Viele lebten jedoch in der ständigen Furcht davor, dass sie und ihre Eltern abgeschoben werden. Kinder, die ohne Eltern ins Land gekommen sind, hätten zudem Angst, nie wieder ihre Familie sehen zu können.
Doch oftmals registrierten weder Sozialarbeiter noch Eltern, unter welchem psycho-sozialen Stress die Kinder stünden, schilderte Krüger. Viele Flüchtlinge wüssten wenig über psychische Krankheiten und ihre Behandlungsmöglichkeiten.
Auch seien Sozialarbeiter in Unterkünften häufig nicht darin ausgebildet, die psychische Verfassung von Kindern einzuschätzen. „Wir brauchen niedrigschwellig Angebote, damit Flüchtlingsfamilien und Kinder sich trauen, mit ihren Problemen dort hinzugehen“, sagte Krüger.
„Da es keine Standards in den Unterkünften gebe, hat Save the Children einen ‚Unterbringungs-TÜV‘ entwickelt. Dieser soll Mängel oder Missstände auch im gesundheitlichen Bereich aufdecken“, erklärte Krüger. Die Forderungen:
Kinder und ihre Eltern sollen bei ihrer Ankunft in den Unterkünften innerhalb der ersten 3 Tage medizinisch untersucht werden und notwendige medizinische Versorgung erhalten.
Auch sollten Dolmetscher zur Verfügung gestellt werden, da eine Anamnese sonst oft aufgrund der Verständigungsprobleme unmöglich sei.
Ferner sollten alle Kinder innerhalb der ersten 6 Monate empfohlene Impfungen bekommen.
Auch die WHO sieht den häufig fehlenden Impfschutz als problematisch an. So sei bei rund 80% der Flüchtlingskinder, die nach Griechenland einreisten, der Impfstatus ungeklärt, betonte die WHO-Regionaldirektorin Jakab. Es sei davon auszugehen, dass hier kein Impfschutz bestehe. „Es ist wichtig, dass Migranten und Flüchtlinge Zugang zu Impfungen bekommen, auch um die einheimische Bevölkerung zu schützen“, betonte sie.
Schwangerschaftsabbruch für Mädchen und Frauen
Eine weitere Gruppe, deren Gesundheit und Leben besonders in humanitären Krisen gefährdet ist, sind Frauen und Mädchen im fortpflanzungsfähigen Alter, erklärte Minna Barling von der Familienberatungs-Organisation International Planned Parenthood Federation (IPPF).
Für diese Gruppe sei Gewalt, Vergewaltigung und Missbrauch häufig Realität auf ihrer Flucht. Die IPPF bietet für Frauen und Mädchen Beratung, Prävention gegen HIV und sexuell übertragbare Infektionen, gynäkologische Behandlung für Schwangere, Verhütungsmittel und sichere Schwangerschaftsabbrüche an.
Barling schilderte den Fall einer Mutter, die mit ihren 3 Kindern aus Venezuela geflüchtet war und dann an mehreren Grenzübergängen nur Sex für die Durchreise anbieten konnte. Da sie davon ungewollt schwanger geworden sei, habe ihr die IPPF geholfen, die Schwangerschaft abzubrechen. „Uns geht es darum, das reproduktive Selbstbestimmungsrecht der Frauen zu stützen, so dass sie ihre eigenen Entscheidungen treffen können“, betonte Barling.
Nicht alle begrüßten die Arbeit der IPPF, vor allem nicht Abtreibungsgegner. Auch im Oval Office der US-Regierung säßen „wütende weiße Männer“, welche die Arbeit von IPPF erschwerten, kritisierte Barling. Man nehme mittlerweile keine Spendengelder mehr von der US-Regierung an, sagte sie.
Neue lebensrettende Ideen
Wie neue Ideen die medizinische Versorgung in Krisengebieten verbessern können, stellte Dr. Karlee Silver vor, Vizepräsidentin bei Grand Challenges Canada. Dies ist eine Organisation, die von der kanadischen Regierung getragen und unter anderem von der Bill-und-Melinda-Gates-Stiftung finanziell unterstützt wird. Die Arbeitsweise dieser Hilfsorganisation wurde unlängst in einem Beitrag in Nature beschrieben. 1.000 lebensrettende Ideen seien bisher in 80 Ländern finanziell gefördert worden, sagte Silver. Sie stellte 3 der besten Ideen vor:
Bei der SurgiBox-handelt es sich um einen selbstaufblasbaren sterilen Mini- Operationsraum, der in einen Rucksack passt. Operateure und Patienten werden so vor Infektionen geschützt.
Eine weitere Initiative stellt Unterschenkel-Prothesen kostengünstig mit 3-D-Druckern her.
Beim Train-the-Trainer-Projekt werden Gesundheitsarbeiter in der kognitiven Verhaltenstherapie geschult und in Flüchtlingsunterkünften, etwa im Libanon, eingesetzt.
Die psychische Gesundheit von Migranten und Flüchtlingen ist auch ein Schwerpunkt der WHO. Der Umstand der Flucht und der Migrations-Prozess sowie andere psycho-sozialen Aspekte wirkten sich schädlich auf die Lebensumstände und die psychische Gesundheit von Migranten aus. Am häufigsten verbreitet seien posttraumatische Belastungsstörungen und Depressionen, sagte WHO-Regionaldirektorin Jakab.
Gesundheit von Flüchtlingen in der WHO-Region Europa
In der WHO-Region Europa leben laut WHO inzwischen über 900 Millionen Menschen, schätzungsweise 90 Millionen sind Flüchtlinge und Migranten, sagte die WHO-Regionaldirektorin Europa Jakab. Noch vor 30 Jahren betrug der Anteil der Flüchtlinge und Migranten nur 3,9%.
„Flüchtlinge und Migranten stellen insgesamt keine Bedrohung für die Gesundheit der einheimischen Bevölkerung dar, und sie bringen auch keine exotischen Krankheiten aus ihren Heimatländern mit“, sagte die WHO-Regionaldirektorin und referierte Teile des neuen WHO-Reports zur Gesundheit von Flüchtlingen und Migranten.
Prävention und medizinische Versorgung sowie Zugang zu Tests seien auch im Bereich HIV-Infektionen und Tuberkulose wichtig. Rund 20% der HIV-Neuinfektionen bei Flüchtlingen und Migranten hätten erst nach der Reise in ein europäisches Land stattgefunden. Anders sei es bei den Tuberkulose-Neuinfektionen: Diese haben wahrscheinlich vor der Einreise nach Europa stattgefunden.
Zudem geht nach Angaben der WHO der Aufenthalt im Gastland mit einem höheren Adipositas- und Diabetes-Risiko für Migranten einher. Flüchtlinge und Migranten hätten zudem ein höheres Risiko, einen ischämischen Herzinfarkt oder einen Schlaganfall zu bekommen als die Population in West-Europa.
Medscape Nachrichten © 2018
Diesen Artikel so zitieren: Alle sollen gleichbehandelt werden: Hilfsorganisationen fordern vollen Zugang zum Gesundheitssystem für Flüchtlinge - Medscape - 15. Nov 2018.
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