Die Anwendung von Muskelrelaxanzien bei Vollnarkosen ist mit einem um 4,4% höheren Risiko für pulmonale Komplikationen assoziiert. Das berichtet Dr. Eva Kirmeier vom Klinikum rechts der Isar der Technischen Universität (TU) München zusammen mit Kollegen in The Lancet Respiratory Medicine [1].
Sie fordern, die Wirkstoffe nach Möglichkeit zu vermeiden. Basis ihrer Berechnungen waren Daten der prospektiven Beobachtungsstudie POPULAR-Studie (POst-anaesthesia PUuLmonary complications After use of muscle Relaxants).
„Ausschlaggebend für die POPULAR-Studie war unsere langjährige Forschung im Bereich neuromuskulärer Restblockaden“, sagt Prof. Dr. Manfred Blobner auf Rückfrage von Medscape. Er arbeitet ebenfalls am Klinikum rechts der Isar und ist korrespondierender Autor.
Zusammen mit seinem Team plant Blobner weitere Untersuchungen, bewertet seine Ergebnisse aber bereits jetzt als praxisrelevant: „Ärzte sollten schon heute Muskelrelaxanzien vermeiden, wenn es die OP erlaubt.“ Möglich sei, Larnyxmasken statt endotrachealer Tuben zu verwenden und damit automatisch ohne Muskelrelaxanzien zu arbeiten, falls kein erhöhtes Aspirationsrisiko bestehe.
„Außerdem rate ich, immer ein quantitatives neuromuskuläres Monitoring zu verwenden, wenn Muskelrelaxanzien nötig sind“, so Blobner weiter. Und erst ab einem Train-of-Four-Quotienten (TOF) über 0,90 sei postoperativ zu extubieren.
Studie mit knapp 23.000 Teilnehmern bestätigt Vermutungen
Muskelrelaxanzien werden bei Operationen in Allgemeinanästhesie häufig eingesetzt. „Diese Medikamente sind besonders wichtig, wenn im Bauch oder im Brustkorb operiert wird. Sie werden auch verwendet, um Stimmband-Verletzungen zu vermeiden, wenn man einen Beatmungsschlauch in die Luftröhre platziert“, erläutert Blobner. Es gebe jedoch schon länger Hinweise, dass damit postoperative pulmonale Komplikationen in Verbindung stünden. Neue Daten aus POPULAR bestätigen nun diese Vermutung.
Zwischen Juni 2014 und April 2015 sammelten Kirmeier, Blobner und Kollegen postoperative Daten von 22.803 Patienten. Alle Teilnehmer hatten sich chirurgischen Eingriffen in Vollnarkose unterzogen, mit Ausnahme von kardiologischen OPs. Nur 2,3% aller Patienten mit generell erhöhtem OP-Risiko erhielten keine Wirkstoffe dieser Klasse.
Die Verwendung von Muskelrelaxanzien war mit einer höheren Inzidenz postoperativer pulmonaler Komplikationen verbunden (1.658 von 21.694 Patienten, 7,6%, Odds Ratio: 1,86). Besonders häufig verringerte sich die Fähigkeit der Lunge, Sauerstoff aufzunehmen (5,2%). An zweiter Stelle der Komplikationen standen Infektionen der Atemwege oder der Lunge (2,5%).
Ein neuromuskuläres Monitoring (OR: 1,31) bzw. eine pharmakologische Antagonisierung der Muskelrelaxation (OR: 1,23) führten nicht zu signifikant erhöhten Risiken. Auch bei Sugammadex anstelle von Neostigmin zur Aufhebung des Effekts (OR: 1,03) bzw. bei der Extubation ab einem TOF über 0,90 (OR: 1,03) fanden sich keine Zusammenhänge mit einem erhöhten Kompliaktionsrisiko.
„Viele Eingriffe wären ohne Muskelrelaxanzien gar nicht möglich“, kommentiert Blobner die Ergebnisse. „Dennoch stellen sich durch die Ergebnisse von POPULAR neue Fragen.“ Er plant weitere Studien, um zu klären, warum Komplikationen auftreten.
Liegt es auch an Ärzten?
In einem begleitenden Editorial bewertet Dr. Lorenzo Ball von der Abteilung für Surgical Sciences and Integrated Diagnostics der Universität Genua, Italien, Muskelrelaxanzien als „einen der Eckpfeiler der Vollnarkose“, warnt aber gleichzeitig vor postoperativen Beeinträchtigungen der Lungenfunktion [2]. „Leider gab es beim Thema bislang kaum Evidenz.“
Er bewertet die Veröffentlichung als „qualitativ hochwertige, hypothesengetriebene, prospektive Studie mit anspruchsvollen Analysen“, die frühere Vermutungen bestätige. Ihm fällt zudem auf, dass die Häufigkeit postoperativer pulmonaler Komplikationen etwas geringer war als in großen Kohorten mit solchen Eingriffen, nämlich 7,6% versus 10,4%.
Ball betont die Bedeutung eines neuromuskulären Monitorings, um Arzneimittel präzise zu verabreichen. Dies sei noch zu selten der Fall, schreibt der Editorialist. Eine im Jahr 2010 durchgeführte Umfrage habe ergeben, dass viele Anästhesisten mit neuromuskulären Überwachungssystemen nicht vertraut seien, diese trotz Verfügbarkeit nicht nutzten oder Messungen nicht korrekt interpretierten.
„POPULAR liefert Hinweise, dass es auch in Europa ähnliche Schwierigkeiten gibt“, so Ball weiter. „Daher sollten die Ergebnisse vorsichtig interpretiert werden; es gibt nur wenige klinische Studien.“
Sein nächster Kritikpunkt: „Die POPULAR-Studie deutet darauf hin, dass Anästhesisten Muskelrelaxanzien auch dann verwenden, wenn dies nicht unbedingt notwendig ist.“ Kollegen stützten sich auf die Annahme, Monitoring und Antagonisierung würden in der Praxis zur Gefahrenabwehr ausreichen.
„Die POPULAR-Studie zeigt, dass hier ein Umdenken erforderlich ist.“ Trotzdem seien weitere Untersuchungen, im Idealfall randomisierte klinische Studien, erforderlich, um Muskelrelaxanzien zu bewerten.
Medscape Nachrichten © 2018
Diesen Artikel so zitieren: Cave Muskelrelaxanzien bei Narkosen – große prospektive Studie bestätigt erhöhtes Komplikationsrisiko an der Lunge - Medscape - 24. Sep 2018.
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