München – Die klinische Studie ERA 223 hat in Europa zu einer Beschränkung des Radiopharmakons Radium-223-Dichlorid (Ra-223; Xofigo®, Bayer) auf die Drittlinien-Therapie beim metastasierten, kastrationsresistenten Prostatakarzinom geführt. Jetzt wurden beim Kongress der European Society for Medical Oncology (ESMO) 2018 in München die detaillierten Studienergebnisse vorgestellt [1].
Die Studie war vorzeitig entblindet worden, nachdem sich Hinweise auf eine erhöhte Frakturrate und eine Zunahme bei den Todesfällen ergeben hatten.
Die ERA 223-Studie hat Männer mit asymptomatischem oder leicht symptomatischem, metastasiertem, kastrationsresistentem Prostatakarzinom untersucht. Die höhere Frakturrate war in der Gruppe zu beobachten, die das Radiopharmakon in Kombination mit Abirateronacetat (Zytiga®, Janssen Oncology) und Prednison/Prednisolon (AAP) erhielten; die Frakturrate betrug 26%, verglichen mit 10% bei denjenigen, die nur mit AAP behandelt wurden.
Als Konsequenz dieses Befundes entschied die Europäische Arzneimittel-Agentur EMA auf Empfehlung ihres Ausschusses für Risikobewertung im Bereich der Pharmakovigilanz im Juli 2018 eine Beschränkung des Einsatzes von Ra-223 auf Patienten mit metastasiertem Prostatakarzinom mit Knochenmetastasen, die bereits 2 Therapien erhalten haben oder bei denen keine andere Therapie in Frage kommt.
Der primäre Endpunkt der Studie war die Überlebensrate ohne symptomatische skelettale Ereignisse (SSE). Er war in beiden Patientengruppen gleich. Unter der Kombinationstherapie aus Ra-223 und AAP trat er bei 49% ein, unter AAP alleine bei 47%. In der Ra-223/AAP-Gruppe lag das mittlere Überleben ohne SSE bei 22,3 Monaten, in der AAP-Gruppe bei 26,0 Monaten.
Das mittlere Gesamtüberleben betrug mit der Kombinationstherapie 30,7 Monate und mit AAP alleine 33,3 Monate, auch dieser Unterschied war nicht signifikant.
In ihrer Mitteilung, dass die Indikation für Ra-223 eingeschränkt werden soll, wies die EMA allerdings darauf hin, dass die Patienten in der Ra-223/AAP-Gruppe im Schnitt 2,6 Monate früher gestorben seien als in der AAP-Gruppe.
Außerdem merkte die EMA an, dass Ra-223 nur für den Einsatz bei symptomatischen Patienten zugelassen sei, währen die ERA 223-Studie mit Patienten durchgeführt wurde, die keine oder nur leichte Symptome zeigten.
Weshalb die Studie ihren Endpunkt nicht erreicht hat, wie die Ergebnisse von ERA 223 die Anwendung von Ra-223 in der klinischen Praxis beeinflussen werden und ob die Entscheidung der EMA, den Einsatz von Ra-223 zu beschränken, voreilig gewesen ist, waren die Themen eines aufschlussreichen Vortrages von Dr. Daniel Heinrich vom Universitätsklinikum Akershus in Lørenskog, Norwegen.
Verstehen, weshalb ERA 223 scheiterte
Heinrich erklärte, dass bei der Planung der Studie von der statistischen Annahme ausgegangen worden sei, dass das mittlere Überleben ohne SSE im Kontrollarm (AAP plus Placebo) bei 21 Monaten liegen würde. Die Kombinationstherapie mit zusätzlichem Ra-223 sollte diesen Wert um 39% verbessern – das hätte einem mittleren Überleben ohne SSE von 29,2 Monaten entsprochen.
Er vermutete, dass die erwartete Verbesserung um 39% auf den Ergebnissen der ALSYMPCA-Studie basierte. Sie hatte für Ra-223 im Vergleich zu Placebo eine Hazard Ratio von 0,7 ergeben.
Heinrich zeigte Daten der Studien COU-AA-302 und COU-AA-301, in denen AAP mit Prednison verglichen worden war, und betonte, dass in diesen Studien das mittlere Gesamtüberleben unter AAP 34,7 Monate betragen habe, und bis zu einem ersten skelettalen Ereignis habe es im Schnitt 25,0 Monate gedauert. „In dieser Hinsicht verhielt sich der Kontrollarm von ERA 223 wie erwartet“, sagte Heinrich.
Doch in der COU-AA-302-Studie hätten sich die Gesamtüberlebenskurven der AAP- und der Prednison-Gruppe 12 Monate lang überlappt, erst danach seien sie auseinandergewichen, berichtete er.
In ERA 223 sei ein Übermaß an Toxizität der Grund für das Scheitern der Studie gewesen, so Heinrich. In der Studie sei mit Ra-223 ein Medikament verwendet worden, welches auf den Knochen ziele, und dieses sei dann noch mit einem Medikament kombiniert worden, welches knochentoxisch wirke, nämlich Abirateron. Heinrich präsentierte Daten, die zeigen, dass die Knochenfrakturraten in der Gruppe mit Kombinationstherapie hoch waren und dies bereits zu einem frühen Zeitpunkt in der Studie – schon nach 6 bis 12 Monaten.
Er hob hervor, dass in allen anderen Studien mit anderen Wirkstoffen (z.B. AAP, Enzalutamid), die beim metastasierten, kastrationsresistenten Prostatakarzinom in Kombination mit einer Hormontherapie angewendet worden seien, die Frakturrate höher gewesen sei als bei den Kontrollen.
„Die Studie hatte nie eine Chance, positiv auszufallen“, sagte Heinrich. „Die Kombination aus Ra-223 und AAP kann nicht als Erstlinientherapie für Patienten mit metastasiertem, kastrationsresistentem Prostatakarzinom empfohlen werden“, ergänzte er.
Implikationen für den Einsatz von Ra-223 in der täglichen Praxis
Heinrich sprach auch darüber, welche Auswirkungen die ERA 223-Studie auf den Einsatz von Ra-223 in der täglichen klinischen Praxis haben wird. Die Ergänzung einer AAP-Therapie um die Gabe von Ra-223 sei – und das gelte übrigens auch für Enzalutamid – nie in klinischen Studien getestet worden, sagte er. ERA 223 liefere keinerlei Evidenz, um einen solchen Ansatz zu empfehlen oder davon abzuraten.
Die abgeänderte EMA-Empfehlung verweise Ra-223 als Monotherapie oder in Kombination mit einer Androgendeprivation nicht nur in die Drittlinie beim metastasierten, kastrationsresistenten Prostatakarzinom, betonte Heinrich. Die EMA habe auch eine Kontraindikation für Ra-223 in Kombination mit AAP herausgegeben und darauf hingewiesen, dass mit einer Ra-223-Therapie nicht in den 5 Tagen nach der letzten Dosis einer AAP-Therapie begonnen werden soll. In den 30 Tagen nach der letzten Dosis einer Ra-223-Therapie sollten Patienten außerdem keine systemische Therapie erhalten.
Er erinnerte an die Feststellung der EMA, dass 46% der Patienten in der ERA-223-Studie eine leichte Symptomatik gezeigt hätten und dass eine Subgruppenanalyse von Patienten mit maximal 6 Knochenmetastasen vermehrt Frakturen, aber keinen Nutzen im Vergleich zu Placebo gezeigt habe.
„Den Gesamtüberlebensvorteil, der mit Ra-223 in der ALSYMPCA-Studie zu sehen war, hat die EMA dabei völlig außer Acht gelassen. Er war es gewesen, der zu der ursprünglichen Indikation geführt hatte. Doch die EMA hat die Indikation einfach für alle Männer mit metastasiertem, kastrationsresistentem Prostatakarzinom eingeschränkt, nicht nur für eine Untergruppe von Patienten“, kritisiert Heinrich im Gespräch mit Medscape.
Er ergänzt, dass keine andere Zulassungsbehörde, auch nicht die US-amerikanische Food and Drug Administration (FDA), die ursprüngliche Indikation von Ra-223 – symptomatisches, metastasiertes, kastrationsresistentes Prostatakarzinom mit Knochenmetastasen – abgeändert habe. Für diese Indikation sei Ra-223 auf Basis der Daten der Phase-3-Studie ALSYMPCA zugelassen worden. Diese zeigte einen Vorteil beim Gesamtüberleben.
„Wir müssen Patienten, denen diese Therapieoption angeboten wird, über die Vorteile einer Behandlung mit Ra-223 informieren“, sagt er. „In der täglichen klinischen Praxis würden wir bei Patienten, wie sie in ERA 223 eingeschlossen wurden, niemals Ra-223 und AAP als Erstlinientherapie geben“, so Heinrich weiter. „Die EMA sollte die Indikationsbeschränkung überdenken und zurücknehmen“, so seine Meinung.
Heinrich wies außerdem auf das Ergebnis der ERA 223-Studie hin, dass eine niedrigere Frakturrate bei Patienten beobachtet worden sei, die antiresorptive Substanzen wie Bisphosphonate oder Denosumab erhalten hätten. Er spricht sich für den Einsatz dieser Substanzen nicht nur mit Ra-223, sondern auch mit anderen Medikamenten aus. „Was wir verändern müssen, ist die Anwendung antiresorptiver Substanzen bei unseren Patienten“, sagt Heinrich.
Details der ERA-223-Ergebnisse
Beim Kongress präsentierte Dr. Matthew Smith vom Massachusetts General Hospital Cancer Center, Boston, die Ergebnisse der ERA-223-Studie.
Die Rationale, eine Kombination aus Ra-223 und AAP zu untersuchen, basiere auf der Beobachtung, dass die beiden Medikamente keine Überschneidungen bei der Toxizität aufweisen und das Gesamt- und das progressionsfreie Überleben verbessern. Außerdem habe eine Post-hoc-Analyse einer einarmigen Open-label-Phase-3b-Studie, in der die Patienten schon früh Zugang zu der Therapie hatten, darauf hingedeutet, dass Ra-223 in Kombination mit AAP oder Enzalutamid mit einem Überlebensvorteil verknüpft sei, so Smith.
Patienten mit metastasiertem, kastrationsresistentem Prostatakarzinom, bei denen vorwiegend die Knochen betroffen und die nur leicht symptomatisch oder asymptomatisch waren, und die zuvor noch keine Chemotherapie erhalten hatten, wurden randomisiert auf eine Kombination aus Ra-223 und AAP (n = 401) oder AAP plus Placebo (n = 405).
Der primäre Endpunkt war die Zeit von der Randomisierung bis zum ersten SSE oder bis zum Tod. Als SSE galten alle Ereignisse, die eine Teletherapie zur Symptomlinderung erforderten sowie neu aufgetretene symptomatische pathologische Knochenfrakturen, Kompressionen der Wirbelsäule oder tumorbedingte orthopädisch-chirurgische Interventionen.
Die Ausgangscharakteristika der beiden Gruppen waren ähnlich. Sie waren im Schnitt 71 Jahre alt, 60% von ihnen hatten einen Gleason-Score ≥ 8 und zwei Drittel der Patienten hatten mehr als 5 Knochenmetastasen. Etwa 40% der Patienten wurden mit antiresorptiven Substanzen behandelt und der PSA-Wert der Studienteilnehmer lag bei durchschnittlich 30 mg/l.
Im November 2017 wurde die Studie entblindet, da dem Datenüberwachungskomitee in der Ra-223/AAP-Gruppe ein Übermaß an Frakturen und Todesfällen aufgefallen war. Alle Patienten hatten vor der Entblindung die durch die Studie festgelegte Behandlung mit Ra-223/Placebo abgeschlossen.
Mit einer Hazard Ratio von 1,22 (p = 0,2636) fiel das SSE-freie Überleben in beiden Gruppen gleich aus. Die Zahl der Todesfälle vor einem SSE unterschied sich ebenfalls nicht zwischen den Gruppen (74 Patienten unter Ra-223/AAP vs 73 Patienten unter AAP alleine). Bei Patienten, deren 1. Ereignis ein SSE war, waren pathologische Frakturen bei doppelt so vielen Patienten in der Kombinationstherapie-Gruppe (35 Patienten) zu beobachten als in der Gruppe mit AAP alleine (17 Patienten).
Auch das Gesamtüberleben war in den beiden Gruppen vergleichbar, die Hazard Ratio betrug 1,195 (p = 0,128). Auch alle sekundären und exploratorischen Endpunkte unterschieden sich nicht signifikant zwischen den Gruppen (z.B. progressionsfreies Überleben, Zeit bis zur Opiateinnahme wegen krebsbedingter Schmerzen, Zeit bis zur PSA-Progression).
Die Raten an Nebenwirkungen, die unter der Behandlung auftraten, sowie die Raten an schweren Nebenwirkungen, waren in den beiden Gruppen ebenfalls ähnlich – mit Ausnahme der Frakturraten. Frakturen vom Grad 3 traten bei 9% der Patienten in der Kombinationstherapie-Gruppe, aber nur bei 3% der Patienten in der AAP-Gruppe auf.
Die Frakturereignisse wurden von einem unabhängigen Prüfkomitee beurteilt. Bei Patienten, die mit der Kombinationstherapie behandelt wurden und die mehr als eine Fraktur entwickelten (76 vs 23 unter AAP alleine), war etwa die Hälfte der Frakturen osteoporotischer Natur (37 [49%] vs 4 [4%] unter AAP alleine). Pathologische Frakturen, die auf Metastasen hindeuteten, unterschieden sich nicht zwischen den Gruppen (25% vs 26% für AAP alleine). Traumatische Frakturen waren bei Patienten, die nur AAP erhielten, häufiger (57% vs 36% unter Ra-223/AAP).
Eine Subgruppenanalyse brachte zu Tage, dass Patienten, die zur Baseline antiresorptive Substanzen erhielten, eine viel niedrigere Frakturrate hatten – 15% in der Gruppe mit Kombinationstherapie und 7% in der Gruppe mit AAP-Therapie. Bei Patienten ohne antiresorptive Substanzen zur Baseline betrug die Frakturrate 37% in der Kombinationstherapie-Gruppe und 15% in der AAP-Gruppe.
Heinrichs Meinung zustimmend betonte Smith, dass basierend auf den Daten dieser Studie der Einsatz von Ra-223 in Kombination mit AAP derzeit nicht zu empfehlen sei.
Er betonte allerdings auch, dass sich die klinische Praxis ändern müsse. Patienten mit metastasierten, kastrationsresistentem Prostatakarzinom mit antiresorptiven Substanzen zu behandeln, sollte Teil des klinischen Managements sein. Nach der Entblindung wurde auch das Studienprotokoll von ERA 223 dahingehend geändert, dass in allen Armen mit einer entsprechenden Therapie begonnen werden konnte.
Dieser Artikel wurde von Nadine Eckert aus www.medscape.com übersetzt und angepasst.
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Diesen Artikel so zitieren: Prostatakrebs: War die EMA-Entscheidung richtig, Ra-223 auf die Drittlinie zu beschränken? Neue Studiendetails vom ESMO 2018 - Medscape - 30. Okt 2018.
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