Chicago/USA – Geht es um Inhalte, ist es in, sich kurz und bündig zu halten. Zeitschriftenmanuskripte, Editorials, Vorträge, alles wird gekürzt. Auch wissenschaftliche Kongresse kann man auf diese Liste setzen.
Wenn die American Heart Association (AHA) nun in Chicago tagt, werden die Organisatoren einen ehemals 5-tägigen Kongress in 3 Tage quetschen [1]. Ihnen bleibt keine andere Wahl. In einer Ära, in der die meisten Kardiologen nicht-ärztlichen Verwaltungschefs Rechenschaft schuldig sind, sind die Zeiten lange vorbei, in denen sich Ärzte mehrere Arbeitstage für ein Meeting „freinehmen“ konnten.
Vitamin D geht erneut in Revision
Die Liste der 6 Late-Breaking-Sessions beginnt mit der VITAL-Studie, die treffend benannt ist, da ihre Ergebnisse Bedeutung für Millionen von Menschen haben könnten, die zum Schutz vor Herzerkrankungen und Krebs Vitamin D und Omega-3-Fettsäuren einnehmen.
Die Geschichte der Vitamin-D-Supplementierung zeigt bislang vor allem Eines: Wie schwer es ist, einen Gesundheitsvorteil aus einer Pille zu schlagen. Bekannt ist: Niedrige Vitamin-D-Werte sind mit schlechteren gesundheitlichen Outcomes assoziiert. Da könnte man meinen, dass die Lösung ganz einfach ist: Eine Pille schlucken und das fehlende Vitamin D zuführen.
Doch das Problem ist, dass die natürlichen Vitamin-D-Spiegel daraus resultieren, dass man nach draußen geht, üblicherweise um sich zu bewegen. Kranke Menschen sind häufig in ihrer Mobilität eingeschränkt und gehen deshalb wenig raus. Deshalb habe ich Zweifel daran, dass eine Pille den gleichen Nutzen haben kann wie regelmäßige Bewegung in der Sonne.
Das ist aber nicht alles. Für meine vom Bayesschen Wahrscheinlichkeitsbegriff überzeugten Freunde sehen die bisherigen Ergebnisse zur Vitamin-D-Supplementation grausam aus. „Wir haben keine Evidenz gefunden, die darauf hindeutet, dass eine Vitamin-D-Supplementierung alleine die Krebsinzidenz oder die Krebsmortalität reduziert, auch nicht nach Einschluss von Ergebnissen aus Langzeitnachbeobachtungen“, schreiben die Autoren eines 2018 publizierten Reviews von 30 Studien mit mehr als 18.000 Teilnehmern.
Etwas mehr Hoffnung macht Vitamin D im Hinblick auf die Herzgesundheit. Systematische Reviews haben zwar kein Signal für einen Nutzen gezeigt, aber in den meisten Vitamin-D-Studien ging es bislang um die Skelettgesundheit und es wurden nur recht kleine Stichproben zumeist älterer Frauen eingeschlossen.
Neuauflage der Fischölkapseln?
In REDUCE-IT erhielten etwas mehr als 8.000 Patienten mit erhöhten Triglyzeriden, hohem kardiovaskulären Risiko und dauerhafter Statin-Einnahme entweder 4 g reine Eicosa-Pentaen-Säure (EPA) oder ein Mineralöl-Placebo. Eine Pressemitteilung von Amarin bestätigte vor kurzem einen positiven Ausgang der Studie mit einer 25%igen relativen Risikoreduktion für den kombinierten Endpunkt aus kardial bedingtem Tod, nicht-tödlichem Herzinfarkt, nicht-tödlichem Schlaganfall, koronarer Revaskularisierung oder instabiler Angina pectoris mit Hospitalisierung (wir berichteten).
Ein positives Ergebnis für ein Omega-3-Supplement ist ein Ausreißer. Erst vor wenigen Monaten fanden Cochrane-Reviewer nur einen geringfügigen oder gar keinen Effekt von Omega-3-Supplementen auf die Herzgesundheit – und dies in 79 Studien mit insgesamt mehr als 112.000 Teilnehmern. Und in der ASCEND-Studie zeigte sich kein Effekt von Omega-3-Supplementen bei Patienten mit Diabetes.
Dr. Deepak Bhatt von der Harvard Universität in Boston, USA, wird beim Kongress noch detaillierter darauf eingehen, aber mögliche Gründe für den in REDUCE-IT gefunden Nutzen der Omega-3-Supplementierung könnten die im Vergleich zu früheren Studien höhere Dosierung (4 g vs 1 g), die Reinheit (Vascepa® enthält nur EPA) und die Entscheidung der Studienautoren, nur Patienten mit hohen Triglyzerid-Werten einzuschließen, sein.
Wissenschaftlich gesehen könnte sich REDUCE-IT mit letzterem Punkt die Auszeichnung als Meilensteinstudie verdienen. Nein, nicht aufgrund der kleinen absoluten Reduktion kardialer Ereignissen, vielmehr dafür, das Augenmerk auf einen schon lange bestehenden toten Winkel in der kardiovaskulären Forschung gelenkt zu haben, die Bedeutung der Triglyzerid-Senkung.
Inflammation ist zurück auf der Bühne
Letztes Jahr in Barcelona nannte Dr. Eugene Braunwald, Brigham and Women's Hospital, Boston, die Ergebnisse der CANTOS-Studien ein historisches Ereignis (wir berichteten). Sie zeigten, dass die antientzündliche Substanz Canakinumab kardiale Krankheitsereignisse unabhängig von einer Senkung des LDL-Cholesterins reduzierte. Weshalb war einer der wichtigsten Meinungsführer der Kardiologie so beeindruckt? „Weil es eine neue Richtung [die Behandlung der Entzündung] für eine sehr wichtige Herzerkrankung, die wichtigste von allen, die Atherosklerose, aufzeigte.“
Doch nun – ein Jahr später – haben die Verfechter der Idee, die Inflammation zu behandeln, um Herzereignisse zu reduzieren, noch einiges an Arbeit vor sich, um die US-Arzneimittelbehörde FDA zu überzeugen – sie hat Canakinumab gerade erst die entsprechende Indikation verweigert.
Das überrascht nicht. Einzelne Studien verändern selten etwas an lange bestehenden Paradigmen. Doch was passiert, wenn eine zweite Studie zeigt, dass eine andere antientzündliche Substanz ebenfalls Herzereignisse reduziert?
Beim AHA-Kongress wird Braunwalds Harvard-Kollege Dr. Paul Ridker die Ergebnisse der Studie CIRT vorstellen. Dabei handelt es sich um eine von den National Institutes of Health (NIH) unterstützte, Placebo-kontrollierte, randomisierte Studie, in der niedrig dosiertes Methotrexat plus Folsäure zur Reduktion der kardiovaskulären Morbidität und Mortalität bei 7.000 Patienten mit stabiler KHK und Typ-2-Diabetes oder metabolischem Syndrom untersucht wird. Das wird sicherlich ein großer Moment für die Kardiologie.
Ruhiger Geist, ruhiges Herz?
Man kann nicht Patienten mit Herzerkrankungen betreuen und bestreiten, dass sich seelischer oder emotionaler Stress ungünstig auf das Herz auswirken. Yoga ist in der Lage, den Körper und den Geist zu beruhigen, auf diese Weise hilft es wahrscheinlich Patienten mit Vorhofflimmern.
Und „es existiert vielversprechende Evidenz dafür, dass Yoga die kardiometabolische Gesundheit verbessert, doch die entsprechenden Ergebnisse sind durch kleine Studiengrößen, Heterogenität und die moderate Qualität randomisiert-kontrollierter Studien limitiert“, schreiben die Autoren eines systematischen Reviews mit einer Metaanalyse von mehr als 30 Studien, in denen Yoga-treibende Patienten mit nicht trainierenden Kontrollen verglichen wurden.
Beim AHA-Kongress will Dr. Dorairaj Prabhakaran vom Center for Chronic Disease Control in Neu-Delhi, Indien, für Klarheit sorgen. Er wird dort nämlich die Ergebnisse von Yoga-Care vorstellen, einer multizentrischen, randomisiert-kontrollierten Studie, die die Effektivität eines auf Yoga basierenden kardialen Rehabilitationsprogrammes bei mehr als 4.000 Herzinfarkt-Patienten untersucht hat.
Können computerassistierte Entscheidungen die Behandlung verbessern?
Fast jedes Mal, wenn sich in meinem Krankenhaus die Kommission für Herzrhythmusstörungen trifft, diskutieren wir über die Behandlung von Patienten mit Vorhofflimmern. Unser Problem: Vorhofflimmern entwickelt sich immer mehr zu einer Epidemie und das Management ist teuer, oft gefährlich und sehr variabel. Letzteres Problem quält vor allem Leute, deren Aufgabe es ist, eine kosteneffektive Behandlung anzubieten.
Unter Einsatz des besten Werkzeuges der medizinischen Wissenschaft – der randomisiert-kontrollierten Studie – hat uns mein Freund, Dr. Jeroen Hendriks, inzwischen an der Universität von Adelaide, Australien, tätig, den besten Weg aufgezeigt, um Patienten mit Vorhofflimmern zu behandeln: ein teambasierter, von einer Krankenschwester bzw. einem Krankenpfleger gemanagter Behandlungsansatz, der den Patienten mit einbezieht und sowohl auf Evidenz als auch auf computer-assistierte Entscheidungsfindung setzt.
Beim AHA-Kongress wird es zahlreiche Late-Breaking-Trials zum Einsatz von computer- und teambasierten Behandlungsansätzen geben, die die Betreuung von Patienten mit Herzerkrankungen verbessern sollen. Wissenschaftler aus Brasilien werden darüber berichten, ob eine facettenreiche Interventionsstrategie Ärzte durch persönliche und computerbasierte Erinnerungen dazu bringen kann, häufiger evidenzbasierte Strategien anzuwenden.
Arbeitsgruppen der McMaster University in Hamilton, Kanada, sowie der Harvard University, Boston, USA, werden separate Studien zur unterstützten Entscheidungsfindung in der Behandlung von Patienten mit Vorhofflimmern präsentieren. Ein Paradoxon: Die gemeinsame Entscheidungsfindung zu akzeptieren, bedeutet auch, dass umfassend informierte Patienten sich rational dafür entscheiden können, eine angeratene Therapie nicht durchführen zu lassen. Was, wenn besser informierte Entscheidungen dazu führen, dass weniger häufig evidenzbasierte Therapien zum Einsatz kommen?
Ein Umbruch in der Elektrophysiologie?
Eines der Probleme beim Herzinfarkt ist, dass er oft unvollständig ist. Überlebende Kanäle funktionsfähigen Myokards innerhalb eines Infarktes schaffen eine „Brutstätte“ für AV-Reentry-Tachykardien und ventrikuläre Tachykardien. Das ist ein großes Problem, nicht nur, weil es lebensbedrohlich ist, sondern auch, weil ventrikuläre Tachykardien immer wieder zu Impulsen eines implantierbaren Kardioverter-Defibrillators (ICD) führen können – sprich zu mehr Leiden.
Kurz vor seinem Tod schalte die Herzrhythmus-Koryphäe Dr. Mark Josephson Elektrophysiologen dafür, Methoden zur Kartierung und zum Verständnis von Herzrhythmusstörungen aufgegeben zu haben. Viele Mediziner, die ventrikuläre Tachykardien mit einer Ablation behandeln, haben die komplizierte Kartierung der ventrikulären Tachykardie einfach deshalb aufgegeben, da eine Homogenisierung des gesamten vernarbten Bereichs offenbar ebenso effektiv sein kann.
Doch beide Behandlungsansätze erfordern es, Patienten mit einer beträchtlichen Herzerkrankung einem invasiven, langandauernden und riskanten Eingriff zu unterziehen.
Dr. Philip Cuculich von der Washington University in St. Louis, USA, hat möglicherweise einen besseren Weg gefunden, einen ohne Katheter, Anästhesie und stundenlangen Eingriff. Ein effektiver Weg, eine wirklich nicht-invasive Ablation durchzuführen, würde die Elektrophysiologie für immer verändern. In der ENCORE-VT-Studie wurden mittlerweile 20 Patienten mit durch Vernarbungen bedingter ventrikulärer Tachykardie mit einer körper-stereotaktischen Bestrahlung (stereotactic body radiation therapy, SBRT) ablativ behandelt.
Marketing getarnt als Wissenschaftspreis
Der Stanford-Wissenschaftler Dr. John Ioannidis hat einmal darauf hingewiesen, dass klinische Evidenz oft auch ein Marketing-Werkzeug der Industrie sein kann. Leider stellen die Late-Breaking-Sessions beim AHA-Kongress dafür ein glänzendes Beispiel dar. Zuerst ein Eingeständnis: Ich habe die Impella® Herzpumpe (Abiomed) bei Ablationen von ventrikulären Tachykardien verwendet. Und meine interventionellen Partner nutzen sie, um Patienten mit kardiogenem Schock zu behandeln.
Das Gerät ist teuer und invasiv, und es sollte in ordentlichen randomisierten klinischen Studien untersucht werden. Angesichts der hohen Sterberate beim kardiogenen Schock würde es nicht viele Patienten brauchen, um in einer randomisiert-kontrollierten Studie herauszufinden, ob es effektiv ist.
Stattdessen offeriert Abiomed – und die AHA akzeptiert das – für eine Late-Breaking-Session eine Studie namens Door to Unload. In dieser 2-armigen Machbarkeitsstudie mit 50 Patienten wird eine Gruppe an die Pumpe angeschlossen und der Operateur wartet 30 Minuten, bis er die Arterie öffnet. Die andere Gruppe wird ebenfalls an die Pumpe angeschlossen und der Operateur stoppt den Infarkt sofort.
Der primäre Endpunkt ist die Infarktgröße, gemessen als prozentualer Anteil an linksventrikulärer Masse im MRT – das ist so weit weg von einem echten Endpunkt wie ein Surrogatparameter nur sein kann.
Abiomed gewinnt in dieser Studie auf jeden Fall, egal welcher Arm sich als besser erweist. Wir lernen nichts über den Nutzen des Gerätes, doch das Unternehmen erhält viel mediale Aufmerksamkeit – und Ioannidis kann sich bestätigt fühlen.
Leitlinien
Beim Kongress werden aktualisierte Leitlinien des American College of Cardiology (ACC) und der AHA präsentiert – zum einen zur körperlichen Aktivität und zum anderen zur Behandlung hoher Cholesterinspiegel. Die Empfehlungen zur körperlichen Bewegung werden wahrscheinlich kaum Beachtung finden, aber es sind ellenlange Debatten über den Einsatz von Tabletten und kostspieligen Spritzen zu erwarten.
Die Diskussion in den sozialen Medien wird die Debatte über die Cholesterin-Leitlinie noch anheizen, aber das ist nur gut, denn das wird die Leute zwingen, nachzudenken und sich dann die Originaldaten anzusehen.
Es macht wenig Sinn, an den Bedenken vorbeizureden, die hinsichtlich aller Leitlinien, in denen es um Industrieprodukte geht, herrschen. Ich war an der Erstellung von Konsensus-Stellungsnahmen beteiligt und war beeindruckt, wie sehr dort versucht wird, unvoreingenommen zu sein. Einmal haben wir mehrere Minuten darüber gestritten, ob in einem Satz besser „ein“ oder „der“ verwendet werden sollte. Aber man muss gar nicht von böser Absicht ausgehen, um die von Ioannidis in einem kürzlich in Circulation-CV Quality and Outcomes erschienenen Editorial aufgeworfenen Konflikte und Probleme nachvollziehen zu können. Darin forderte er medizinische Fachgesellschaften auf, keine Leitlinien mehr zu verfassen.
Unter anderem bereitet es ihm Sorgen, dass Fachgesellschaften von der Industrie finanziell unterstützt werden – und die Industrie hat ganz sicher ein Interesse daran, wie PCSK9-Hemmer in dem Dokument abschneiden. Ein Teil der Diskussion, der ich besonders interessiert lauschen werde, ist, wie die Autoren mit diesem Problem umgegangen sind.
Hier herrscht eine gespaltene Interessenlage: Auf der einen Seite müssen ACC und AHA weiterhin ihre starke politische Position vertreten, dass alle Menschen ein Recht auf bezahlbare Gesundheitsfürsorge haben. Auf der anderen Seite geht es darum Empfehlungen zum Einsatz von PCSK9-Hemmern herauszugeben, die – selbst zu reduzierten Preisen – von fragwürdigem Zusatznutzen sind.
Dieser Artikel wurde von Nadine Eckert aus www.medscape.com übersetzt und adaptiert.
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Diesen Artikel so zitieren: Neue Leitlinien und ein möglicher Umbruch in der Elektrophysiologie: Die wichtigsten Themen des US-Kardiologen-Kongresses - Medscape - 9. Nov 2018.
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