Weltweit atmen rund 1,8 Milliarden Kinder jeden Tag Luft ein, die so schmutzig ist, dass sie die Entwicklung und die Gesundheit der Kinder gefährdet. Das geht aus einem Bericht der WHO hervor, den die Organisation anlässlich der ersten globalen WHO-Konferenz zum Thema Luftverschmutzung und Gesundheit vorgestellt hat. Die Tagung fand vom 30. Oktober bis zum 1. November 2018 in Genf statt.
93% aller Kinder unter 15 Jahren leben dem WHO-Report zufolge in Gebieten mit Luftverschmutzung. Allein im Jahr 2016 sind demnach rund 600.000 Kinder durch verschmutze Luft gestorben – vor allem infolge akuter Infektionen der unteren Atemwege. Die Luftverschmutzung sei eine der größten Bedrohungen für die Gesundheit von Kindern überhaupt, konstatiert die WHO: Jeder 10. Todesfall bei den Unter-5-Jährigen gehe auf sie zurück.
Gefährdet sind insbesondere, aber nicht nur, Kinder aus Ländern mit geringem und mittlerem Einkommen. Dort seien 98% der Unter-5-Jährigen Feinstaubmengen der Kategorie PM2,5 ausgesetzt, die oberhalb der von der WHO festgelegten Grenzwerte lägen, berichtet die Behörde. Doch selbst in Ländern mit hohem Einkommen seien es 52% der Kinder unter 5 Jahren.
Der als PM2,5 bezeichnete Feinstaub enthält mindestens zur Hälfte Teilchen mit einem Durchmesser von maximal 2,5 µm. Partikel dieser Größe sind mit bloßem Auge nicht sichtbar und können sich Umweltmedizinern zufolge in nahezu allen Organen des Körpers ablagern.
Feinstaub schädigt die Gesundheit selbst in geringen Mengen
„Natürlich sollte man solchen Hochrechnungen, wie sie die WHO jetzt vorgenommen hat, immer mit einer gewissen Vorsicht begegnen“, kommentiert Prof. Dr. Hans Drexler, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Arbeitsmedizin und Umweltmedizin (DGAUM) im Gespräch mit Medscape. Dass tatsächlich 10% aller Todesfälle bei Kindern unter 5 Jahren auf Luftschadstoffe zurückgingen, könne er sich eigentlich nur in Ländern mit starker Luftverschmutzung, etwa in China oder Pakistan, vorstellen. „Im Großen und Ganzen halte ich die Daten der WHO aber für sehr verlässlich“, sagt der Direktor des Instituts und der Poliklinik für Arbeits-, Sozial- und Umweltmedizin (IPASUM) der Universität Erlangen-Nürnberg.

Prof. Dr. Hans Drexler
Er finde es vor allem sinnvoll, dass sich die WHO bei ihren Berechnungen stets auf PM2,5 beziehe, sagt Drexler. „Von dieser Feinstaubart wissen wir recht gut, welche Effekte sie im Körper des Menschen ausübt und dass sie definitiv, selbst in geringsten Mengen, eine Gefährdung für die Gesundheit darstellt“, betont der Umweltmediziner.
Ganz anders sei es beispielsweise bei Stickoxiden, über die man hierzulande momentan so viel diskutiere: „NOX ist ein Reizgas, das nur oberhalb eines bestimmten Schwellenwerts überhaupt eine Wirkung auf den menschlichen Organismus hat.“
Schon ungeborene Kinder leiden an den Konsequenzen verschmutzter Luft
Laut WHO beginnt die Gefährdung der Kinder durch Feinstaub bereits im Mutterleib. Schwangere Frauen, die verschmutzter Luft ausgesetzt seien, hätten häufiger Frühgeburten, und ihre Kinder seien oft besonders leicht und klein. Luftschadstoffe beeinflussen der WHO zufolge die Entwicklung des Nervensystems der Kinder sowie ihre kognitiven und motorischen Fähigkeiten. Zudem könnten sie Asthma und Krebs auslösen.
Kinder, die einer hohen Luftverschmutzung ausgesetzt seien, hätten darüber hinaus in ihrem späteren Leben ein erhöhtes Risiko für chronische Leiden wie Herz-Kreislauf-Erkrankungen. „Verschmutzte Luft vergiftet Millionen von Kindern und ruiniert ihre Leben“, wird der äthiopische Generaldirektor der WHO, Dr. Tedros Adhanom Ghebreyesus, in einer Pressemitteilung der Behörde zitiert. Dies sei unverzeihlich.
Dass verschmutzte Luft sogar die Entwicklung des Nervensystems beeinträchtigt, hält der deutsche Experte Drexler für sehr nachvollziehbar. „Wir wissen, dass sich Feinstaub in fast allen Organen, auch im Gehirn, anreichert“, sagt er. Dass eine erhöhte Feinstaubbelastung der Luft allerdings neurologische Erkrankungen wie ADHS oder autistische Störungen verursachen kann, wie es der WHO-Bericht nahelegt, hält Drexler zumindest zum jetzigen Zeitpunkt eher für spekulativ.
Für gesichert hält der Umweltmediziner, dass Feinstaub das Risiko unter anderem von Atemwegserkrankungen, Herz-Kreislauf-Leiden, Diabetes und Frühgeburten erhöht.
Kinder nehmen mehr Luftschadstoffe als Erwachsene auf
Dass Kinder durch verschmutzte Luft besonders gefährdet sind, ist für Drexler ebenfalls offensichtlich. Zum einen atmen Kinder, so erklärt es auch die WHO, schneller als Erwachsene und nehmen auf diese Weise mehr Luftschadstoffe auf.
Zum anderen halten sie sich allein aufgrund ihrer geringen Größe viel mehr in Bodennähe auf als Erwachsene, wo die meisten Luftschadstoffe – da sie schwerer als Luft sind – besonders hohe Konzentrationen aufweisen.
All das geschieht in einer Phase, in der sich die Körper und Gehirne der Kinder noch entwickeln. „Die Evidenz ist klar: Verschmutzte Luft hat eine verheerende Wirkung auf die Gesundheit von Kindern“, heißt es in dem WHO-Bericht.
Laut WHO ist die Luft in vielen Ländern nicht nur unter freiem Himmel, sondern auch im eigenen Zuhause stark verschmutzt. Offene Flammen, die zum Heizen, Kochen oder zu Beleuchtungszwecken genutzt werden, sorgen demnach in Innenräumen für eine hohe Feinstaubbelastung. Dies sei vor allem für kleine Kinder fatal, da sie besonders viel Zeit zu Hause verbrächten, warnt die WHO. Insgesamt sterben ihrem Bericht zufolge weltweit jährlich 3,8 Millionen Menschen vorzeitig durch verschmutzte Luft in Wohnbereichen. Das seien mehr als durch Malaria, Tuberkulose und HIV/Aids zusammen, so die Behörde.
Gerade im häuslichen Bereich gebe es eine Reihe von Maßnahmen, um die Luft sauberer zu halten, etwa die Verwendung modernerer Brennstoffe und Technologien, betont die WHO-Expertin Dr. Maria Neira, Direktorin des Department of Public Health, Environmental and Social Determinants of Health, in der Pressemitteilung. Saubere Energien, insbesondere auch in Haushalten, sind der WHO zufolge der wichtigste Hebel für eine Trendumkehr.
Auch in Europa lässt verschmutzte Luft die Menschen vorzeitig sterben
Auch wenn die Situation in Europa besser ist als in vielen ärmeren Ländern der Welt, gilt die Luftverschmutzung auch hier nach wie vor als zu hoch. Das geht aus einem von der Europäischen Umweltagentur (European Environment Agency, kurz EEA) erstellten Bericht zur Luftqualität in Europa hervor, den die Behörde aktuell vorgestellt hat. Demnach ist Luftverschmutzung der Hauptgrund für vorzeitige Todesfälle in 41 europäischen Ländern. Trotz langsamer Fortschritte würden die Grenzwerte von Europäischer Union und der WHO vielerorts überschritten, heißt es in dem Report.
Für das Jahr 2015 hat die EEA rund 442.000 vorzeitige Todesfälle im Zusammenhang mit Luftverschmutzung ermittelt, davon etwa 391.000 in den 28 EU-Mitgliedsstaaten. Ursachen seien unter anderem Feinstaub, bodennahes Ozon und Stickstoffdioxid, so die Behörde. Sie verursachten oder verschlimmerten insbesondere Atembeschwerden, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Krebs.
Eine positive Nachricht hat die EEA allerdings auch: Schärfere Vorschriften zur Luftreinhaltung und verbesserte Standards für Fahrzeugemissionen, Industrie und Energieerzeugung hätten seit 1990 zu einer Verringerung von vorzeitigen Todesfällen um rund die Hälfte geführt.
In Europa erzeugt vor allem der Straßenverkehr viel schlechte Luft
Als hauptsächliche Quellen der Luftverschmutzung nennt der EEA-Bericht für Europa Straßenverkehr, Energieerzeugung, Landwirtschaft, Industrie und Privathaushalte. „Emissionen im Straßenverkehr sind häufig schlimmer als solche aus anderen Quellen“, erklärte der belgische EEA-Direktor Prof. Dr. Hans Bruyninckx bei der Vorstellung des Berichts. Denn diese würden in Bodennähe ausgestoßen und kämen häufig in Städten und damit nah beim Menschen vor.
Der deutsche Umweltmediziner Drexler sieht im Straßenverkehr zugleich eine Quelle von Luftschadstoffen, die sich besonders gut regulieren lässt. „Mit Tempolimits, Partikelfiltern und Maßnahmen, die für einen flüssigen Verkehr sorgen, ließe sich bereits eine Menge erreichen“, sagt er. Und zwar weitaus mehr als mit Fahrverboten für Dieselfahrzeuge in Städten: „Diese Verbote führen doch nur dazu, dass die Menschen Umwege fahren und ihre Autos so noch mehr Schadstoffe ausstoßen“, sagt er.
Auch einen Wechsel zu Benzinern hält der DGAUM-Präsident für die falsche Maßnahme: „Benziner stoßen zwar weniger Stickoxide aus, aber mindestens ebenso viel, wenn nicht noch mehr Feinstaub wie Dieselfahrzeuge.“
Medscape Nachrichten © 2018 WebMD, LLC
Diesen Artikel so zitieren: WHO-Alarm: 9 von 10 Kindern weltweit atmen täglich dreckige Luft ein – ein Zehntel der Unter-5-Jährigen stirbt daran - Medscape - 5. Nov 2018.
Kommentar