Eine unkomplizierte akute Blinddarmentzündung bei Erwachsenen muss nicht in jedem Fall operiert werden. Vielfach lässt sich die Appendizitis auch erfolgreich mit Antibiotika behandeln. Das bestätigt nun eine randomisierte kontrollierte Studie mit inzwischen 5-jähriger Beobachtungszeit, die ein Team um Dr. Paulina Salminen vom Universitätskrankenhaus Turku in Finnland im Journal of the American Medical Association (JAMA) vorgestellt hat [1].
Wie die Forscher berichten, war bei mehr als 60% der mit Antibiotika behandelten Patienten auch 5 Jahre nach der Therapie keine weitere Entzündung des Blinddarms mehr aufgetreten. Die meisten Rückfälle gab es im 1. Jahr nach der Behandlung: Etwa jeder 4. Patient erlitt in diesem Zeitraum eine weitere Appendizitis und wurde dann doch operiert. Die Studie war an 6 finnischen Krankenhäusern mit insgesamt 9 Chirurgen durchgeführt worden.
Pro Jahr werden allein in Deutschland rund 120.000 Appendektomien vorgenommen
„Die Arbeit bestätigt, dass man die unkomplizierte Appendizitis als Alternative zur Operation auch konservativ mit einer Antibiose behandeln kann, ohne dass man Major-Komplikationen erwarten muss“, kommentiert Prof. Dr. Carsten Krones, Vorstandsmitglied des Berufsverbandes der Deutschen Chirurgen (BDC), gegenüber Medscape.

Prof. Dr. Carsten Krones
„Die Ergebnisse wurden lang erwartet, nachdem die gleiche Arbeitsgruppe bereits 2015 den Einjahres-Verlauf der gleichen Patientengruppe mit ähnlichem Ergebnis publiziert hatte.“ Die Autoren hätten damit einen sehr wertvollen Beitrag zu einer differenzierteren Betrachtung des Krankheitsbildes Appendizitis geleistet, das traditionell fast immer in die Appendektomie gemündet habe, sagt Krones.
Die Blinddarmoperation gehört zu den häufigsten chirurgischen Eingriffen überhaupt. Im Jahr 2012 wurden in Deutschland Krones zufolge rund 120.000 primäre Appendektomien durchgeführt.
„Zieht man die zirka 40.000 kindlichen Patienten ab, denn diese waren von der Studie ausgeschlossen, so können 80.000 Patienten pro Jahr zukünftig auf eine differenziertere Betrachtung ihrer Blinddarmschmerzen hoffen“, sagt der Chefarzt der Klinik für Allgemein-, Viszeral- und Minimalinvasive Chirurgie im Marienhospital Aachen. Salminen und ihre Co-Autoren hätten dazu einen wichtigen Anstoß gegeben. „Dafür gebührt ihnen ein großes Lob der internationalen chirurgischen Gemeinschaft“, betont der BDC-Experte.
Frühere Ergebnisse der Studie waren kontrovers diskutiert worden
Salminen und ihre Kollegen hatten für ihre multizentrische Studie namens APPAC, kurz für Appendicitis Acuta, zwischen November 2009 und Juni 2012 insgesamt 530 Patienten (201 Frauen und 329 Männer) im Alter zwischen 18 und 60 Jahren rekrutiert, bei denen per Computertomografie eine unkomplizierte akute Blinddarmentzündung diagnostiziert worden war. Patienten mit Kotsteinen (Appendikolithen), fortgeschrittenen Entzündungsstadien, Tumorverdacht oder bestehender Schwangerschaft durften an der Studie nicht teilnehmen.
Bei 273 zufällig ausgewählten Patienten mit einem mittleren Alter von 35 Jahren wurde der Blinddarm operativ entfernt. 257 Patienten mit einem mittleren Alter von 33 Jahren wurden per Antibiotika behandelt. Sie erhielten zunächst stationär 3 Tage lang intravenös den Wirkstoff Ertapenem (1g/d), anschließend 7 Tage lang zu Hause oral Levofloxacin (500 mg/d) und Metronidazol (3x500 mg/d) verordnet.
Erste Ergebnisse der APPAC-Studie hatten die Forscher um Salminen bereits 2015 im JAMA publiziert (wie Medscape berichtete ). Diese waren allerdings zumindest hierzulande recht kontrovers diskutiert worden.
Nun liegen die Daten der Follow-up-Studie vor. Die letzte Nachuntersuchung der Probanden erfolgte im September 2017. Wie bereits bekannt war, wurde bei 70 der mit Antibiotika behandelten Patienten (27,3%) im 1. Jahr nach der Therapie doch noch eine Appendektomie vorgenommen. Bei 30 weiteren Probanden wurde der Blinddarm im Zeitraum von 1 bis 5 Jahren nach der Antibiotika-Behandlung entfernt. Somit lag die Rückfallrate nach 5 Jahren bei 39,1%.
Eine spätere Operation erhöhte nicht das Risiko von Komplikationen
Da allerdings 7 der insgesamt 100 operierten Patienten gar keine Appendizitis entwickelt hätten, was vermutlich an der Skepsis der an der Studie beteiligten Operateure gegenüber der Antibiotika-Therapie gelegen habe, müsse die Rückfallrate eigentlich mit 36% angegeben werden, kommentiert der US-Chirurg und JAMA-Redakteur Dr. Edward Livingston in einem in der gleichen Ausgabe des Fachblatts veröffentlichten Artikel [2].
Die Komplikationsrate war bei den Patienten, die operiert worden waren, laut Salminen und ihrem Team mit 24,4% deutlich höher als bei den Probanden, die man zunächst mit Antibiotika behandelt und gegebenenfalls später operiert hatte. Bei diesen Teilnehmern traten unerwünschte Zwischenfälle wie Infektionen an der OP-Naht, Narbenhernien oder Unterleibsschmerzen nur in 6,5% der Fälle auf.
Keine Unterschiede zwischen den beiden Gruppen fand sich bei der Länge des Krankenhausaufenthalts. Mit im Mittel 21 Tagen waren die Probanden der Appendektomie-Gruppe allerdings 11 Tage länger krankgeschrieben als die der Antibiotika-Gruppe.
Ihre Langzeitstudie zeige, dass die alleinige antibiotische Behandlung bei unkomplizierten akuten Blinddarmentzündungen eine geeignete Alternative zur Operation sei, lautet das Fazit von Salminen und ihren Kollegen.
Unterstützt wird diese Schlussfolgerung auch vom JAMA-Redakteur Livingston. Die Ergebnisse seien sehr ermutigend, schreibt er in seinem Kommentar. Besonders hervorzuheben sei die Tatsache, dass es bei den Probanden der Antibiotika-Gruppe, die schließlich doch noch eine Operation benötigt hätten, keinerlei größere Komplikationen wie zum Beispiel einen Blinddarmdurchbruch gegeben hätte, die man auf den verzögerten Eingriff hätte zurückführen können.
Das optimale Dosierungsschema muss noch gefunden werden
Weiteren Forschungsbedarf sieht Livingston insbesondere noch bei der Frage, welche Antibiotika wie lange und in welcher Dosierung zu geben sind. Das in der Studie angewandte Dosierungsschema sei womöglich aus Sorge um die Sicherheit der Patienten übermäßig aggressiv gewesen, schreibt er.
Künftige Studien sollten daher nicht mehr die Operation mit der Antibiotika-Therapie vergleichen, sondern lieber verschiedene Antibiotika-Therapien untereinander, schlägt Livingston vor.
„Die Ergebnisse der APPAC-Studie räumen mit der Vorstellung auf, dass eine unkomplizierte akute Blinddarmentzündung ein chirurgischer Notfall ist“, so der US-Chirurg. Zwar verlaufe eine Appendektomie in den meisten Fällen komplikationslos und man packe mit ihr das Übel an der Wurzel. Dennoch könne man Patienten mit einer diagnostizierten unkomplizierten Blinddarmentzündung, ohne ein Risiko einzugehen, eine Antibiotika-Therapie zumindest anbieten – in dem Wissen, dass bei rund 60% von ihnen eine solche Behandlung zu einem langfristigen Erfolg führe.
Hierzulande werden die meisten Appendektomien minimalinvasiv vorgenommen
„Die Studie sollte jedoch nicht dazu führen, dass ab jetzt jede Appendizitis konservativ behandelt wird“, gibt der deutsche Experte Krones zu bedenken. Denn der Erfolg der Antibiose sei in der Studiengruppe an enge Vorbedingungen in der Bildgebung geknüpft worden und die Entscheidung habe auf der Vorlage eines CT-Scans basiert. Zudem sei eine 10-tägige, sehr breite Antibiose durchgeführt worden.
„Das Argument der Autoren, dass eine solche konservative Therapie insbesondere in Gebieten mit Chirurgen-Mangel eine neue Option darstellt, kann so nicht verfangen“, sagt Krones. „Denn wo es keine Chirurgen gibt, hält man sicher auch keine CT vor und beklagt häufig auch einen Mangel an Antibiotika.“
Zudem erschwere die mit nur 7% sehr niedrige Rate an laparoskopisch operierten Patienten in der Kontrollgruppe zumindest die Übertragung auf Deutschland. „Hierzulande wurden bereits 2012 mehr als 40% der Operationen an der Appendix minimalinvasiv vorgenommen – und die Zahl ist weiter gestiegen“, so Krones.
„Der wahre Wert der Studie ist der Start in eine stadiengerechte Therapie der Appendizitis, vielleicht strukturell ähnlich zu den Therapieempfehlungen, die in die aktuellen interdisziplinären Leitlinien zur Therapie der Divertikulitis Eingang gefunden haben und einen wirklichen medizinischen Fortschritt darstellen“, sagt der Chirurg.
Noch münden die Studienergebnisse in keine Empfehlung des BDC
Ohne Zweifel seien bei der Appendizitis zunächst noch weitere Fragen zu klären: „Wie lange und in welcher Dosis muss die Antibiose erfolgen? Muss das Antibiotikum eventuell an die Region angepasst werden? Kann man wie bei der milden Divertikulitis vielleicht sogar ganz ohne Antibiose und Operation handeln? Rechtfertigt das Vermeiden der Operation die Strahlenbelastung durch eine vielleicht sogar wiederholte CT-Untersuchung? Welche Schnittführung benötigt die CT zur sicheren Stratifizierung?“, lauten die Fragen, die Krones stellt.
Risiko-Benefit-Analysen seien notwendig, bevor die Studienergebnisse vom Stadium der Machbarkeit in eine Empfehlung münden könnten, betont der BDC-Experte: „Auch damit man nicht das Einfache gegen das zu Komplizierte tauscht.“ Dabei stehe die Durchsetzbarkeit im Alltag noch gar nicht zur Debatte, sagt Krones. Limitierend seien hier eher die Verfügbarkeit des CT und das Handeln bei Kindern oder im nächtlichen Notfall.
Medscape Nachrichten © 2018 WebMD, LLC
Diesen Artikel so zitieren: Studie räumt mit der Vorstellung auf, „dass eine unkomplizierte akute Blinddarmentzündung ein chirurgischer Notfall ist“ - Medscape - 18. Okt 2018.
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