Das Geheimnis der Hochbetagten: So schafft man die 100

Julia Rommelfanger

Interessenkonflikte

13. September 2018

Prof. Dr. Daniela Jopp

Köln – Rund 16.500 Deutsche sind 100 Jahre alt – und es werden immer mehr, die ein dreistelliges Alter erreichen. Im Jahr 2050 soll es weltweit 3,4 Millionen 100-Jährige geben, so eine Prognose der Vereinten Nationen. Menschen, die „steinalt“ werden, brauchen mehr als gute Gene, sagt Prof. Dr. Daniela Jopp, Professorin für Psychologie an der Universität in Lausanne, Schweiz, die seit vielen Jahren die Lebensqualität von 100-Jährigen erforscht.

Starke Psyche hilft Hochbetagten – krank, aber zufrieden

„Die Lebenszufriedenheit dieser Menschen hängt nicht von der Zahl ihrer Krankheiten ab, sondern vor allem von einem positiven Blick auf die Zukunft, vom Zusammenleben mit anderen Menschen und davon, ob sie glauben, noch selbstständig handeln zu können“, erklärte Jopp in ihrem Vortrag zu „Erfolgreichem Altern“ auf dem Gemeinschaftskongress der Deutschen Gesellschaft für Geriatrie (DGG) und der Deutschen Gesellschaft für Gerontologie und Geriatrie (DGGG) in Köln [1]. Der Kongress hatte rund 1.000 Teilnehmer, darunter Geriater, Orthopäden, Kardiologen, Fachärzte für Innere Medizin, Hausärzte und Pfleger. „Die allermeisten Hundertjährigen sind mit ihrem Leben zufrieden oder sogar sehr zufrieden”, so Jopps Erkenntnis.

Als bisher ältester Mensch wurde die Südfranzösin Jeanne Calment 122 Jahre alt. Bevölkerungsprognosen zufolge wird rund die Hälfte der nach 2000 geborenen Kinder die 100 erreichen.

In diesem Alter haben Menschen heute im Schnitt 5 Erkrankungen, ergab die 2015 publizierte zweite Welle der Heidelberger Hundertjährigen-Studie (HD 100). In dieser Studie hatte keiner der interviewten 100-Jährigen keine chronische Erkrankung.

 
Die Lebenszufriedenheit dieser Menschen hängt nicht von der Zahl ihrer Krankheiten ab, sondern vor allem von einem positiven Blick auf die Zukunft. Prof. Dr. Daniela Jopp
 

Besonders häufig leiden ältere Menschen unter schlechtem Hören und Sehen, eingeschränkter Mobilität, muskuloskelettalen Erkrankungen, kardiovaskulären Problemen und Harnwegsbeschwerden, berichtete Jopp.

Zwar leben 100-Jährige insgesamt mehr Jahre ohne diese gesundheitlichen Probleme – bei den meisten von ihnen setzten die Erkrankungen erst ab einem Alter von 90 Jahren ein. Auch starke kognitive Einschränkungen wie eine Demenz haben nur 10 bis 40% der 100-Jährigen, so Jopps Erfahrung. So berichteten in HD 100 70% über wenige oder nur leichte kognitive Einschränkungen; 22% über starke Einschränkungen.

Bei den Hochbetagten gelte es über die Krankheitslast und gesundheitliche Ressourcen hinaus weitere Kriterien für erfolgreiches Altern zu finden, sagte Jopp. „Während wir bei Älteren unter 80 Jahren vor allem auf körperliche Faktoren wie ein geringes Risiko für Krankheiten achten, müssen wir bei sehr alten Menschen viel stärker psychologische Faktoren berücksichtigen.” 

Hör- und Seebeeinträchtigungen korrigieren

Zu einer gesunden Psyche und einem trotz hohen Alters selbstbestimmten Leben und somit zur Zufriedenheit der Menschen jenseits der 85 können auch Ärzte und Pfleger beitragen, bemerkte Jopp im Gespräch mit Medscape.

„Das beginnt damit, Heimbewohnern nicht alle Alltagstätigkeiten abzunehmen, nur, weil das oft schneller geht, als sie verschiedene Dinge – Anziehen oder Essen – zumindest teilweise selbst machen zu lassen“, erklärt sie. „Auch sehr betagte Menschen wünschen sich weiterhin Kompetenz zu erleben, indem sie bestimmte Aufgaben selbst schaffen.“

 
Wie oft wird im Altenheim überprüft, ob die Sehstärke noch stimmt oder ob ein Bewohner ein neues Hörgerät braucht? Prof. Dr. Daniela Jopp
 

Erfreuliche Entwicklung: Im Vergleich zur 1. Welle der HD 100 (Teilnehmer 1901/1902 geboren) hat die Selbständigkeit der 100-Jährigen in der 2. Welle (geboren 1911/1912) zugenommen, etwa beim Essen, Ankleiden, Telefonieren und Zubereiten von Mahlzeiten.

Zudem hat Jopp in den Interviews festgestellt, dass Hör- und Sehbeeinträchtigungen Hochbetagte stark belasten und das Risiko für Depressionen erhöhen. „Aber wie oft wird im Altenheim überprüft, ob die Sehstärke noch stimmt oder ob ein Bewohner ein neues Hörgerät braucht?“

Gleiches gelte für die Zahngesundheit betagter Menschen, der besonders im Heim nicht genügend Beachtung geschenkt werde. „Hier können Pflegende und Angehörige die Lebensqualität sehr alter Menschen wirksam verbessern, indem sie solche Beeinträchtigungen aufmerksam verfolgen und bei Bedarf die Hilfsmittel anpassen lassen.“  

Denn Sehen und Hören wiederum helfe Menschen, die das „4. Alter“ jenseits der 85 erreicht haben, am Leben aktiv teilzunehmen, was erheblich zur Zufriedenheit und damit zur psychischen Gesundheit beitrage, erklärt Jopp. Das sei eine Essenz aus den zahlreichen Gesprächen, die sie mit 100-Jährigen geführt habe.

„Ja, ich schaffe das“

Nach Jopps Erfahrung haben Menschen, die ein sehr hohes Alter erreichen, besser als andere gelernt „mit altersspezifischen Stressoren umzugehen“, erklärt die Expertin. In der 2. Welle der HD 100 gaben mehr als 80% der 100-Jährigen an, mit ihrem Leben „zufrieden“ zu sein.

 
Pfleger und Mediziner müssen daher besser aufgeklärt werden über die psychologische Gesundheit von sehr alten Menschen. Prof. Dr. Daniela Jopp
 

Ihre psychische Stärke beruhe zum einen auf Strategien zur Problembewältigung im Alter, zum anderen auf Optimismus und einer insgesamt positiven Lebenseinstellung. Ihren Lebenssinn bewerteten 100-Jährige, die im Pflegeheim lebten, schlechter als diejenigen in Privathaushalten.

Ein wichtiger Prädiktor für ein weniger sinnstiftendes Leben im Alter: sei die „gestoppte Aktivität“, erklärte Jopp; das heißt, eine geliebte Aktivität, die nicht mehr ausgeübt werden kann. „Man müsste also herausfinden, ob es möglich wäre, die Aktivität auch im Pflegeheim weiter ausüben zu können.“

In Jopps Gesprächen kam auch zutage, dass im hohen Alter oft soziale Kontakte fehlen. „Regelmäßig treten 100-Jährige im Schnitt nur mit ein bis zwei Personen in Kontakt“, berichtete sie. Das beruhe zum einen auf körperlichen Einschränkungen, die das Verlassen der eigenen 4 Wände erschwere; zum anderen seien Partner und Freunde meist schon gestorben.

Eine umso wichtigere Rolle spiele die Beziehung zu den wenigen verbliebenen Bezugspersonen wie den Kindern bei der Lebenszufriedenheit. Ergebnisse der Fordham Centenarian Study, die Jopp an der Fordham University in New York, USA, mit geleitet hatte, zeigen, dass psychologische Probleme mit einer schlechteren Zufriedenheit im Alter und soziale Probleme, etwa der fehlende Kontakt, mit Einsamkeit einhergehen.

Allerdings standen diese Probleme nicht mit einer Depression in Zusammenhang, betonte Jopp. Dass körperliche und psychische Probleme nicht zwangsläufig eine Depression nach sich ziehen, impliziere, dass eine Anpassung an geringe Ressourcen und Verluste möglich sei, sagte Jopp.

 
Zunächst sollen sehr alte Menschen nach ihren Bedürfnissen gefragt werden und nicht über sie hinweg entschieden werden. Prof. Dr. Daniela Jopp
 

„Personal im Pflegeheim klagt oft über Depressionen der Bewohner. Oft handelt es sich aber lediglich um eine depressive Verstimmung, die vorübergeht“, erklärt sie. „Pfleger und Mediziner müssen daher besser aufgeklärt werden über die psychologische Gesundheit von sehr alten Menschen.“

Umwelten für erfolgreiches Altern schaffen

Basierend auf den Erkenntnissen der zwar wenigen, aber dennoch aussagekräftigen Studien zur Zufriedenheit und zum Lebenssinn sehr alter Menschen müssten nun spezielle Interventionen entwickelt werden, die zum erfolgreichen Altern beitragen, sagte Jopp.

„Zunächst sollen sehr alte Menschen nach ihren Bedürfnissen gefragt werden und nicht über sie hinweg entschieden werden“, erklärte sie gegenüber Medscape. Autonomie- und Kompetenzeinbußen älterer Menschen gingen mittlerweile so weit, dass sie beispielsweise in den USA aufgrund der Sturzgefahr nicht mehr im Stehen und Gehen trainieren dürfen und lediglich Stuhlgymnastik machen.

Jeder einzelne, sagt sie, könne sich auf ein sehr langes Leben vorbereiten, durch das Kümmern um die Gesundheit – aktiver Lebensstil, Sport, Ernährung –, Aufbau und Pflege sozialer Beziehungen und die Entwicklung psychischer Ressourcen wie sinnhafter Aktivitäten oder Leidenschaften.

 

Kommentar

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