Berlin – Ein neues Versorgungskonzept – die „Psychosomatische Sprechstunde im Betrieb“ (PSiB) – soll helfen, Arbeitnehmern schneller psychosomatisch-psychotherapeutische Hilfe anzubieten und damit dem Problem oft langen Wartens auf einen ambulanten Behandlungsplatz in Praxis oder Klinik zu begegnen.

Prof. Dr. Harald Gündel
„Dabei haben Arbeitnehmer die Möglichkeit, am Arbeitsplatz selbst oder unmittelbar vom Arbeitsplatz aus vermittelt eine Beratung und Kurzzeittherapie durch Psychotherapeuten zu erhalten“, erläuterte Prof. Dr. Harald Gündel, Ärztlicher Direktor der Universitätsklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie des Universitätsklinikums Ulm, auf einer Pressekonferenz der Deutschen Gesellschaft für Psychosomatische Medizin (DGPM) in Berlin [1].
Starker Anstieg psychisch bedingter Krankschreibungen
Krankschreibungen infolge psychischer Erkrankungen wie z.B. Depressionen haben sich innerhalb eines Jahrzehnts mehr als verdoppelt. So gab es laut einer aktuellen Stellungnahme der Bundesregierung zu psychischen Belastungen in der Arbeitswelt im Jahr 2007 in Deutschland 47,9 Millionen Arbeitsunfähigkeitstage in der Diagnosegruppe „Psychische und Verhaltensstörungen“ – im Jahr 2016 betrug die entsprechende Zahl bereits 109,2 Millionen.
Dabei, so Gündel, tragen Arbeitsverdichtung, Restrukturierungen und erhöhte Anforderungen an Flexibilität und Mobilität zusätzlich zum Bedarf an frühen psychosomatisch-psychotherapeutischen Beratungsmöglichkeiten bei.
Frühe Intervention soll Chronifizierung vermeiden
„Frühe Interventionen sind sehr wichtig, um eine Chronifizierung und deren Folgen zu vermeiden“, betonte Gündel und bezog sich dabei auch auf eine aktuelle Statistik der Deutschen Rentenversicherung, nach der psychische Erkrankungen häufigster Grund für eine Erwerbsminderungsrente sind (über 40% Frühberentung).
Zu den Merkmalen des von Ärzten und Psychologen des Universitätsklinikums Ulm praktizierten PSiB-Versorgungskonzepts gehört eine möglichst niederschwellige, frühzeitige Differenzialdiagnostik und ggf. Differenzialindikation sowie bei Bedarf die Motivation und Unterstützung des Patienten bei weiteren Behandlungsschritten. Damit soll dessen Arbeitsfähigkeit erhalten oder Arbeitsunfähigkeit möglichst verkürzt werden. Patienten mit schon bestehenden Erkrankungen sollen in angemessene Behandlungen verwiesen werden.
Beratung und Kurzzeittherapie
Zur organisatorischen Umsetzung schließt die Universitätsklinik Ulm mit den teilnehmenden Betrieben Kooperationsverträge. Arbeitnehmer des jeweiligen Betriebs haben dann die Möglichkeit, eine Beratung und bei Bedarf Kurzzeittherapie mit einem Umfang von 2 bis 12 Sitzungen bzw. Stunden zu erhalten.
Die Finanzierung dieses – von der üblichen kassenfinanzierten ambulanten Psychotherapie unabhängigen – Angebots erfolgt durch den Betrieb oder dessen Betriebskrankenkasse. Die Sprechstunde findet entweder in den Räumen des betriebsärztlichen Dienstes statt oder – falls vom Arbeitnehmer bevorzugt – außerhalb in der Universitätsklinik.
Gündel stellte in Berlin Beobachtungsdaten der Ulmer Klinik zur Entwicklung von Arbeitsunfähigkeits (AU)-Tagen einmal vor und einmal nach Wahrnehmung des PSiB-Angebots vor: „Dabei zeigte sich ab dem 2. Jahr eine signifikante Reduktion der Arbeitsunfähigkeits-Tage.“
So ergab eine Auswertung, in der die Daten von 155 Teilnehmern einer Psychosomatischen Sprechstunde in einem mittelständischen Unternehmen anonymisiert aus Daten der Betriebskrankenkasse untersucht wurden: Die Mittelwerte von 65 Arbeitsunfähigkeits (AU)-Tagen im Jahr vor der Sprechstunde sanken auf 50 im zweiten Jahr nach dem Start der Maßnahme. Diese hohen Mittelwerte erklären sich dadurch, dass eine Reihe von Patienten schon sehr langfristig krank war.
Wissenschaftliche Evaluation steht noch aus
Für etwa ein Drittel der Teilnehmer, so Gündel, sei die Beratung und Kurzzeittherapie in der PSiB ausreichend gewesen. Aus Sicht der Nutzer werde das Angebot positiv wahrgenommen. So sei in einer weiteren Stichprobe bei 189 PSiB-Nutzern die persönliche Zufriedenheit mit der Behandlung signifikant höher gewesen als in der Regelversorgung.
Auch gebe es bereits in anderen Regionen Deutschlands vereinzelt solche Sprechstunden. Es stehe allerdings noch aus, den Nutzen des PSiB-Konzepts durch eine umfassende wissenschaftliche Evaluation zu belegen.
Anlaufstelle Hausarztpraxis
Psychisch belastete Arbeitnehmer erwähnen ihre – etwa mit dem Arbeitsumfeld in Zusammenhang stehenden – Beschwerden nicht selten auch gegenüber ihrem Hausarzt.
„Für viele Patienten ist der Hausarzt hierfür sogar die erste Anlaufstelle. Deshalb ist es wichtig, dass sich der Hausarzt zu psychischen bzw. psychosomatischen Erkrankungen fortbildet und möglichst über ein regionales Netzwerk verfügt, über das er mit niedergelassenen Psychotherapeuten bzw. Psychosomatikern, Kollegen im betriebsärztlichen Dienst sowie Akut- und Reha-Kliniken Kontakt halten kann, um die weitere Behandlung des Patienten abzustimmen“, sagte Gündel im Gespräch mit Medscape. „Möglichst sollte dann auch Information über die erfolgte ambulante oder stationäre Therapie an den Hausarzt zurückfließen. “
Hausärzte könnten dem Ulmer Klinikleiter zufolge versuchen, über die örtliche Industrie- und Handelskammer herauszufinden, in welchen Betrieben Psychosomatische Sprechstunden angeboten werden, um ihre Patienten bei Bedarf über solche Angebote zu informieren.
„Allerdings gibt es das Konzept derzeit eben nur in einigen regionalen Ansätzen. Und es wird Aufgabe für die Zukunft sein, es nach der noch vorzunehmenden wissenschaftlichen Evaluation weiter zu etablieren“, so Gündel. Ebenso sei dann zu prüfen, ob diese Sprechstunden über das Präventionsgesetz abgerechnet werden könnten.
Medscape Nachrichten © 2018
Diesen Artikel so zitieren: Neues Versorgungskonzept: Die psychosomatische Sprechstunde in der Firma – weniger Arbeitsunfähigkeits-Tage - Medscape - 1. Okt 2018.
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