Übergewicht und Adipositas manifestieren sich viel früher im Leben als bisher angenommen. Eine populationsbasierte Longitudinal-Studie unter der Leitung von Prof. Dr. Antje Körner vom Integrierten Forschungs- und Behandlungszentrum (IFB) AdipositasErkrankungen am Universitätsklinikum Leipzig macht jetzt das Vorschulalter (Lebensalter 2 bis 6) als ein kritisches Zeitfenster für die Entstehung einer Adipositas aus [1].
Die Studie, die im New England Journal of Medicine erschienen ist, erfasst die Daten von über 50.000 gesunden Kindern aus Deutschland. In den prospektiven Analysen zeigte sich, dass bei den meisten adipösen Jugendlichen die auffälligste Gewichtszunahme bereits im Alter zwischen 2 und 6 Jahren stattfindet. Die Konsequenz dieser Erkenntnis: Präventionsmaßnahmen müssen schon deutlich früher ansetzen als bislang üblich – am besten dann, wenn sich das Übergewicht klinisch noch gar nicht manifestiert hat, schreiben die Leipziger Wissenschaftler.
Denn ist die (frühe) Grundlage für das Übergewicht erst einmal gelegt, ändert sich im Laufe des Lebens nur noch wenig daran. Fast 90% der Kinder, die im Alter von 3 adipös sind, sind auch noch als Jugendliche übergewichtig oder adipös, zeigen die Leipziger Wissenschaftler. Und: Aus den meisten adipösen Jugendlichen werden adipöse Erwachsene.
Meilenstein der Adipositas-Forschung
„Die Arbeit des Leipziger Teams ist außerordentlich wichtig, ein Meilenstein in der Adipositas-Forschung“, sagt Prof. Dr. Martin Wabitsch, Leiter der Sektion Pädiatrische Endokrinologie und Diabetologie an der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendmedizin Ulm und ehemaliger Präsident der Deutschen Adipositas-Gesellschaft, im Gespräch mit Medscape. Das Besondere an dieser Studie sei, dass sie erstmals Zahlen über die Gewichtszunahme im Kindes- und Jugendalter liefere. „Solche Daten gibt es für Deutschland bisher nicht und auch international kaum“, sagt Wabitsch.
Eine norwegische longitudinale Kohortenstudie beispielsweise stellte erst kürzlich einen moderaten bis starken Einfluss des Body-Mass-Index (BMI) in den 2 untersuchten Altersgruppen fest – einmal zwischen 2 und 4 Jahren und zum anderen zwischen 5 bis 7 Jahren – auf die Häufigkeit von Übergewicht und Adipositas im Jugend- und jungen Erwachsenenalter. Die Daten aus Norwegen unterstützen die jetzigen Ergebnisse der Leipziger Forscher, wurden jedoch anhand einer recht kleinen Stichprobengröße (961 Kinder und Jugendliche) gewonnen.
Die Leipziger haben nun zum ersten Mal eine große Anzahl von Kindern über einen langen Zeitraum beobachtet. „Damit haben die Daten eine viel höhere Qualität als die bisherigen aus Querschnittsstudien wie etwa der KIGGS-Studie, die vom Robert Koch-Institut durchgeführt wird“, erläutert Wabitsch, der der Mitverfasser der AWMF-S2-Leitlinie zur Diagnostik, Therapie und Prävention von Übergewicht und Adipositas im Kindes- und Jugendalter ist.
Ein weiteres Qualitätsmerkmal der Studie sei die Tatsache, dass Gewicht und Größe der Kinder tatsächlich beim Arzt gemessen worden seien und nicht auf Selbstauskünften beruhten, sagt Wabitsch. „Der Befund, dass die Adipositas bereits im Alter von 2 oder 3 auftritt, ist überraschend und öffnet neue Wege, das gesellschaftlich große Problem ‚Übergewicht im Kindesalter‘ einzudämmen.“
Kritisches Zeitfenster
Um ein kritisches Zeitfenster für die Entstehung der Adipositas im Kindesalter auszumachen, erfassten die Leipziger Forscher sequentielle Daten des BMI von 51.505 Kindern während der Kindheit (0 bis 14 Jahre) und im Jugendalter (15 bis 18 Jahre). Zusätzlich bestimmten sie bei 34.196 Kindern die Dynamik der jährlichen BMI-Veränderungen, definiert als Veränderungen der „Standard Deviation Scores“ für den BMI (BMI-SDS). Die BMI-SDS-Werte sind ein Maß für die Abweichung eines individuellen BMI vom durchschnittlichen alters- und geschlechtsabhängigen BMI.
Als Ergebnis ihrer Untersuchung heben die Leipziger in ihrer Arbeit hervor:
Die Mehrzahl der Jugendlichen mit Normalgewicht hatte auch während der Kindheit ein normales Gewicht.
Von den Kindern, die im Alter von bis zu 2 Jahren übergewichtig sind, ist immerhin die Hälfte als Jugendlicher dann doch normalgewichtig, nur jeder zweite bleibt auch dann übergewichtig. Unter denjenigen, die auch als Dreijährige noch eine Adipositas haben, liegt die Wahrscheinlichkeit für Übergewicht und Adipositas im Jugendalter jedoch schon bei 90%, nur eine Minderheit erlangt im Jugendalter also ein normales Gewicht.
Innerhalb der adipösen Jugendlichen gab es die größten jährlichen Zuwächse beim BMI (berechnet als BMI-SDS) im Alter zwischen dem 2. und 6. Lebensjahr. Der aussagekräftigste Prädiktor für späteres Übergewicht oder Adipositas ist, so die Autoren, daher der BMI-SDS im Vorschulalter, zwischen 2 und 6 Jahren.
Kinder, die bereits groß und schwer geboren werden (sogenannte LGA-Säuglinge, Large for Gestational Age), haben ein um den Faktor 1,55 erhöhtes Risiko, im Kinder-/Jugendalter übergewichtig oder adipös zu werden.
Mütterliches Übergewicht ist ein unabhängiger Risikofaktor für Übergewicht im Kindesalter. Das mütterliche Übergewicht hat keinen Einfluss auf das Timing und die Dynamik der BMI-Entwicklung während der Kindheit.
„Adiposity Rebound“ als Prädiktor für späteres Übergewicht
Der Körperfettgehalt eines reifgeborenen Kindes steigt vom Zeitpunkt der Geburt bis zum Lebensalter von 6 Monaten von 10 bis 14% auf 25 bis 30%. Das entspricht einem ausgeprägten BMI-Zuwachs von 30%. Nachdem der BMI im Alter zwischen 6 und 12 Monaten seinen Höhepunkt erreicht hat, nimmt er normalerweise bis zu einem Alter zwischen 5 und 6 Jahren wieder ab, um dann langsam und stetig wieder anzusteigen. Dieser Umkehrpunkt vom Abfall zum Anstieg des BMI wird „adiposity rebound“ genannt.
„Bisher war nicht bekannt, ob das Timing und das Ausmaß des ‚adiposity rebound‘ eine Gewichtszunahme im Kindes- und Erwachsenenalter eindeutig prognostizieren kann“ kommentiert Dr. Michael Freemark von der Abteilung für Pädiatrie an der Duke University School of Medicine im US-amerikanischen Durham die aktuelle Studie [2]. Da es nun gelungen sei, ein kritisches Zeitfensters der Gewichtszunahme zu identifizieren, könnten Kinder mit einem erhöhten Risiko womöglich durch geeignete Maßnahmen effektiver vor Übergewicht geschützt werden.
Noch zu klären sei allerdings, ob die in Deutschland gewonnen Daten auch auf Kinder in anderen Ländern übertragbar seien, wo Timing und Ausmaß der BMI-Veränderungen womöglich anders ausfielen als in Deutschland, meint Freemark.
Maßnahmen gegen die globale Adipositas-Epidemie
Die Adipositas im Kindesalter nimmt inzwischen weltweit epidemische Ausmaße an. Laut Angaben der WHO waren im Jahr 2016 weltweit rund 124 Millionen Kinder und Jugendliche übergewichtig, das entspricht einem zehnfachen Anstieg in den letzten 4 Dekaden. Laut der KiGGS-Studie gelten in Deutschland 15% der Kinder und Jugendlichen zwischen 3 und 17 Jahren als übergewichtig, 5,9% als adipös. Im Vergleich zur ersten Erhebung von vor rund 10 Jahren stagniert die Übergewichts- und Adipositas-Prävalenz derzeit auf hohem Niveau.
Darüber, welche Methoden sich eignen, um die Epidemie einzudämmen, sind sich Experten im Prinzip einig. „Verhaltensprävention (Information der BürgerInnen) ist praktisch unwirksam im Vergleich zur Verhältnisprävention (‚Make the healthy choice the easy choice‘)“, schreibt Prof. Dr. Martin Smollich, Leiter der Arbeitsgruppe Pharmakonutrition am Institut für Ernährungsmedizin des Universitätsklinikums Lübeck. Maßnahmen der Verhältnisprävention umfassten neben „Zuckersteuern“ – bei gleichzeitiger Subventionierung „gesunder“ Lebensmittel – auch die gesetzliche Beschränkung der an Kinder gerichteten Werbung, so Smollich.
„Verhaltensprävention ist der falsche Weg; sie stigmatisiert die Betroffenen, ist diskriminierend und kann Depressionen auslösen“, sagt auch Wabitsch. Seine Ulmer Arbeitsgruppe betreut gerade ein BMBF-gefördertes Projekt (die „JA-Studie“), das untersucht, wie Jugendliche mit extremer Adipositas betreut werden können. Bei dieser Gruppe bringe eine Verhaltenstherapie nach dem Motto: „Weniger essen, mehr bewegen“ überhaupt nichts, sagt Wabitsch.
Stattdessen testen die Ulmer 3 verschiedene Ansätze:
eine Langzeitbetreuung mit Behandlung der Folgeerkrankungen und ggf. stationärer Langzeittherapie (Dauer 6 bis 9 Monate),
bariatrische Operationen und
Maßnahmen mit dem Ziel, das Selbstbild der Betroffenen zu verbessern, die Stigmatisierungen aufzuheben, nicht aber primär das Gewicht zu reduzieren.
Die aktuellen Leipziger Daten könnten dazu beitragen, Fälle von extremer Adipositas bei Jugendlichen zu mindern, meinen die Autoren. Eltern, Pädagogen und Ärzte sollten sensibilisiert werden für die kritische Lebensphase zwischen dem 2. und 6. Lebensjahr, und neue, auf die sehr jungen Kinder und ihre Eltern zugeschnittene Programme und Maßnahmen seien nötig, um die Adipositas und ihre Folgeschäden etwa auf den Stoffwechsel und das kardiovaskuläre System zurückzudrängen.
Medscape Nachrichten © 2018
Diesen Artikel so zitieren: Adipositas beginnt viel früher als angenommen – Langzeitstudie macht Vorschulalter als kritisches Zeitfenster aus - Medscape - 22. Okt 2018.
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