Die Diskussion der letzten Tage zur Neuorganisation der Organspende konzentrierte sich vor allem auf die mögliche Einführung der Widerspruchslösung, um die Zahl der Spender zu erhöhen. Aber: Dass es in Deutschland so wenige Organspenden gibt, liegt nicht nur an der Bevölkerung. Denn viele Patienten, die zur Organspende bereit wären, werden in den Krankenhäusern schlicht übersehen.
Und vor allem diesem Problem will Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) mit seinem Gesetz beikommen – dem Gesetz für bessere Zusammenarbeit und bessere Strukturen bei der Organspende (GZSO) –, dessen Referentenentwurf nun vorliegt [1]. Darin verpflichtet er die Krankenhäuser zum Beispiel, die Transplantationsbeauftragen des Hauses für ihre Aufgaben freizustellen (was bis dato oft unterbleibt).
Die viel zitierte Widerspruchslösung dagegen, nach der jeder Bürger ein Organspender ist, solange er nicht widerspricht, hat noch nicht den Weg in das Gesetz gefunden. Zwar unterstützt der Gesundheitsminister die Widerspruchslösung, er fordert aber zunächst eine gesellschaftliche Debatte zum Thema.
Die Spenderzahlen steigen – Strohfeuer oder Wende?
Währenddessen steigen die Spenderzahlen auch ohne neues Gesetz. Nach Angaben der Deutschen Stiftung Organtransplantation (DSO) verzeichneten die Kliniken in Deutschland im 1. Halbjahr 2018 einen Anstieg der Organspender auf 484 und damit auf 72 mehr als im Vergleichszeitraum 2017.
Die Zahl der Organe, die aus Deutschland an Eurotransplant vermittelt werden konnten, stieg ebenfalls – und zwar um 245 auf 1.576. Die Zahl der Transplantationen schließlich nahm von 1.410 auf 1.623 zu. Also, eigentlich alles gut?
Das wohl nicht. Immerhin warten in Deutschland rund 10.000 Menschen auf ein Spenderorgan. „Die aktuellen Zahlen sind eine Momentaufnahme, die nicht darüber hinwegtäuschen darf, dass den Diskussionen jetzt strukturelle Veränderungen folgen müssen“, sagt denn auch Dr. Axel Rahmel, Medizinischer Vorstand der DSO.
Das sieht offenbar auch der Gesetzgeber so. „Als wesentliche Gründe für die anhaltend niedrigen Organspende-Zahlen werden vor allem strukturelle Defizite verantwortlich gemacht“, heißt es im Entwurf zum GZSO: Weil die Krankenhäuser zu viel zu tun haben, können oder wollen sie mögliche Organspender zu selten ermitteln und die Information an die DSO weitergeben, so die offizielle Begründung.
Tatsächlich bleiben die Entnahmekliniken weit hinter ihren Möglichkeiten zurück. Das zeigt eine Studie von Dr. Kevin Schulte vom Universitätsklinikum Schleswig-Holstein. Sie belegt, dass eine wachsende Spendenbereitschaft in der Bevölkerung von der Trägheit der Krankenhausabläufe ausgebremst werden könnte.
So sei die Menge der möglichen Organspender im Land von 2010 bis 2015 um 13,9% von 23.937 auf 27.258 gestiegen; unter anderem, weil es mehr Patienten mit schweren Hirnschäden gab, so die Studie. Aber gleichzeitig kontaktierten die Krankenhäuser immer seltener die DSO, um wegen einer möglichen Organentnahme Rücksprache zu halten. Die so genannten Organspende-bezogenen Kontaktaufnahmen sanken von 11,5% auf 8,2%. Auch die tatsächlichen Organspenden nahmen von 5,4% auf 3,2% ab.
Erkennungs- und Meldedefizit
Dass die Deutschen so selten ihre Organe spenden, sei also „mit einem Erkennungs- und Meldedefizit in den Krankenhäusern assoziiert“, folgern die Autoren.
Konkreter wird DSO-Vorstand Rahmel. Er sieht zum Beispiel auch die steigende Bereitschaft, Therapien am Lebensende abzubrechen, als Grund für die sinkenden Spenderzahlen. „Die Bereitschaft, die Therapie bei Sterbenden zu beenden, ist in der Medizin und der Bevölkerung gewachsen“, sagt Rahmel zu Medscape. Dies bedeute aber auch, dass viele mögliche Organspender in den Krankenhäusern nicht mehr erkannt würden. „Denken wir noch daran, rechtzeitig die Angehörigen nach dem Willen des Patienten zu fragen?"
Auch fehlten oft die Kapazitäten, um für mögliche Organspender ein Intensivbett bereitzuhalten. Im Zweifel werde dann eher auf einen möglichen Organspender verzichtet. Und selbst wenn ein Bett bereitstehe, sei es oft die missverständlich ausgefüllte Patientenverfügung, die der möglichen Transplantation ein Ende setze.
„Auch die Patientenverfügungen können ein Problem sein, wenn ein Verfasser zugleich seine Organe spenden will, aber zum Beispiel keine Beatmung wünscht. Hier sollte die Bevölkerung besser über das Verfassen einer Verfügung informiert werden“, sagt Rahmel.
Auch die Honorierung der Transplantationsbeauftragten lässt offenbar zu wünschen übrig. Für ihre Bezahlung werden derzeit jährlich 18 Millionen Euro zur Verfügung gestellt. Das bedeutet 50.000 Euro für eine Uniklinik und für ein Entnahmekrankenhaus ohne Neurochirurgie nur 11.000 Euro. Geld, das mitunter nicht einmal an die Beauftragten ausgezahlt werde, wie es heißt.
Mehr Geld und mehr Kontrolle
Das neue Gesetz will nun durch eine Reihe von Maßnahmen die Bedingungen im Krankenhaus verbessern:
So soll jedes Entnahmekrankenhaus für je 10 Intensivbetten eine Zehntelstelle eines Transplantationsbeauftragten freistellen. Große Unikliniken dürften damit auf eine voll finanzierte Stelle eines Transplantationsbeauftragten kommen. Künftig muss er bei möglichen Organspenden hinzugezogen werden.
Entnahmekrankenhäuser sollen mehr Geld erhalten – und zwar für die Diagnostik. Bisher erhielten die Häuser nur insgesamt 5 Millionen Euro für die umfangreiche Diagnostik. Erwiesen sich die Organe als nicht geeignet, kam es auch nicht zur Entnahme und damit auch nicht zum entsprechenden Honorar dafür. Den Häusern musste eine deutlich geringere Aufwandserstattung genügen. In Zukunft sollen statt 5 rund 15 Millionen Euro zur Verfügung stehen.
Für kleinere Entnahmekliniken soll konsiliarisch flächendeckend ein Bereitschaftsdienst eingerichtet werden, der die Ärzte bei der Feststellung des irreversiblen Hirnfunktionsausfalls, also des Hirntodes, unterstützt.
Krankenhäuser müssen zukünftig „verbindliche Verfahrensanweisungen“ für die Organentnahme festlegen.
Die Krankenhäuser müssen vollständig über Spender-Entdeckung und -Meldung berichten und die entsprechenden Daten an eine Koordinierungsstelle weiter reichen, die das Ganze auswertet.
Die DSO soll die Transplantationsbeauftragten bei ihren Aufgaben beraten.
Und schließlich: Künftig sollen Organempfänger zu den Angehörigen des Spenders mit einem anonymisierten Schreiben geregelt Kontakt aufnehmen können.
„Die Maßnahmen des Gesetzentwurfs beseitigen nicht die personellen Engpässe in den Kliniken. Aber sie setzen einen Rahmen, um die Organspenden in den Entnahmekliniken besser zu koordinieren", resümiert Rahmel.
Auch der Hamburger Internist Prof. Dr. Stefan Kluge, Vorstand in der Deutschen Gesellschaft für Internistische Intensivmedizin und Notfallmedizin (DGIIN) und Präsidiumsmitglied der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI), erklärt, die Krankenhäuser hätten nur mäßiges Interesse an der Organentnahme, weil so wenig Geld gezahlt werde.
Er begrüßt deshalb den Referentenentwurf. Die Zahlen aus der Studie Schultes hält er allerdings „für zu hoch gegriffen“, wenngleich die Tendenz der Studie „völlig richtig“ sei, so Kluge. „Dass wir so wenige Spender haben, liegt aber nicht nur an den Krankenhäusern“, sagt er.
Auch deshalb wird das neue Gesetz für Jens Spahn wohl nur ein 1. Schritt sein, die Spenderzahlen zu erhöhen. Weiter müsse nun im Bundestag über die Widerspruchslösung gesprochen werden. „Dort gehört das Thema hin“, so Spahn. Er selbst spricht sich für eine „doppelte Widerspruchslösung“ aus: „Das heißt, dass jeder zu Lebzeiten ausdrücklich ‚nein‘ sagen kann – und ansonsten die Angehörigen zu fragen sind. Nur so kann die Organspende zum Normalfall werden.“
Medscape Nachrichten © 2018 WebMD, LLC
Diesen Artikel so zitieren: Organspende-Reform: Es geht um viel mehr als die Widerspruchslösung – was Jens Spahn wirklich will - Medscape - 5. Sep 2018.
Kommentar