Eigentlich sollte die reformierte Psychotherapie-Richtlinie vom vergangenem Jahr die langen Wartelisten auf eine Richtlinien-Psychotherapie nachhaltig verkürzen. Nach Zahlen der Bundes-Psychotherapeuten-Kammer (BPtK) ist dies aber nicht gelungen.
Die neue Richtlinie hat zwar einen kurzen Weg zu den Erstgesprächen gebahnt und Akuttherapien eingeführt. Wer dann aber eine reguläre Richtlinien-Psychotherapie haben möchte, braucht nach wie vor Geduld – im Schnitt rund 20 Wochen.
Deshalb greifen viele Patienten auf Richtlinien-Therapien zurück, die in Privatpraxen gegen Kostenerstattung angeboten werden. Und bis zur Richtlinienreform genehmigten (und bezahlten) die gesetzlichen Kassen diese Alternative auch. Doch inzwischen sind sie damit sehr zurückhaltend geworden. Das hat eine Umfrage der Deutschen Psychotherapeutenvereinigung ergeben.
Die reformierte Richtlinie funktioniert nur teilweise
Tatsächlich funktionieren einige Werkzeuge der Richtlinien-Reform durchaus. So konnte die neue Psychotherapie-Sprechstunde die Wartezeit auf einen Erstkontakt mit einem Therapeuten laut der BPtK-Zahlen von 12,5 Wochen auf 5,7 Wochen drücken. „In ihrer Sprechstunde können Psychotherapeuten jetzt jeden kurzfristig beraten, der sich bei psychischen Beschwerden selbst nicht mehr zu helfen weiß“, sagt der Präsident der BPtK, Dr. Dietrich Munz.
Zeigt sich beim Erstkontakt eine psychische Krise des Patienten, kann er durch die neuen Akutbehandlungen schneller versorgt werden. Auch dies geschieht rasch. Im Schnitt 3 Wochen nachdem ein Therapeut eine Dringlichkeit festgestellt hat, erhielten die Patienten die Akutbehandlung.
Anders aber bei den Richtlinien-Therapien. Auf eine solche müssen die Patienten auch nach der Reform im Schnitt noch 19,9 Wochen warten, ergab die Studie. Im Ruhrgebiet warteten die Patienten im Schnitt sogar 29,4 Wochen. Das sind mehr als 7 Monate. In Berlin hingegen mussten sich die Patienten im Schnitt nur 13,4 Wochen gedulden – immer noch länger als ein Vierteljahr.
Kassen drehen bei Privatpraxen den Geldhahn zu
Und weil Richtlinien-Psychotherapien bei Kassentherapeuten so schwer zu bekommen sind, suchen die Patienten nach Alternativen – und fanden sie bisher in jenen Therapeuten, die in Privatpraxen Richtlinien-Therapien gegen Kostenerstattung anbieten. Die Kassen genehmigten bislang diesen Zugang zur Therapie – vorausgesetzt, es fand sich für den Patienten kein freier Kassenpsychotherapeut und der verordnende Arzt hat eine Dringlichkeitsbescheinigung ausgestellt. So sieht es der § 13 Absatz 3 SGB V vor. Aber: Seit der Richtlinienreform knausern die Kassen mit den Genehmigungen.
Das bestätigt Barbara Lubisch, die Bundesvorsitzende der Deutschen Psychotherapeuten-Vereinigung. „Eine Umfrage unter Kolleginnen und Kollegen, die in Privatpraxen niedergelassen sind, hat klar ergeben, dass die Erstattungen der Kassen zurückgehen“, sagt Lubisch zu Medscape. Die Ergebnisse der Umfrage liegen Medscape vor.
Seit dem Inkrafttreten der reformierten Psychotherapie-Richtlinie am1. April 2017 „berichten DPtV-Mitglieder mit Haupttätigkeit in einer Privatpraxis gehäuft, dass viele Krankenkassen ihren Patientinnen und Patienten den Zugang und Anspruch nach § 13 Absatz 3 SGB V über Kostenerstattung erschweren oder verwehren“, heißt es in der Zusammenfassung der Studie, in der 437 Psychotherapeutinnen und -therapeuten befragt wurden.
In Zahlen: Vor und nach dem 1. April 2017 veränderte sich die Anzahl der Anträge auf Kostenerstattung nicht. Aber während vor der Psychotherapie-Richtlinie im Schnitt 2,24 Anträge pro Monat und Praxis von den Kassen auch genehmigt wurden, sackte die Zustimmung der Kassen zur Kostenerstattung nach dem Inkrafttreten der reformierten Psychotherapie-Richtlinie auf 0,6 Anträge pro Monat.
„60% der Teilnehmer geben an, dass einige Ersatzkassen die Kostenerstattung grundsätzlich verweigern; 47% geben dies für Allgemeine Ortskrankenkassen an, 13% für Innungskrankenkassen und 11% für Betriebskrankenkassen, nur 6% verneinen die Frage“, heißt es in der Zusammenfassung der Ergebnisse. Statt die Kosten zu erstatten, verwiesen die Kassen auf die Terminservicestellen der Kassenärztlichen Vereinigungen, auf die Möglichkeit einer stationären Behandlung oder sie empfahlen, auf einen GKV-Behandlungsplatz zu warten.
Vonseiten der Kassen sind Zahlen allerdings kaum zu bekommen. So teilt die AOK Niedersachsen auf Anfrage mit, es sei nicht zu ermitteln, wie oft die Kassen per Kostenerstattung gezahlt haben, denn die„Kostenerstattung für ambulante psychotherapeutische Leistungen (werde) nicht mehr auf ein gesondertes Konto gebucht, wie Carsten Sievers, der Sprecher der Kasse, mitteilt.
Im Übrigen verweist die AOK darauf, dass ein Bemühen des Versicherten erkennbar sein müsse, eine Psychotherapie bei einem Vertragstherapeuten zu beginnen, bevor ihm eine Therapie per Kostenerstattung gewährt werde.
Gruppentherapie und längere Arbeitszeiten
Was tun? Zunächst bietet die Richtlinien-Reform ein weiteres Werkzeug an, um die Patienten schneller zu versorgen – die geförderte Gruppentherapie. Diese Therapieform wird aber trotz der Förderung sehr spärlich eingesetzt, weil 71% der Psychotherapeuten keine Abrechnungsgenehmigung für sie haben.
„Wenn man nicht schon an die Abrechnungsberechtigung gedacht hat, bevor man sich niederließ, wird es sehr schwer, sie nachträglich zu erwerben“, erklärt Lubisch. Zudem seien viele Patienten auch nicht bereit zu einer Gruppentherapie. Nur 17% der befragten Psychotherapeuten haben denn auch ihr Angebot an Gruppentherapie nach dem 1. April 2017 gesteigert.
Der GKV-Spitzenverband indessen fordert von den Psychotherapeuten, mehr zu arbeiten, um die Versorgungsengpässe zu umschiffen. „5 bis 10 Prozent der Psychotherapeuten arbeiten weniger als 8 Stunden die Woche und noch einmal 10 bis 15 Prozent weniger als 16 Stunden“, kritisiert der Spitzenverband auf Anfrage. „Für Kassenpatienten stünde eine weitaus höhere Stundenzahl an Psychotherapien zur Verfügung, wenn die Kassensitze im vollen Umfang genutzt würden.“ Der Verband stützt sich mit seiner Haltung allerdings auf Zahlen aus den Jahren 2009 und 2012.
Lubisch dagegen zitiert Zahlen der Bundespsychotherapeutenkammer. Danach kommen die Psychotherapeuten mit 27 Psychotherapie-Stunden in der Woche plus probatorischer Sitzungen und Berichten an die Gutachter oder Abrechnung auf eine durchschnittliche Wochenarbeitszeit von 46 Stunden kommen. „Daran gibt es nichts zu meckern“, sagt Lubisch. Einfach mehr Stunden anzubieten sei denn auch keine Lösung.
Reform der Bedarfsplanung gefordert
Die Forderungen des Psychotheraputen-Verbandes und der Kammer gehen viel weiter. Sie fordern eine Reform der Bedarfsplanung, um mindestens die Versorgungsdichte auf dem Land der in den Ballungsräumen anzupassen. Bisher geht die Bedarfsplanung davon aus, dass Städter häufiger Psychotherapien brauchen als die Landbevölkerung. Entsprechend unterschiedlich sind die Verhältniszahlen in Stadt und Land.
Kammer und Verband fordern deshalb eine bundeseinheitliche Verhältniszahl, und zwar zunächst von 3.300 Einwohnern pro Psychotherapeut. Dann müsste nachjustiert werden, so die Forderung, etwa anhand der Schulbildung in einer Region oder der Arbeitslosigkeit – beides Indikatoren für vermehrte psychische Erkrankungen.
Dass dazu letztlich mehr Psychotherapeuten-Sitze als die vorhandenen bundesweit rund 22.000 notwendig sind, weiß auch Lubisch. „Unsere Leistungen sind zeitgebunden, wir können sie nicht technisch erhöhen.“ Also: Wer mehr Psyhotherapie will, braucht mehr Sitze. Die letzte Bedarfsanpassung sei 1999 gewesen, sagt Lubisch. Er spricht von 2.500 zusätzlichen Sitzen, die notwendig wären. Ein Nachwuchsproblem jedenfalls habe die Psychotherapie nicht. Lubisch: „Wir könnten die zusätzlichen Sitze im Laufe eines Jahres besetzen.“
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Diesen Artikel so zitieren: Seelennot in Warteschleife: Auch mit neuer Psychotherapie-Richtlinie noch 20 Wochen Wartezeit - Medscape - 19. Sep 2018.
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