Was kommt nach Metformin? Neue Consensus-Leitlinien bringen große Veränderungen

Miriam E. Tucker

Interessenkonflikte

30. Oktober 2018

Berlin – Europa und die USA sind sich einig – zumindest, was die neuen Consensus-Leitlinien für die Patienten-zentrierte Behandlung beim Typ-2-Diabetes angeht. Die gemeinsamen Empfehlungen sind jetzt beim europäischen Diabeteskongress in Berlin vorgestellt worden [1].

Die finale Version der Leitlinien ist zudem zeitgleich unter dem Titel „Management of Hyperglycaemia in Type 2 Diabetes, 2018. A Consensus Report by the American Diabetes Association (ADA) and the European Association for the Study of Diabetes (EASD)“ in den Zeitschriften der beiden Fachgesellschaften Diabetologia und Diabetes Care veröffentlicht worden [2,3] .

Eine vorläufige Version war bereits im Juni 2018 bei der 78. Jahrestagung der ADA präsentiert worden. 800 zusätzliche Kommentare sind seitdem noch in die endgültige Version eingeflossen und haben einige wenige bedeutsame Anpassungen und ein paar kleinere Veränderungen bewirkt.

Eine sehr große Veränderung im Vergleich zum ADA-EASD Consensus Report von 2015 (die sich aber seit Juni nicht verändert hat) betrifft die Selektion der Glukose-senkenden Therapie in der Zweitlinie – also nach Metformin. Diese richtet sich nun einerseits nach den Ergebnissen der großen kardiovaskulären Endpunkt-Studien und andererseits nach den gewünschten Zusatzeffekten wie Gewichtsreduktion oder die Vermeidung von Hypoglykämien. Und was die zu injizierenden Therapien angeht, haben die Glucagon-like Peptide (GLP)-1 Agonisten nun eine klare Präferenz vor Insulin erhalten.

Schwerpunkt Lebensstil-Interventionen

Ein weiterer Schwerpunkt des Dokuments sind Lebensstil-Interventionen, mit besonderer Berücksichtigung von Gewichtsreduktion und dem Management der Adipositas – einschließlich der metabolischen Chirurgie. Was die geeignete Ernährung angeht, heißt es in der neuen Leitlinie. „Es gibt keine einzelnen Quoten für Kohlenhydrate, Proteine und Fette, die für jeden Patienten mit Typ-2-Diabetes optimal wären.“ Jedoch wird betont, dass zum Beispiel eine mediterrane Ernährung normalerweise zu einer moderaten Gewichtsabnahme beiträgt und auch die glykämische Kontrolle verbessert.

 
Es gibt keine einzelnen Quoten für Kohlenhydrate, Proteine und Fette, die für jeden Patienten mit Typ-2-Diabetes optimal wären. Leitlinie
 

Und: „Wenn ein Patient eine Remission des Typ-2-Diabetes anstrebt, was vor allem innerhalb der ersten 6 Jahre nach Diagnose Aussicht auf Erfolg hat, dann schafft man dies am besten mit Evidenz-basierten Gewichts-Management-Programmen.“ Die erfolgreichsten nicht-chirurgischen Strategien zur Gewichtsreduktion seien Formula-Diäten mit einer Kalorienaufnahme von knapp über 800 kcal pro Tag über 3 bis 5 Monate – mit allmählicher Wiederaufnahme normaler Mahlzeiten danach – dies aber unter intensiver Betreuung.

Patient muss im Zentrum stehen

Insgesamt betonen die Leitlinien sehr stark, dass alle Behandlungsentscheidungen in enger Abstimmung mit dem Patienten erfolgen sollten, unterstrichen die Experten beim EASD-Kongress.

„Es geht nicht darum nur auf die Wissenschaft zu blicken ... Der Patient muss im Zentrum des Ganzen stehen. Sie benötigen Schlüssel-Charakteristika des Patienten, Sie müssen die verschiedenen Faktoren berücksichtigen, die Entscheidungsfindung mit ihm teilen, eine Übereinkunft über das Management treffen – und all das … denn die Wissenschaft liegt in den Händen der Menschen“, kommentierte der angehende EASD-Präsident Prof. Dr. David R. Matthews, Leiter des Oxford Center for Diabetes, UK. Matthews war an der Erstellung der beiden früheren EASD-ADA Consensus Dokumente beteiligt, aber nicht an der aktuellen Fassung.

 
Es ist wichtig, dass der Patient dem (Management-)Plan zustimmt und dass dieser im weiteren Leben des Patienten an die eventuell veränderten Bedingungen angepasst wird.  Prof. Dr. Chantal Mathieu
 

Tatsächlich, so bestätigte auch Prof. Dr. Chantal Mathieu, Ärztin an der Katholieke Universiteit Leuven, Belgien und Leiterin der Endokrinologie am Universitätshospital Gasthuisberg Leuven, „der Patient steht im Zentrum von alldem ... Wir müssen seine wichtigsten individuellen Charakteristika und spezifische Faktoren berücksichtigen, die dann wiederum die Auswahl der geeigneten Behandlung bestimmen – und daraus entsteht der als ‚shared decision‘ erstellte Management-Plan“.

„Es ist wichtig, dass der Patient dem Plan zustimmt und dass dieser im weiteren Leben des Patienten an die eventuell veränderten Bedingungen angepasst wird“, betonte sie.

Komorbiditäten früh bei der Therapiewahl berücksichtigen

Insgesamt bestätigen die Leitlinien aber wieder Metfomrin als Erstlinien-Therapie für die große Mehrzahl der Patienten mit Typ-2-Diabetes. Wenn ein zweites Glukose-senkendes Medikament notwendig ist, sollten bei der Entscheidung für oder gegen eine Behandlung verschiedene Aspekte berücksichtigt werden: Hat der Patient zusätzlich eine atherosklerotische kardiovaskuläre Erkrankung (ASCVD), eine chronische Nierenerkrankung und/oder eine Herzinsuffizienz?

Für diejenigen mit ASCVD werden dann ein GLP-1-Agonist oder ein Sodium-Glucose Cotransporter 2 (SGLT2)-Inhibitor empfohlen. Bei zusätzlicher Herzinsuffizienz oder renaler Erkrankung – ob mit oder ohne ASCVD – ist der SGLT2-Inhibitor die Präferenz.

Und ganz allgemein gesprochen sind natürlich diejenigen Wirkstoffe zu bevorzugen, für deren Nutzen es Belege aus großen Endpunktstudien gibt. Dazu gehören z.B. der SGLT2-Inhibitor Empagliflozin (Jardiance®, Boehringer Ingelheim), basierend auf der EMPA-REG-OUTCOME-Studie und der GLP-1-Agonist Liraglutid (Victoza®, Novo Nordisk) basierend auf der LEADER-Studie.  

Das Vorliegen einer chronischen Nierenerkrankung bereits hier zu berücksichtigen – und nicht erst weiter unten im Therapie-Algorithmus – ist z.B. eine Änderung, die erst nach der Präsentation der vorläufigen Version bei der ADA-Jahrestagung aufgrund von Kommentaren aufgenommen worden ist.  

Für Patienten ohne atherosklerotische Erkrankung, Herzinsuffizienz oder Nierenerkrankung erfolgt die Auswahl der Zweitlinien-Therapie anhand von 3 Faktoren: der Gefährdung durch Hypoglykämien, der Notwendigkeit, eine Gewichtszunahme zu verhindern bzw. eine Gewichtsabnahme zu fördern, und der Kosten.

Steht die Vermeidung von Hypoglykämien im Vordergrund, listet die Leitlinie in gleicher Gewichtung SGLT2-Inhibitoren, GLP-1-Agonisten, Dipeptidyl-Peptidase-4-Inhibitoren und auch noch Thiazolidindione (Glitazone).

Geht es eher ums Körpergewicht, werden SGLT2-Inhibitoren oder GLP-1-Agonisten empfohlen, die sich in punkto Gewichtsreduktion in Studien als effektiv erwiesen haben.

Stärker in den Fokus gerückt – im Vergleich zum ersten Entwurf – sind nun auch die Kosten. Hier werden die Sulfonylharnstoffe und Thiazolidindione in der niedrigsten effektiven Dosis als Optionen aufgeführt, gemeinsam mit einer entsprechenden Schulung um unerwünschte Nebenwirkungen der Therapie wie Hypoglykämien und Gewichtszunahme zu minimieren.

In Ergänzung zur ersten Version enthält nun das endgültige Dokument auch Hinweise für Patienten mit ASCVD oder chronischer Nierenerkrankung, die zwar ihr HbA1c-Ziel erreichen, aber keine SGLT2-Inhibitor oder GLP-1-Agonisten mit ihrem nachgewiesenen kardiovaskulären Nutzen nehmen.

In diesen Fällen bietet die Publikation 3 Optionen: (1) Wenn der Patient bereits eine duale oder Mehrfach-Therapie erhält, eines der Medikamente zu wechseln (2) das individuelle HbA1c-Ziel zu hinterfragen und eventuell zu senken und mit einem SGLT2-Inhibitor oderr GLP-1 Agonisten zusätzlich zu beginnen oder (3) den HbA1c-Wert alle 3 Monate zu messen und mit dem SGLT2-Inhibitor oder GLP-1-Agonisten zu starten, sobald er über dem Zielwert liegt.    

Andere Veränderungen im Vergleich zur vorläufigen Version beinhalten z.B. die Ergänzung um einen so genannten „Blue Box Reminder“, der daran erinnert, „klinische Trägheit“ (clinical inertia) zu vermeiden und sehr prominent über den Graphiken positioniert ist – und der Hinweis, bei Patienten mit einem Body-Mass-Index von 30 bis 35 kg/m2 die metabolische Chirurgie als Option in Betracht zu ziehen.  

Matthews kommentierte dies: „Es gilt, die Risiken auszubalancieren. Aber im Alltag muss man tatsächlich gemeinsam mit dem Patienten genau überlegen, wo im Einzelfall die Gewichtungen liegen und man eine geeignete Balance findet. Das ist eine sehr komplexe Entscheidungsfindung und wir können Sie nur ermutigen, diesen Weg zu gehen … Aber was wir als Hilfestellung anbieten können, ist dieses wundervolle Handbuch, das Sie bei diesen Entscheidungen unterstützt.“

Dieser Artikel wurde von Sonja Böhm aus www.medscape.com übersetzt und adaptiert.

 

Kommentar

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