Berlin – Ein zentral wirksames Medikament, das beim Abnehmen hilft und eine große kardiovaskuläre Endpunkt-Studie über 3 Jahre Laufzeit vorweisen kann, die von der renommierten TIMI-Forschungsgruppe an der Harvard University in Boston, USA, durchgeführt worden ist, das ist ziemlich einzigartig. Der Appetitzügler Lorcaserin, ein Serotonin-Agonisten, der in den USA schon seit 2012 unter dem Namen Belviq® vom Unternehmen Eisai vertrieben wird, hat diesen Sicherheitscheck kürzlich bestanden.
Waren beim europäischen Kardiologenkongress, wie berichtet, die primären kardiovaskulären Ergebnisse der CAMELLIA-Studie vorgestellt – und im New England Journal of Medicine hochrangig publiziert worden –, präsentierten die Forscher um Prof. Dr. Erin A. Bohula von der TIMI-Forschungsgruppe nun beim europäischen Diabetes-Kongress in Berlin die metabolischen Daten [1].
Inwiefern kann Lorcaserin Prädiabetiker davor bewahren, zum Diabetiker zu werden – oder falls sie bereits Diabetiker sind, ihre Blutzuckereinstellung verbessern oder sogar zur Regression der Erkrankung beitragen?. Diese Analyse wurde ebenfalls zeitgleich, diesmal im Lancet, veröffentlich und auch kommentiert [2,3].
Eher „moderate“ Gewichtsreduktion von 3 Kilogramm
In Kürze: Unter den 12.000 Teilnehmern von CAMELLIA, die im Schnitt einen Body-Mass-Index von 35 hatten, waren 57% Typ-2-Diabetiker, 33% Prädiabetiker und nur 10% waren normoglykämisch. In allen Gruppen nahmen diejenigen, die Lorcaserin erhielten, signifikant stärker ab.
Mit 2,6 kg (bei den Diabetikern) bis 3,3 kg (bei denjenigen mit Normoglykämie) fiel die Differenz zur Placebo-Gruppe nach einem Jahr jedoch nur moderat aus. Das Ausgangsgewicht lag in den Gruppen im Median zwischen 105 kg (Diabetiker) und 96 kg (Menschen mit Normoglykämie). Die Studie umfasste insgesamt einen Follow-up-Zeitraum von 3,3 Jahren – der signifikante Unterschied blieb bis zum Studienende erhalten.
Im HbA1c-Wert machte sich die verstärkte Gewichtsreduktion mit einer Abnahme um im Schnitt 0,3%punkte bei den Diabetikern und 0,1%punkte in den anderen beiden Gruppen bemerkbar. Die entsprechende Besserung im Nüchtern-Blutzuckerwert betrug 7 mg/dl bzw. 2 m/dl.
Es wurden unter Lorcaserin um relativ 19% weniger Neu-Diagnosen eines Typ-2-Diabetes gestellt, berichtete Prof. Dr. Benjamin M. Scirica, ebenfalls von der TIMI-Studiengruppe. Absolut war über den gesamten Studienzeitraum bei 172 Lorcaserin- und 204 Placebo-Patienten neu ein Diabetes diagnostiziert worden (8,5 vs 10,3%; p = 0,038). Remissionen waren bei den Diabetikern nur im Trend unter Lorcaserin häufiger zu verzeichnen.
Die mit dem Appetitzügler Behandelten benötigten auch seltener eine Intensivierung der antidiabetischen Therapie, konnten diese sogar öfter in der Dosis reduzieren bzw. ganz absetzen. Allerdings: Das Hypoglykämie-Risiko war unter Lorcaserin höher. Seltene, aber sehr schwere Hypoglykämien mit Komplikationen waren mit 0,7 vs 0,2% (12 vs 4 Ereignisse; p = 0,054) häufiger.
Im Gegenzug konstatierte Scirica einen positiven Effekt der Appetitzügler-Gabe auf mikrovaskuläre Komplikationen. In diesem Endpunkt waren persistierende Mikroalbuminurien, als Indikator für Nierenschädigungen, Retinopathien und Neuropathien zusammengefasst. Signifikant seltener waren jedoch nur die Mikroalbuminurien unter Lorcaserin.
Sciricas Fazit: „Zusammengenommen bestärken diese Daten die Annahme, dass eine moderate anhaltende Gewichtsreduktion die kardiometabolische Gesundheit bessert und stützen die Rolle von Lorcaserin als Ergänzung zu Lebensstil-Änderungen, um das Körpergewicht und die kardiometabole Gesundheit langfristig aufrechtzuerhalten.“
„So what?“ – es gibt viele Alternativen
Diese etwas umständliche Formulierung des TIMI-Forschers konterte Prof. Dr. Naveed Sattar aus Glasgow, Schottland, als unabhängiger Kommentator der Studie in Berlin mit einem knappen „So, what?“ Allerdings räumte der renommierte Wissenschaftler für kardiovaskuläre und metabolische Medizin ein, die Studie, die übrigens die FDA als Sicherheitscheck verlangt hatte, sei gut, sogar „brilliant“ gemacht.
Lorcaserin hat im Vergleich zu früheren Appetitzüglern eine größere Bindungsaffinität zum 5-Hydroxy-Tryptamin-2C-Rezeptor und aktiviert diesen stärker als die 2A- und 2B-Subtypen. Damit, so die Annahme, ist das Risiko für Nebenwirkungen, etwa Valvulopathien und pulmonale Hypertonie, geringer. Und tatsächlich hat sich der Wirkstoff über die 3 Jahre Studiendauer als sicher erwiesen, kardiovaskuläre Ereignisse waren nicht vermehrt aufgetreten (allerdings auch nicht verhindert worden), es fand sich kein erhöhtes Risiko für Lungenhochdruck oder für Suizide.
Die zusätzliche Gewichtsabnahme mit dem Appetitzügler sei aber mit im Schnitt 2,8 kg nach einem Jahr eher „bescheiden“, bemängelte Sattar. Der beobachtete – ebenfalls geringe – Effekt auf den systolischen Blutdruck (weniger als 1 mmHg Unterschied) und das LDL-Cholesterin, aber auch die beobachtete HbA1c-Senkung und der Unterschied bei den Diabetes-Neudiagnosen seien im Rahmen dessen, was mit einer solchen Gewichtsreduktion zu erwarten sei.
„Das ist alles schön zu sehen, aber nicht ganz unerwartet“, sagte Sattar. Was ihm fehle seien Daten zur Lebensqualität. Zudem verwies er auf die zahlreichen möglichen Alternativen: Auch für die Teilnahme an Weight-Watchers-Programmen, für Abnehm-Drinks oder auch für das altbewährte Metformin gebe es ähnliche Wirksamkeitsdaten. Und: Es fehlten Belege, dass Lorcaserin über den Effekt auf die Gewichtsabnahme hinaus noch zusätzliche positive Wirkungen entfalte.
Sattar erinnerte z.B. an das US-amerikanische DPP-Programm, in dem mit Lebensstil-Maßnahmen die Diabetes-Progression sogar um 58% abgenommen hatte – und unter Metformin immerhin noch um 31%. Außerdem seien Lebensstiländerungen kostengünstiger und besserten nachgewiesen die Lebensqualität. Metformin senke zudem möglicherweise auch das Herzinfarktrisiko. Der Fett-Resorptionshemmer Orlistat sei ebenfalls billiger, was die Gewichtsabnahme angeht ebenso wirksam und auch sicher.
Für übergewichtige und adipöse Typ-2-Diabetiker sind zudem die GLP-1-Agonisten und die SGLT2-Hemmer eine mögliche Alternative. Besonders mit den GLP-1-Rezeptoragonisten lassen sich zudem zum Teil deutlich ausgeprägtere Gewichtsabnahmen erzielen, argumentierte er weiter. Für beide – SGLT2-Hemmer und GLP-1-RA – gebe es zudem Endpunkt-Studien, die eine Senkung des kardiovaskulären Risikos durch die Therapie belegen, betonte Sattar. Als letzte Alternative nannte er schließlich noch die bariatrische Chirurgie.
Kein Platz in der vorderen Reihe für Lorcaserin
„Wo also ist der Platz für Lorcaserin?“, so seine Frage. „Down the line“ – wenn andere Strategien versagt haben – vielleicht auch in Kombination mit diesen, sieht er ein mögliches Einsatzgebiet des Appetitzüglers – und dies auch nur dann, „wenn die Sicherheitsdaten so gut bleiben und wir noch einen Nachweis bekommen, dass sich auch die Lebensqualität bessert“.
Ähnlich sehen es die die Kommentatoren im Lancet, Dr. Xabier Unamuno und Dr. Gema Fruhbeck von der Universität Navarra, Pamplona, Spanien. Auch ihnen fehlen noch Daten zur Lebensqualität und psychologischen Aspekten – und es sei wichtig, direkte Vergleichsstudien unterschiedlicher Abnehm-Strategien in solchen Populationen vorzunehmen, betonen sie.
Bis dahin sei ein möglicher praktischer Ansatz vielleicht, es bei Patienten, die dies möchten, über einige Monate mit einer solchen Appetitzügler-Therapie zu probieren – und dann nur diejenigen langfristig weiterzubehandeln, die auch gute Responder sind, schlagen sie vor. Immerhin 14% der Teilnehmer in der CAMELLIA-TIMI-61-Studie schafften es unter Lorcaserin mindestens 10% ihres Ausgangsgewichtes abzunehmen.
Eventuell, so spekulieren die spanischen Wissenschaftler aufgrund des Ansatzpunktes des Wirkstoffes, sei Lorcaserin für Patienten besonders hilfreich, die aufgrund ungestillter emotionaler Bedürfnisse zu viel essen. In Europa ist Lorcaserin übrigens nicht zugelassen. Eisai hatte den entsprechenden Antrag bei der EMA im Jahr 2013 zurückgezogen, nachdem die Behörde signalisiert hatte, dass aufgrund der eingereichten Daten wohl kein positiver Bescheid zu erwarten sei.
Medscape Nachrichten © 2018 WebMD, LLC
Diesen Artikel so zitieren: CAMELLIA-Studie: Abnehm-Pille Lorcaserin hat auch günstige Effekte auf Diabetes-Parameter - Medscape - 9. Okt 2018.
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