Depressionen, Angst, Demenz, Zwänge oder Süchte – seelische Erkrankungen in Deutschland sind epidemisch, glaubt man dem jüngsten Dossier der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) zu psychischen Erkrankungen in Deutschland [1]. Jetzt fordert sie in einem Positionspapier ein transparentes, gestuftes Versorgungssystem, um die vielen Patienten behandeln zu können [2]. Kritiker befürchten einen Rückschritt in vergangene Zeiten. Zu Recht?
Fast 18 Millionen Menschen im Jahr seien „von einer psychischen Erkrankung betroffen“, heißt es in dem Dossier der DGPPN. Die Autoren berufen sich dabei auf Zahlen des Robert Koch-Instituts (RKI). Es handle sich dabei um so viele Menschen, wie Nordrhein-Westfalen Einwohner hat oder anders gesagt: 27,8% der erwachsenen Bevölkerung Deutschlands zwischen 19 und 79 Jahren.
Die häufigsten Störungen seien Angststörungen, affektive Störungen (oft Depressionen) und Störungen durch Alkohol- und Medikamentensucht, so die DGPPN. Jede 3. Frau und jeder 4. bis 5. Mann erkranken. Die Folgen: 45 Milliarden Euro direkte Gesundheitskosten im Jahr.
Außerdem verursachen psychische Erkrankungen 15% aller Arbeitsunfähigkeitstage pro Jahr, heißt es. 43% aller Frühberentungen erfolgen aufgrund psychischer Krankheiten, so das Dossier. Dieser Wert sei seit Anfang der 1990er-Jahre um 80% angestiegen.
Nur knapp 20% der psychisch Erkrankten begeben sich in Behandlung, davon 16% in eine ambulante und 2,3% in stationäre Behandlung, und 3,5% nehmen andere Leistungen in Anspruch, zum Beispiel Selbsthilfegruppen. So weit zu den Zahlen, die die DGPPN in ihrem Dossier präsentiert.
Aufgrund dieser Daten fordert die DGPPN in ihren Standpunkten vor allem durchsichtigere Versorgungsstrukturen in Form eines Schweregrad-gestuften regionalen Versorgungsnetzes und mehr Geld für die Weiterbildungsassistenten in den Psychiatrien, mehr Personal für die psychiatrischen Kliniken und mehr Zusammenarbeit in der Forschung.
Mit dem Zaunpfahl winken
Die enormen Zahlen überraschen. Dass sie nicht in Stein gemeißelt sind, räumt auch Prof. Dr. Arno Deister ein, Präsident der DGPPN und Chefarzt des Zentrums für Psychosoziale Medizin am Klinikum Itzehoe. Denn es handelt sich nicht um diagnostizierte Erkrankungen, die hier gezählt wurden, sondern um Selbsteinschätzungen, die das RKI erhoben hat, wie Deister gegenüber Medscape bestätigt.
So zählte für das RKI zum Beispiel bereits als psychische Erkrankung, wenn eine depressive Episode in den zurück liegenden 14 Tagen angegeben wurde. So zählte man am Schluss 18 Millionen Betroffene.
„Inwieweit diese Menschen behandlungsbedürftig sind, lässt sich allerdings nur im Einzelfall - und nicht über allgemeine Studien herausfinden“, erklärt Deister. Dazu müssten Patienten Hilfe gesucht und eine Diagnose erhalten haben. So werde auch nicht jeder Mensch mit einer psychischen Problematik gleich zum Patienten.
„Bei der Diagnosestellung geht es zum Beispiel darum, inwieweit die Alltagsfähigkeit und die Lebensqualität eingeschränkt sind“, sagt Deister, „so kann die gleiche Problematik bei dem einem Menschen zu einer behandlungsbedürftigen Krankheit führen und bei dem anderen nicht.“
Die enormen Zahlen, mit denen die DGPPN aufwartet, dürften somit dem Signaleffekt geschuldet sein. Andererseits weiß man nicht, wie viele Menschen tatsächlich erkrankt sind. Klar ist nur so viel: Es sind sehr viele. Und besonders die schwer Erkrankten unter ihnen sind nach Ansicht der DGPPN offenbar schlecht versorgt.
Kriterienkatalog gefordert
Um die Versorgungssituation zu verbessern, fordert die DGPPN „die genauere Zuordnung der personellen Ressourcen zu den Problemen der Patienten“, wie Deister sagt. Einfach mehr Psychotherapeuten ins System zu bringen, reiche nicht. Dazu müsse zunächst überhaupt der Hilfebedarf festgestellt werden. Verstimmung oder Psychose? Burnout oder Depression?
In Zukunft sollen die Patienten nach den Vorstellungen der DGPPN nach gemeinsam vereinbarten Qualitätskriterien durch das Versorgungsystem gelotst werden. „Der Kriterienkatalog legt fest, welcher Patient was erhält und von wem“, sagt Deister. „Und das muss dann auch gegenfinanziert werden.“
Damit solle für die Patienten die derzeit dschungelhaft unüberschaubare Versorgungssituation aus Therapeuten, Beratungsstellen Ärzten, Kliniken und Ambulanzen gelichtet werden. „So sind etwa Systeme denkbar, in denen der Patient unterschiedliche Angebote bekommt, aber langfristig von den gleichen Ärzten und Teams“, sagt Deister.
„Ungeheure Diskriminierung“
Gegenwind bekommt die DGPPN derzeit von der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV). Sie hat sich im September bei ihrer Vertreterversammlung per Resolution gegen gesteuerte Zuweisungen und definierte Behandlungspfade in der Behandlung psychisch Kranker ausgesprochen.
„Eine gesteuerte Zuweisung zu definierten Behandlungspfaden speziell für Menschen mit psychischen Erkrankungen stellt eine ungeheure Diskriminierung dieser Patientengruppe dar. Menschen mit einer psychischen Erkrankung wird zugemutet, dass sie längere Versorgungswege beschreiten und sich mehreren Fachleuten offenbaren müssen“, heißt es in der Resolution der KBV.
Anlass für den Protest war allerdings nicht direkt das DGPPN-Dossier samt Standpunktepapier. Sondern ein Satz im Entwurf des neuen Terminservice- und Versorgungsgesetzes (TSVG), in dem von einer „gestuften und gesteuerten Versorgung“ psychisch Kranker die Rede ist.
Offenbar wollten die KBV-Vertreter betonen, dass sie auf keinen Fall zurückwollten zum Delegationsverfahren, vermutet Deister. Bis 1999 konnten Ärzte im sogenannten Delegationsverfahren nichtärztliche Psychotherapeuten mit der Behandlung eines Patienten beauftragen. Mit dem Psychotherapeutengesetz (PsychThG) fand diese Regelung ein Ende.
Auch wenn Deister nach eigenen Angaben das Delegationsverfahren auf keinen Fall zurückhaben will, sagt er: „Eine ungeheure Diskriminierung der Patienten kann ich aus der Formulierung ‚gestufte und gesteuerte Versorgung‘ nicht herauslesen.“ Die DGPPN ist also grundsätzlich für eine gestufte Versorgung, aber „dabei brauchen wir Regeln. Die Steuerung muss sich nach dem Patientenverhalten und festen Qualitätskriterien richten“, betont Deister.
Am Ende werde der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) die umstrittene Formulierung der ‚gestuften und gesteuerten Versorgung‘ im TSVG erklären müssen, sagt Deister. Damit dürften sich auch die Aussichten für den Vorstoß der DGPPN konkretisieren und ihrem Wunsch nach Steuerung bei der Versorgung psychisch Kranker. Denn, so sagt Deister, „Steuerung ist immer, die Frage ist nur, wie.“
Medscape Nachrichten © 2018 WebMD, LLC
Diesen Artikel so zitieren: Dossier und Standpunktepapier der DGPPN: Behandlung psychisch Kranker – wieviel Versorgungssteuerung darf es sein? - Medscape - 23. Okt 2018.
Kommentar