
Dr. Thomas Hillemacher
Köln – Ein Schnäpschen hier, eine Beruhigungstablette da – auch Senioren rutschen schnell in die Abhängigkeit. Doch obwohl mit der Zahl der älteren Menschen auch das Durchschnittsalter der Patienten mit Suchtproblemen steige, seien viele Ärzte auf das ältere Klientel noch schlecht vorbereitet, sagte Dr. Thomas Hillemacher, Ärztlicher Leiter der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universitätsklinik der Paracelsus Medizinischen Privatuniversität in Nürnberg, auf dem Gemeinschaftskongress der Deutschen Gesellschaft für Geriatrie (DGG) und der Deutschen Gesellschaft für Gerontologie und Geriatrie (DGGG) in Köln [1].
„Zunächst denken viele beim Thema Sucht im Alter an Alkohol- und Medikamenten-Abhängigkeit, aber auch Drogen wie Cannabis oder Heroin können bei älteren Menschen zur Sucht werden“, sagte Hillemacher. In 20 bis 30 Jahren werden sogar 70- oder 80-Jährige aufgrund ihrer PC-Sucht behandelt werden müssen, vermutet er.
In Deutschland rauchen Schätzungen der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen (DHS) zufolge mehr als 2 Millionen ältere Männer und Frauen, bis zu 400.000 haben ein Alkoholproblem, und zwischen 1,7 und 2,8 Millionen nehmen zu viele psychoaktive Medikamente wie Schlaf-, Schmerz- oder Beruhigungsmittel ein.
Ein großes Problem sei, dass man Suchtverhalten im Alter bislang zu wenig untersucht habe, da Über-65-Jährige lange nicht in entsprechende Studien einbezogen wurden und statistische Erhebungen zu Suchtfragen die ältere Generation nicht mit einbeziehen, erklärte Hillemacher. Daher beruhen viele Zahlen zu Abhängigkeitsverhalten auf Mutmaßungen und Schätzungen. Zudem sei der Unterschied zwischen Abhängigkeit, Missbrauch und riskantem Konsum nicht klar definiert.
Man unterscheide zwischen „Early Adopters“ sowie „Late Adopters“, also Menschen, die schon in jungem Alter versus solche, die erst mit 60 Jahren plus in die Abhängigkeit rutschen. Bei rund 2/3 der älteren Menschen mit Suchtproblemen handle es sich um „Early Adopters“, bei denen die genetische Komponente eine wichtige Rolle spiele.
Bei dem Drittel der „Late Adopters“, dagegen tragen eher altersbedingte Umstände zum Abhängigkeitsproblem bei, sagte Hillemacher. „Dazu zählen körperliche und seelische Schmerzen durch Verluste vielfältiger Art, etwa von Arbeit, Perspektive, körperlicher Vitalität und Gesundheit, aber auch von Freunden und Angehörigen durch Tod“, zählte Nanette Toillié, Psychologische Psychotherapeutin in Hamburg, auf.
Tabu unter Patienten und Ärzten
Während ältere Suchtkranke im stationären Bereich aufgrund häufiger Einweisungen durch Folgeerkrankungen und Unfälle überrepräsentiert seien, „sind sie in der Suchthilfe unterrepräsentiert, auch weil entsprechende Angebote eher für Betroffene jüngeren und mittleren Alters konzipiert sind“, sagte Hillemacher. „Die Versorgung von alten Menschen mit Suchtproblemen stellt aktuell eine große Schwierigkeit dar.“
„Die alten Menschen machen es den Ärzten aber oft auch nicht leicht“, sagte Stephanie Theis, Leiterin der Kooperationsberatung für Selbsthilfegruppen, Ärzte und Psychotherapeuten (KOSA) der Kassenärztlichen Vereinigung Nordrhein, im Gespräch mit Medscape.
Insbesondere ältere Patienten zeigen ihrer Erfahrung nach oft Vermeidungsreaktionen. „Ich bekomme die Rückmeldung, dass ein offener Dialog mit älteren Suchtpatienten sehr schwierig ist.“ Äußere der Hausarzt den Verdacht auf eine Abhängigkeit, sei es nicht ungewöhnlich, dass der Patient den behandelnden Arzt einfach wechsle, um die Problematik nicht weiter zu vertiefen. Eine Rolle spiele sicherlich auch, dass Abhängigkeitserkrankungen generell stigmatisiert seien, sagte Toillié. Die Meinung, es sei nur Willenssache, mit dem Konsum aufzuhören, sei weit verbreitet und entsprechend groß seien Scham und Selbstwert-Zweifel der Abhängigen, erklärte sie gegenüber Medscape. Das wiederum schwäche die Selbstwirksamkeitserwartung, die es brauche, um sich an eine Verhaltensänderung zu wagen.
Zudem leben viele Ältere zurückgezogen ohne viele soziale Kontakte, was die Sucht schwer erkennbar macht. Der Rückzug sei auch Folge des allgemein geringen Stellenwerts von älteren Menschen in der Gesellschaft, sagte Theis. „Sie werden ohnehin wenig wahrgenommen – das schließt auch ihr Suchtverhalten ein.“
Vielen Hausärzten seien zudem die Suchthilfe-Netzwerke in ihrer Region zu wenig bekannt. „Die niedergelassenen Ärzte sollen wissen, dass sie bei der Behandlung eines suchtkranken älteren Menschen nicht alleine sind, sondern dass es Unterstützung gibt“, etwa in Kooperationsstellen wie der KOSA, die Ärzte, Psychotherapeuten und Selbsthilfegruppen miteinander in Kontakt bringt.
Wichtig sei es auch, die älteren Menschen aufzufangen, bevor sie vereinsamen und in der Folge Sucht- oder depressives Verhalten entwickeln, betonte Theis, etwa durch die Einrichtung entsprechender Angebote wie Ü-60-Treffs beziehungsweise Hinweise der Ärzte auf solche Angebote für ihre Patienten.
„Gut wäre, wenn Ärzte ihre Patienten ansprechen, wenn sie eine entsprechende Vermutung haben“ sagte auch Toillié. In ihrer Praxis behandelt sie auch Über-70-Jährige und einen 80-jährigen Patienten mit Alkoholsucht und Tabletten-Abhängigkeit. „Mit gutem Erfolg. Alte Menschen sind oft sehr gewissenhaft und zuverlässig und nehmen die Informationen und Strategien, die sie in der Therapie an die Hand bekommen, auf und setzen sie um“, so ihre Erfahrung.
Toillié registriere aber auch, dass bei vielen älteren Menschen beim Arzt oder im Krankenhaus häufig lediglich die Alkohol-Folgeerkrankungen behandelt werden. „Die Abhängigkeitserkrankung wird unter Umständen nicht angesprochen und nicht diagnostiziert.“
Schnaps aus dem Medizinschrank
Alkohol stellt nach dem Rauchen das häufigste Abhängigkeitsproblem der älteren Generation dar. Der Alkoholkonsum der heutigen Generation 60 plus, sagte Hillemacher, sei höher als der der vorherigen. „Ärzte sollten im Gespräch mit den Patienten auch nach versteckten Alkoholika fragen“, riet er. Das „Allheilmittel“ „Klosterfrau Melissengeist“ etwa besteht zu 79% aus Alkohol, bei Baldrian sind es 66%, bei „Doppelherz“ 17%. „Nur die empfohlene Menge dieser Mittel ist nicht schädlich“, bemerkt der Experte.
Hartnäckig halte sich unter älteren Patienten das Gerücht, dass geringer Alkoholkonsum das Demenzrisiko senke. Das gehe vor allem zurück auf eine 2009 publizierte Studie, in der Abstinenzler ein größeres Demenzrisiko aufwiesen als Wenig-Trinker. Allerdings hatten die Wenig-Trinker in der Studie nur 0,3 Liter Wein oder Bier pro Woche zu sich genommen. Diese Menge sei so gering, dass „es sich wahrscheinlich um sehr gesundheitsbewusste Wenig-Trinker handelt. In der Gruppe, die gar keinen Alkohol zu sich nahm, vermute ich dagegen chronisch Kranke oder Menschen, die Medikamente einnehmen und daher keinen Alkohol trinken dürfen“, sagte Hillemacher.
Eine Anfang 2018 veröffentlichte retrospektive Studie in Frankreich zeigte, dass regelmäßiger Alkoholmissbrauch das Risiko für alle Demenzformen fast verdreifacht und die Gefahr einer frühen Demenz vor dem Erreichen des 65. Lebensjahrs erhöht. „Heute wissen wir, dass Alkohol nicht vor Demenz schützt.“
Im Gegenteil sei „Alkohol klarer Risikofaktor, insbesondere auch aufgrund der gefäßschädigenden Wirkung“, betonte Hillemacher. Zudem werde die Interaktion von Alkohol mit Medikamenten von Ärzten häufig nicht ausreichend berücksichtigt.
Psychopharmaka: Was tun bei Langzeitgebrauch?
Auch Medikamente, insbesondere Psychopharmaka, stellen eine große Abhängigkeitsgefahr für ältere und multimorbide Patienten dar, sagte Hillemacher. So werden Benzodiazepine und Z-Substanzen bei älteren Patienten immer häufiger eingesetzt, meist gegen Schlafstörungen. Bei Langzeitgebrauch drohe bekanntlich eine Medikamentenabhängigkeit, warnte er.
Bei einer Nutzung von mehr als 180 Tagen steige zudem Studien zufolge das Demenzrisiko. „Es fällt auf, dass der Gebrauch dieser Substanzen insbesondere bei älteren Frauen stark zunimmt“, bemerkte Hillemacher.
Bei einer weiteren Substanzklasse, den Opioiden, sei das Abhängigkeitsproblem in Deutschland noch nicht so weit fortgeschritten wie in den USA. Dort sterben rund 60.000 bis 65.000 Menschen pro Jahr infolge ihres Opiate-Konsums, der sich durch alle Altersgruppen und Bevölkerungsschichten ziehe. In Deutschland liege die Zahl der Toten bei 2.500 jährlich.
„Insbesondere Medikamentenabhängigkeit ist oftmals schwer zu erkennen, weil die alten Menschen oft viele Medikamente verschrieben bekommen, auch Schmerz-, Schlaf- oder Beruhigungsmittel“, sagte Psychotherapeutin Toillié.
Dass bei Langzeitgebrauch massive Probleme und Abhängigkeiten entstehen können, werde erst einmal beiseitegeschoben, auch, weil der Leidensdruck hoch sei. Dabei berge die langfristige Einnahme erhebliches Suchtpotenzial und das Risiko von Folgeerkrankungen. Gleichzeitig kann der Körper die Substanzen mit zunehmendem Alter schwerer verarbeiten.“
Altenheim für Alt-Junkies?
Problematisch und tabuisiert sei auch der Umgang mit Suchtverhalten im Pflegeheim. „Es wäre bestimmt nicht von Nachteil, wenn auch Pflegekräfte in dieser Hinsicht ausgebildet würden und Handwerkszeug an die Hand bekämen, wann und wie sie die Betroffenen am besten ansprechen und motivieren können, sich die Erkrankung einzugestehen und sich adäquate Hilfe zu suchen“, sagte Toillié.
Diskutiert werde auch, wie mit älteren Drogenabhängigen im Altersheim umzugehen sei, sagte Hillemacher. „Sollte man Methadon im Altenheim geben oder Pflegeheime nur für Drogenabhängige bauen?“, so lauten einige Fragen, die angesichts der wachsenden Zahl pflegebedürftiger „Junkies“ gestellt werden.
In der Substitution jedenfalls sei ein demografischer Wandel deutlich ersichtlich, bemerkte er, mit einer deutlichen Zunahme der Über-50-Jährigen. Tauchte 2001 noch niemand in diesem Alter in der Statistik für Substitution auf, lag der Anteil der 51- bis 60-Jährigen 2007 schon bei rund 4% und 2016 bei fast 30%. Die 61- bis 70-Jährigen machen aktuell rund 7% der Substituierten aus. Substitution sei in jedem Fall erstrebenswert, auch im Pflegeheim, wenn sie gewünscht sei, sagte Toillié. „Sie beseitigt das Problem der illegalisierten Beschaffung und schafft oft überhaupt erst Raum für andere Themen.“
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Diesen Artikel so zitieren: Sucht kennt keine Altersgrenzen: Abhängigkeiten oft tabuisiert – aber es gibt Unterstützung - Medscape - 10. Okt 2018.
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