„Besorgniserregende“ Studienergebnisse: Erneut Hinweise zu erhöhtem Alzheimer-Risiko durch Benzodiazepine

Pauline Anderson

Interessenkonflikte

10. September 2018

In einer aktuellen Studie ist erneut der Einsatz von Benzodiazepinen mit einem erhöhten Risiko für die Alzheimer-Demenz in Verbindung gebracht worden. „Obwohl der Zusammenhang zwischen Benzodiazepin-Einnahme und Alzheimer-Krankheit in dieser Studie nicht groß war, sollte die Schwelle für die Verschreibung dieser Medikamente aufgrund ihres gesamten Nebenwirkungsprofils einschließlich eines erhöhten Risikos für Stürze und Hüftfrakturen hochgehalten werden“, sagt der Hauptautor Dr. Vesa Tapiainen von der Universität von Ost-Finnland in Kuopio gegenüber Medscape. Die Studie ist in der August-Ausgabe von Acta Psychiatrica Scandinavica veröffentlicht worden [1].

„Benzodiazepine werden oft zur Behandlung von Schlafstörungen eingesetzt, aber ihre Wirksamkeit bei dieser Indikation lässt mit der Zeit nach, während die Risiken durch die Nebenwirkungen bestehen bleiben“, fügt er hinzu. „Ärzte sollten die Risiken und den Nutzen abwägen sowie eine angemessene Behandlungsdauer berücksichtigen, bevor sie diese Medikamente verschreiben“, sagt Tapiainen.

Obwohl bereits andere Studien Benzodiazepine mit einem Risiko für die Alzheimer-Demenz in Verbindung gebracht haben, glaubt Tapiainen, dass die aktuelle Untersuchung die bisher größte ist.

Weit verbreitet

9 bis 32% der älteren Patienten nehmen Benzodiazepine, berichten die Autoren. Außer bei Schlaflosigkeit werden Benzodiazepine und andere sogenannte „Z“-Medikamente wie Zolpidem und Zopiclon auch zur Behandlung von neuropsychiatrischen Symptomen der Demenz, etwa Angst, verschrieben.

Obwohl diese Medikamente unterschiedliche molekulare Strukturen aufweisen, haben sie einen ähnlichen Wirkmechanismus und ähnliche anxiolytische, antikonvulsive, hypnotische und entspannende Wirkungen. Darüber hinaus ist auch ihr Spektrum an unerwünschten Wirkungen einschließlich Schläfrigkeit ähnlich, so dass ihre Anwendung auch mit Mobilitätsproblemen sowie einem erhöhten Risiko für Stürze und daraus resultierenden Frakturen verbunden ist.

Patienten mit Alzheimer-Diagnose untersucht

Die Forscher verwendeten die MEDALZ-Kohorte (Medication use and Alzheimer disease), die alle 70.719 Finnen umfasst, bei denen zwischen 2005 und 2011 (mit CT oder MRT und Bestätigung durch einen Neurologen) eine Alzheimer-Krankheit diagnostiziert wurde. Das Alter der Patienten lag zwischen 34 und 105 Jahren. Die Studie umfasste auch 282.862 gematchte Kontrollpersonen aus landesweiten Registern.

Die Alzheimer-Diagnosen beruhten auf den Kriterien des DSM-IV sowie des National Institute of Neurological and Communicative Disorders and Stroke und der Alzheimer's Disease and Related Disorders Association, die heute unter dem Namen Alzheimer's Association firmiert.

Die Forscher haben die Angaben zum Medikamenteneinsatz dem finnischen Verordnungsregister entnommen. Sie untersuchten kurz-, mittel- und langwirkende Benzodiazepine und verwandte Medikamente. Darüber hinaus untersuchten sie die verschiedenen Zeiträume des Medikamenteneinsatzes (1 Tag bis 1 Monat; 1 Monat bis 1 Jahr; 1 bis 5 Jahre; und mehr als 5 Jahre) und den kumulativen Konsum in definierten Tagesdosen (defined daily dose, DDD) geteilt durch die Terzilen.

Um einer umgekehrten Kausalität Rechnung zu tragen, untersuchten die Forscher den Medikamenteneinsatz nur von 1995 bis 5 Jahre vor der Alzheimer-Diagnose. Sie kontrollierten für verschiedene chronische Erkrankungen wie Asthma/chronisch obstruktive Lungenerkrankungen, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Diabetes sowie für Faktoren wie Drogenmissbrauch, sozioökonomischer Status und die Einnahme von Antidepressiva und Antipsychotika. Alle Störfaktoren wurden bis 5 Jahre vor der Alzheimer-Diagnose extrahiert.

 
Obwohl der Zusammenhang zwischen Benzodiazepin-Einnahme und Alzheimer-Krankheit in dieser Studie nicht groß war, sollte die Schwelle für die Verschreibung dieser Medikamente … hochgehalten werden. Dr. Vesa Tapiainen
 

„Besorgniserregende“ Ergebnisse

Die Ergebnisse zeigten, dass im Vergleich zu Personen, die keine der relevanten Medikamente eingenommen hatten, jede Einnahme mit einem erhöhten Risiko für eine Alzheimer-Demenz verbunden war (Odds Ratio: 1,19; 95%-Konfidenzintervall: 1,17–1,21).

Nach Berücksichtigung von Komorbiditäten, sozioökonomischem Status und der Einnahme anderer psychotroper Medikamente fiel die Assoziation zwar etwas niedriger aus (OR: 1,06; 95%-KI: 1,04–1,08). Doch anhand statistischer Berechnungen schlossen die Autoren, dass der Anteil der Alzheimer-Fälle, die auf die Einnahme dieser Medikamente zurückzuführen war, immerhin 5,7% betrug.

Obwohl die Autoren einräumen, dass damit die Risikoerhöhung nur gering ist, weisen sie auch darauf hin, dass selbst ein geringer Risikoanstieg wichtig ist, weil diese Medikamente häufig bei älteren Menschen verwendet werden. „Das ist besorgniserregend“, stellen sie fest. Und dies nicht nur, weil diese Medikamente häufig von älteren Patienten eingenommen werden, sondern auch, weil sie trotz anderslautender Empfehlungen oft längerfristig in dieser Population verordnet würden.

In der Studie war das Alzheimer-Risiko am höchsten, wenn die Medikamente länger als ein Jahr eingenommen wurden. In dem vollständig adjustierten Modell ergab sich dagegen keine Risikoerhöhung für eine Einsatzdauer von unter einem Monat.

Risiko und Nutzen dieser Medikamente sollten im Praxisalltag regelmäßig neu bewertet werden, betont Tapiainen. Die Bekämpfung der Ursachen von Schlafstörungen und die Anwendung nichtmedikamentöser Therapieformen sollten „Vorrang haben“.

Die von den Autoren aufgedeckten Zusammenhänge waren für die verschiedenen Medikamente und für kurz-, mittel- und langwirkende Wirkstoffaufbereitungen ähnlich.

Rätselhafter Wert

Interessanterweise erhöhten im nicht adjustierten Modell niedrigere durchschnittliche Tagesdosen (< 0,5 DDD) vieler Medikamente das Alzheimer-Risiko stärker als höhere Dosen.

„Wir waren erstaunt über diese Beobachtung und haben sie uns genauer angeschaut“, sagt Tapiainen. „Es zeigte sich, dass diejenigen, welche die höchsten durchschnittlichen Dosen einnahmen, diese Medikamente tatsächlich für einen kürzeren Zeitraum einnahmen, sodass die aufgenommene Gesamtmenge niedriger ausfiel. Darüber hinaus können hohe und niedrige Dosen für verschiedene Indikationen verwendet worden sein.“

Die Autoren stellten fest, dass die Dosis-Wirkungs-Beziehung, die sowohl für die kumulierte als auch für die Dauereinnahme aufgestellt wurde, in der höchsten Dosierungsgruppe nach Anpassung hinsichtlich der Verwendung anderer Psychopharmaka abflachte. „Dies deutet darauf hin, dass die Assoziation teilweise auf Antidepressiva und/oder Antipsychotika oder die gleichzeitige Einnahme dieser Medikamente zurückzuführen ist“, so Tapiainen.

Auf die Frage, ob der Zusammenhang zwischen Medikamenten-Einnahme und Alzheimer-Risiko bei den ältesten Patienten der Studie ausgeprägter sei, antwortet Tapiainen, dass sie dies in der vorliegenden Studie nicht untersucht hätten. „Aber, weil wir diese Frage interessant fanden, haben wir später weitere Analysen durchgeführt und festgestellt, dass der Zusammenhang unabhängig vom Alter ähnlich ausfiel.“

 
Der Kausalitätspfeil zwischen Medikament und Demenz könnte in beide Richtungen weisen, und diese Studie … kann die Frage der Pfeilrichtung nicht klären. Prof. Dr. David S. Knopman
 

Eine Einschränkung der Studie bestand darin, dass sie keine Daten über frei verkäufliche oder im Krankenhaus eingesetzte Medikamente enthielt.

Plausibles Risiko

Prof. Dr. David S. Knopman, Professor der Neurologie an der Mayo Klinik in Rochester, USA, und ein Mitglied des Alzheimer's Association Medical and Scientific Advisory Council, bemerkt in seinem Kommentar für Medscape, dass vielen Studien zufolge Patienten nach Einnahme bestimmter psychoaktiver Medikamente, wie etwa Substanzen mit cholinomimetischen Eigenschaften, ein erhöhtes Demenzrisiko zeigten.

„Mir erscheint es daher plausibel, dass Benzodiazepine und verwandte Substanzen die gleichen Risiken bergen können“, sagt er. Er fügt jedoch hinzu, dass das in dieser Studie aufgedeckte Risiko „sehr gering“ sei.

Wenn die Autoren von einem „Alzheimer-Risiko“ sprächen, meinten sie „Demenzrisiko“, so Knopman. „Sie haben weder neuropathologische Befunde noch Hinweise aus einer Biomarker-Analyse dafür, dass die Betroffenen eine Amyloidose und eine Tauopathie hatten, also an der Alzheimer-Demenz im medizinisch-pathologischen Sinne litten.“

Tapiainen stellt allerdings fest, dass alle Alzheimer-Fälle aus der Studie über CT/MRT verifiziert waren und dass die Diagnosen von neurologischen oder geriatrischen Fachärzten bestätigt wurden.

Das Endergebnis ist für Knopman dasselbe, nämlich dass die Einnahme bestimmter psychoaktiver Medikamente das Demenzrisiko zu erhöhen scheint. Es sei jedoch unklar, ob die Medikamente vorübergehend die Kognition verschlechterten oder ob mit diesen Medikamenten Symptome behandelt würden, sagt Knopman.

„Mit anderen Worten, der Kausalitätspfeil zwischen Medikament und Demenz könnte in beide Richtungen weisen, und diese Studie, die ja Registerdaten verwendet, kann die Frage der Pfeilrichtung nicht klären“, sagt er. Eine Einsicht daraus ist laut Knopman jedoch, dass Benzodiazepine und verwandte Schlafmittel „wenn möglich“ bei älteren Menschen gemieden werden sollten.

Auch Dr. Ronald Petersen, Direktor des Alzheimer's Disease Research Center an der Mayo-Klinik, äußerte sich Medscape gegenüber zu den Ergebnissen und stimmte zu, dass es „angebracht“ sei, beim Einsatz von Benzodiazepinen zurückhaltend zu sein. Er sagte, dass er die Studie „interessant“ fände, obwohl er sich „gerne sicher wäre, dass die klinischen Diagnosen nicht durch die Verwendung von Benzodiazepinen vor der Untersuchung verfälscht wurden“.

Dieser Artikel wurde von Markus Vieten aus www.medscape.com übersetzt und adaptiert.

 

Kommentar

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