Dr. John M. Mandrola ist Kardiologe am Baptist Health Krankenhaus in Louisville, Kentucky, und Kardiologie-Blogger für Medscape in den USA. Hier berichtet er von den 2 aktuellen Studien zur Primärprävention mit ASS, die beim europäischen Kardiologenkongress in München vorgestellt worden sind (wie Medscape berichtete) – und die ihn zu 10 wichtigen Botschaften inspirierten:
Wenn Wissenschaftler eine wichtige Frage stellen, Menschen in einer Placebo-kontrollierten Studie randomisieren und die Resultate erfassen und darüber berichten, ist dies ein Gewinn für die Gesellschaft – unabhängig davon, wie die Ergebnisse sind. Ein Kernproblem der klinischen Forschung ist aber, dass „positive“ Studien mehr Lob ernten als Studien mit neutralem Ausgang. Das ist töricht, denn zu wissen, was nicht funktioniert, ist ebenso wichtig wie zu wissen, was funktioniert.
Lassen Sie uns über Acetylsalicylsäure (ASS) zur Prävention kardialer Ereignisse bei Menschen ohne Herzerkrankung sprechen. 2 große Studien, die beim Kongress der European Society of Cardiology (ESC) vorgestellt worden sind, liefern Informationen dazu, ob man es nehmen sollte oder nicht [1]. Angesichts dessen, dass Millionen von Menschen ASS nehmen, in der Hoffnung damit ihrer Gesundheit etwas Gutes zu tun, sind das interessante Neuigkeiten.
Die Studien
In ASCEND wurden mehr als 15.000 Patienten mittleren Alters mit Diabetes, aber ohne evidente Herzerkrankung auf 100 mg ASS oder Placebo randomisiert.
In ARRIVE wurden mehr als 12.500 Erwachsene mit (mutmaßlich) moderatem Risiko, aber keiner evidenten Herzerkrankung ebenfalls auf 100 mg ASS oder Placebo randomisiert.
In beiden Studien wurden kombinierte primäre Endpunkte aus schweren kardialen Ereignissen untersucht. Der wichtigste Sicherheitsendpunkt war das Auftreten von Blutungsereignissen.
Ich habe mit den Erstautoren gesprochen, Prof. Dr. Jane Armitage von der Oxford University, Oxford, Großbritannien (ASCEND), und Prof. Dr. J. Michael Gaziano vom Brigham and Women's Hospital, Boston, Massachusetts, USA (ARRIVE).
10 wichtige Botschaften
1. Es gibt schon Unmengen von ASS-Studien. Warum noch mehr?
Beide Erstautoren erklärten, dass es ein Wissensdefizit hinsichtlich des Einsatzes von ASS bei Patienten mit moderatem Risiko gebe. Zahlreiche Studien haben bestätigt, dass die Einnahme von ASS nach einem kardialen Ereignis oder einer Intervention Vorteile hat – als Sekundärprävention.
Mit dem Nutzen in der Primärprävention haben sich weniger Studien befasst, und die, die es getan haben, nahmen nur Patienten mit sehr niedrigem Risiko auf. ASCEND und ARRIVE hatten das Ziel herauszufinden, welche Rolle ASS in der Primärprävention bei Patienten mit höherem kardialem Risiko spielt. Das ist eine entscheidende Frage, denn mehr und mehr Patienten leben mit Risikofaktoren und moderatem Risiko.
2. Die Hauptergebnisse waren neutral
In ARRIVE zeigte die Intention-To-Treat-(ITT)-Analyse unter ASS keine Reduktion der Endpunkt-Ereignisse.
In ASCEND lautete die Schlussfolgerung der Autoren, dass ASS „keinen Nettonutzen“ aufweise, da den reduzierten kardialen Ereignissen (ca. -1,1%) mehr Blutungsereignisse (+0,9%) gegenüber standen.
3. Beide Studien bestätigten den biologischen Effekt von ASS, kardiale Ereignisse zu reduzieren
In ASCEND reduzierte ASS in einem Beobachtungszeitraum von im Schnitt 7,4 Jahren den primären Endpunkt relativ um 12% und absolut um 1,1%. Diese Ergebnisse waren statistisch signifikant.
Die ARRIVE-Studie war komplexer. Im Verlauf von im Schnitt 5 Jahren führte ASS in der ITT-Analyse nicht zu einer Verringerung kardialer Ereignisse. Gaziano sagte mir, dass es aufgrund der pragmatischen Natur von ARRIVE viele Drop-ins (Kontrollen, die anfingen, ASS zu nehmen) und Drop-outs (Teilnehmer im ASS-Arm, die aufhörten, ASS zu nehmen) gegeben habe. In der Per-Protocol-(PP)-Analyse, die nur diejenigen umfasste, die tatsächlich ASS eingenommen hatten, war die Herzinfarktrate signifikant reduziert. Und die relative Reduktion des kombinierten primären Endpunktes um 19% habe fast statistische Signifikanz erreicht (p=0,07).
4. Beide Studien bestätigten den biologischen Effekt von ASS, Blutungen zu verursachen
In ASCEND erhöhte ASS die Rate schwerer Blutungen um relativ 29% und absolut 0,9%. Die meisten dieser Ereignisse waren Blutungen im Magen-Darm-Trakt.
In ARRIVE verdoppelte ASS relativ zu Placebo die Rate an gastrointestinalen Blutungen. Absolut stieg das Risiko aber nur um 0,5% an.
5. ASS hatte keinen Einfluss auf schwerwiegende Ereignisse
In beiden Studien hatte ASS keinen Effekt auf die Gesamtmortalität und erhöhte auch nicht das Risiko für tödlich verlaufende Blutungen.
6. Die kardiale Ereignisrate in ARRIVE war niedriger als erwartet
In ARRIVE betrug die beobachtete Rate kardialer Ereignisse nur ein Drittel dessen, was erwartet worden war (550 vs. 1.488 Ereignisse). Obwohl die Autoren versucht hatten, Patienten mit höherem Risiko aufzunehmen – und nur diejenigen mit mehreren Risikofaktoren – war die Kohorte letztlich doch eine Niedrigrisiko-Gruppe.
7. Risikorechner überschätzen die Ereignisraten in westlichen Gesellschaften
Sowohl Gaziano als auch Armitage sagten mir, dass infolge säkularer Trends und durch den vermehrten Einsatz präventiver Therapien die kardialen Ereignisraten sinken. Mit säkularen Trends meinen sie gesellschaftliche Bemühungen, etwa geringere Raucherraten und die Elimination von Transfetten aus Lebensmitteln, die zu einer herzgesünderen Lebensumwelt geführt haben. Außerdem hat die Zunahme präventiver Therapien – zum Beispiel Statine und Blutdrucksenker – zu niedrigeren Raten an Herzerkrankungen beigetragen. Diese Entwicklungen stellen eine Herausforderung für laufende Studien zur Primärprävention dar, sind aber entschieden gute Nachrichten für Patienten.
Gaziano wies darauf hin, dass Risikorechner, die typische Risikofaktoren verwenden, in Gesellschaften mit steigenden Herzerkrankungsraten möglicherweise exaktere Ergebnisse lieferten, etwa in China.
8. Diabetes ist heutzutage eine andere Krankheit
In der Vergangenheit seien kardiovaskuläre Komplikationen die große Sorge bei Diabetes-Erkrankungen gewesen, sagte Armitage. Doch in ASCEND starben viel mehr Patienten an nicht vaskulären Ursachen (61 vs. 39%). Auch das sind gute Nachrichten, die wir wahrscheinlich gesellschaftlichen Trends und dem besseren Management von Risikofaktoren verdanken.
9. Es waren keine gewichtsabhängigen Effekte von ASS zu beobachten
In einer kürzlich erschienen Post-hoc-Analyse von Studien, die ASS in der Primärprävention untersucht hatten, waren niedrige ASS-Dosen (75 bis 100 mg) nur bei Patienten unter 70 kg Körpergewicht effektiv. Bei den fast 80% Männer und 50% Frauen, die mehr als 70 kg wogen, hatte es keinen Nutzen.
Weder ASCEND noch ARRIVE fanden aber einen heterogenen Therapieeffekt basierend auf dem Körpergewicht. Gaziano merkte an, dass fast 80% der ARRIVE-Teilnehmer einen BMI über 25 kg/m2 gehabt hätten. Er sagte, es seien weitere Analysen geplant, die das Gewicht berücksichtigen würden. In ASCEND ging der Trend sogar in die gegensätzliche Richtung: ASS führte bei denjenigen über 70 kg Körpergewicht zu einer niedrigeren Ereignisrate. Armitage wies aber ausdrücklich darauf hin, dass man bei der Interpretation von Post-hoc-Studien „sehr vorsichtig“ sein müsse.
10. ASS hat keinen Effekt auf die Krebsprävention
Bei der Diskussion von ASCEND zitierten die Autoren mehrere Metaanalysen, die auf eine mögliche Reduktion gastrointestinaler Krebserkrankungen unter Langzeiteinnahme von niedrig dosiertem ASS hinwiesen. Und die US Preventive Services Task Force schlussfolgert mit mittlerer Evidenz, dass ASS hinsichtlich der Reduktion der Inzidenz kolorektaler Karzinome bei 50- bis 59-Jährigen wohl einen moderaten Nettonutzen hat.
Die ASCEND-Studie aber zeigte keine Unterschiede bei der Rate gastrointestinaler Krebserkrankungen. Gaziano erzählte mir, dass sie in ARRIVE ebenfalls kein Signal gesehen hätten, das auf einen Krebsschutz hindeute.
Beide Studienautoren sagten aber, dass, falls ASS vor Krebs schützen sollte, man diese Effekte erst nach mindestens 10-jähriger Anwendung sehen würde, und das sei länger als die durchschnittliche Nachbeobachtungszeit in beiden Studien.
Fazit
Als ich Armitage fragte, was sie einem Diabetespatienten mittleren Alters empfehlen würde, antwortete sie, dass es besser wäre, konsequent an modifizierbaren Risikofaktoren (Blutdruck, Lipide, Rauchen etc.) zu arbeiten, statt ASS zu nehmen.
Gaziano wiederholte, was er und seine Koautoren schon am Schluss ihres Papers geschrieben haben: Die Einnahme von ASS bleibe eine Entscheidung, die nach sorgfältiger Diskussion zwischen Arzt und Patient getroffen werden sollte. Er selbst tendiere zu der Meinung, dass die Vermeidung eines kardialen Ereignisses das Risiko einer gastrointestinalen Blutung wert sei.
Für den Augenblick schließe ich mich eher Armitages Sichtweise an: Ein aufmerksamer Blick auf den Einsatz von ASS bei Patienten mit den untersuchten Risikoprofilen zeigt einen geringen Nutzen und einen geringen Schaden. Da die meisten Menschen keine endlosen Reserven für gesundheitsförderliche Anstrengungen haben, erscheint es mir klüger, sich wichtigeren Dingen zuzuwenden, etwa dem Erhalt eines normalen Körpergewichts, ausreichend körperlicher Bewegung, der Einnahme von Blutdruck-Medikamenten und dem Verzicht auf Zigaretten.
Dieser Artikel wurde von Nadine Eckert aus www.medscape.com übersetzt und adaptiert.
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Diesen Artikel so zitieren: Kardiovaskuläre Primärprävention mit ASS: „10 Dinge, die ich beim ESC-Kongress über ASS gelernt habe“ - Medscape - 11. Sep 2018.
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