Sportmediziner und Sportkardiologen sprechen sich schon seit Jahren dafür aus, dass die „Allzweckwaffe Bewegung“ als Rezept an Patienten ausgestellt wird – bislang mit mäßigem Erfolg.
Zu wenige Ärzte verordnen Sport
„Die protektive Wirkung betrifft ein breites Erkrankungsspektrum, sodass uns hier im übertragenen Sinne eine wahre ,Polypill‘ zu Verfügung steht, die jedoch zu selten verordnet wird“, schreibt Prof. Dr. Herbert Löllgen aus Remscheid in Herzmedizin [1].
Jeder Arzt sollte „bei jedem Patientenkontakt nach der körperlichen Aktivität fragen und diese konsequent empfehlen – an Stelle des raschen Griffs zum Rezeptblock“, fordert Löllgen. Auch in Entlassungsbriefen sei so gut wie nie von Sport die Rede.
„In Fortbildungen für Ärzte erfahre ich immer wieder, dass die Wundermedizin Sport bei Patienten zu wenig eingesetzt wird“, bemerkt auch Prof. Dr. Hans-Georg Predel, Leiter des Instituts für Kreislaufforschung und Sportmedizin an der Deutschen Sporthochschule Köln, im Gespräch mit Medscape. Das liege unter anderem daran, dass vielen Ärzten fundierte sportmedizinische und trainingswissenschaftliche Kenntnisse fehlten.
Im Medizinstudium werde Sportmedizin lediglich als Wahlpflichtfach angeboten. „Auf den hohen Stellenwert von Prävention hat das Ausbildungs-Curriculum der Ärzte noch nicht angemessen reagiert“, kritisiert der Sportmediziner.
Löllgen argumentiert für den hohen Stellenwert des Sports nicht nur in der Prävention und Rehabilitation, sondern auch in der Therapie. Zahlreiche therapeutische Wirkungen seien wissenschaftlich belegt – daher sei es endlich an der Zeit, dass Haus- und Klinikärzte ihren Patienten Bewegung wie ein Medikament verordneten, argumentiert der Facharzt für Innere Medizin, Kardiologie und Sportmedizin.

Prof. Dr. Hans-Georg Predel
„Übereinstimmend ergaben Studien an insgesamt über einer Million Probanden, dass durch körperliche Aktivität Gesamtmorbidität und -mortalität im Vergleich zu Inaktiven um 30 bis 40 Prozent gesenkt werden können“, schreibt Löllgen. Verantwortlich dafür seien vor allem positive Auswirkungen auf das Herz-Kreislauf-System, den Stoffwechsel, die Psyche und natürlich die primären Veränderungen in der arbeitenden Muskulatur.
Daraus resultierend werde Sport „zunehmend als Therapie bei Krankheiten mit gutem Erfolg eingesetzt“, für kardiovaskuläre, psychiatrische oder neurologische Erkrankungen sowie Diabetes, PAVK, Nieren- und Krebserkrankungen, Osteoporose oder Fatigue-Syndrom. „Daraus entwickelt sich der Ansatz körperliche Aktivität mit einem Rezept zu verordnen“, so seine Forderung an die Ärzte.
„One size fits all“ gilt nicht für Bewegung
Das habe jedoch noch nicht wirklich Einzug in den Praxisalltag gefunden, bemängelt Predel. Zwar sei es gängig Reha-Sport, nicht jedoch Therapie-Sport aufzuschreiben. „Oft ist der Gang zum Medikamenten-Schrank für die Ärzte leichter als dem Patienten Bewegung zu verordnen.“
Das liege auch daran, dass ein Rezept für ein Medikament in Sekundenschnelle ausgestellt werden könne und die Arzthelferin die Beratung zur Einnahme übernehme, während einem „Sportrezept“ ein intensives Beratungsgespräch und eventuelle Voruntersuchungen zur Sporttauglichkeit des Patienten vorausgehen müsse. Eine schnell ausgestellte „blinde Rezeptur“, etwa für mehr Bewegung im Alter bewirke dagegen wenig.
„Betrachtet man Sport wirklich als Medikament, muss die Bewegung richtig indiziert und dosiert sein.“ Das bedeute auch nicht nach dem „One size fits all“ Prinzip vorzugehen. Vielmehr müssen Intensität, Umfang, Dauer und Häufigkeit der Belastung sowie die Sportart richtig individuell je nach Fitness- und Gesundheitszustand des Patienten sowie nach seinem Trainingsziel individuell festgesetzt werden.
„Das erfordert natürlich Zeit“, sagt Predel. Hinzu käme, dass es keine Abrechnungs-Ziffer explizit für Bewegungsempfehlungen gebe, kritisiert er. Unterstützen könnte hierbei künftig das Praxispersonal. Nach einer entsprechenden Schulung könne es den Patienten erklären, was das Sportrezept beinhalte und was es bedeute, schlägt er vor.
Aktuell plant Predel mit Kollegen am Institut für Kreislaufforschung ein Modellprojekt für COPD-Patienten, bei dem eine Ersthelferin die Bewegungs-Beratung übernimmt, sowie eine Studie mit einer Hypertonie-Assistentin.
Erst Eignungsfeststellung, dann Sportverordnung
Das Positive am Sportrezept: „Es unterstreicht den Verbindlichkeitscharakter, eben wie bei einer Medikamentenverordnung“, sagt Predel. Beim Sportbund NRW oder dem Sportärztebund Nordrhein etwa erhalten Ärzte einen Vordruck für eine solche Verordnung. Dass Sport auf eine Ebene mit pharmazeutischen Präparaten gehoben werde, bedeute jedoch auch die Verpflichtung der Ärzte, die Tauglichkeit des „Medikaments Sport“ für dessen Nutzer, den Patienten also, zu überprüfen, ergänzt Predel.
Zwar sei Sport „universell einsetzbar“; jedoch müsse die Eignung des Patienten für das Medikament Sport erst sichergestellt werden. Bei gesunden Menschen „reichen hierfür die Mittel einer Allgemeinarztpraxis“, so seine Einschätzung; Anamnese, körperliche Untersuchung und Ruhe-EKG.
Bei Hypertonus und erst recht bei Rhythmusstörungen und anderen kardiovaskulären Problemen sei jedoch ein Belastungs-EKG und eine „qualitativ gute sportärztliche Untersuchung“ erforderlich, am besten mit einer mit spezieller „Sportlersoftware“ ausgestatteten EKG-Interpretation, sagt Löllgen. „Bei diesem Vorgehen ist die Empfehlung zu körperlicher Aktivität mit großer Sicherheit möglich.“
Sport nicht schädlich fürs Herz
Körperliche Aktivität sei nämlich bei Herzpatienten keinesfalls kontraindiziert, bemerken Predel und Löllgen. „Fast jeder Patient mit einer Herzerkrankung profitiert – natürlich ist alles eine Frage der Intensität, der Form der Sportart und des Überwachungsgrads“, so Predels Ansicht. Ausgenommen seien lediglich Patienten mit bestimmten, sehr seltenen angeborenen Herzerkrankungen. Hingegen sei der Nutzen von Sport für KHK-Patienten „wunderbar belegt“.
Etwas dünner gestalte sich die Evidenz bei der Herzinsuffizienz. Doch dass sich Sport positiv auf die Lebensqualität und Leistungsfähigkeit auch dieser Patienten auswirke, sei ebenfalls gut belegt. Lediglich: „Ob sich die Prognose verbessert, ist unklar.“
Jedoch bringe der Sport selbst dann, wenn er die Herzerkrankung nicht positiv beeinflusse, andere gesundheitliche Vorteile, etwa für den Stoffwechsel oder die Psyche des Patienten, sagt Predel. In der PreFord Präventionsstudie hat sein Team die präventiven Auswirkungen von Training bei Menschen mit hohem kardiovaskulärem Risiko belegt – und hierfür den „Hufeland-Preis für Prävention 2017“ gewonnen, den das Autorenkollektiv am 5. November entgegennimmt.
In seinem Artikel in Herzmedizin versucht Löllgen, die immer wieder publizierte „kardiale Schädigung durch intensiven Ausdauersport“ zu widerlegen. Es handle sich vorwiegend um Querschnittsstudien ohne den Beleg eines kausalen Zusammenhangs. Bei Profisportlern, insbesondere Radsportlern, könne „ein Medikamenten-Missbrauch zur Leistungssteigerung nicht ausgeschlossen werden“, der eine kardiale Schädigung auslösen könne, schreibt er.
Auch Rechtsherzschädigungen, die in einzelnen Studien bei Hochleistungssportlern gefunden wurden, hätten in detaillierten Analysen nicht bestätigt werden können. Zwar fand sich bei zahlreichen Analysen von Hochleistungssportlern eine Rechtsherz-Vergrößerung, jedoch keine abnorme Funktion.
Es liegen „mehrere ältere und aktuelle Studien vor, die eindeutig gegen eine kardiale Rechtsherzschädigung durch langjährigen intensiven Ausdauersport sprechen“ so Löllgens Fazit.
Auch kardiale Marker, etwa Troponin und NTproBNP, für die hohe Werte unmittelbar nach Marathons und anderen intensiven Ausdauerleistungen gemessen wurden, normalisierten sich „innerhalb von ein bis fünf Tagen, Nachuntersuchungen zeigen ebenfalls keine kardialen Funktionseinschränkungen“, so der Sportmediziner. „Als Ursache der Troponin-Erhöhung wird eine Freisetzung aus Cytosolen vermutet, ohne Zerstörung der kardialen Muskelfasern.“
„Start low, go slow“
Vorsicht sei allerdings geboten bei Freizeitsportlern, die nach längerer Pause sofort in den intensiven Ausdauersport einsteigen. Diese Gruppe habe ein „höheres Risiko für kardiale Ereignisse“. Wichtig sei deshalb insbesondere bei Wiedereinsteigern oder Nicht-Sportlern, mit niedriger Intensität zu starten und Intensität und Trainingsumfang langsam zu steigern.
Beachte man diese Grundsätze, könne Sport die Lebensdauer verlängern und die -qualität verbessern. Untersuchungen unter Spitzen- und Freizeitsportlern zeigen „generell eine deutlich längere Lebenserwartung“, sogar bei Golfern, fügt Löllgen an. Bei regelmäßigem Golfspielen „steigt die Lebenserwartung um bis zu 5 Jahre“.
Die Reduktion der Gesamt- und kardiovaskulären Mortalität „ist teilweise ausgeprägter als die durch viele Medikamente“, schreibt Löllgen. „Es wäre kontraproduktiv, wenn die Diskussion um mögliche Schäden durch Sport, die Menschen von dieser hocheffektiven Maßnahme für Prävention, Therapie und Rehabilitation abhalten würde.“
Medscape Nachrichten © 2018
Diesen Artikel so zitieren: Sport als „Polypill“: Sportmediziner geben Tipps zu Verordnung, Indikation und Dosis – selbst Herzkranke profitieren - Medscape - 2. Nov 2018.
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