München – Bei der Jahrestagung der European Society of Hypertension (ESH) im Juni in Barcelona wurde sie erstmals vorgestellt. Pünktlich zum Kongress der European Society of Cardiology (ESC) in München ist sie nun online verfügbar: die neue ESC/ESH-Leitlinie zum Management der arteriellen Hypertonie. In einer eigenen Sitzung wurden wichtige Punkte der neuen europäischen Empfehlungen vorgestellt [1].
Zielvorgabe für (fast) alle Altersgruppen: Unter 140 mmHg
Gleich mehrere Neuerungen betreffen die Zielwerte für die Hochdrucktherapie. Eine Absenkung des allgemeinen Zielwerts auf (systolisch) 130 mmHg, wie kürzlich in den USA beschlossen, gehört jedoch nicht dazu. Vielmehr sollen künftig alle Patienten, auch Senioren von 65 bis 79 Jahren, einheitlich auf Blutdruckwerte unter 140 mmHg eingestellt werden; nur für Hochbetagte ab 80 Jahren gelten flexiblere Ziele.
„Es ist wichtig, nicht nur das chronologische, sondern das biologische Alter unserer Patienten zu berücksichtigen“, erläutert Prof. Dr. Ulf Landmesser, Direktor der Medizinischen Klinik für Kardiologie an der Charité Berlin, im Gespräch mit Medscape. „Wir sehen heute immer mehr ältere Patienten in körperlich gutem Zustand. Ihnen sollten wir eine konsequente Blutdruckeinstellung nicht vorenthalten, denn sie ist mit einer besseren Prognose verbunden.“
Eigentlich enthält die neue Leitlinie aber gar keine klassischen singulären Zielwerte mehr, sondern 2 Zielkorridore – einen „standardmäßigen“ und einen ehrgeizigen, der nur bei guter Verträglichkeit angestrebt werden soll: „Primäres Ziel ist ein Korridor von 130 bis maximal 139 mmHg“, betonte Prof. Dr. Giuseppe Mancia, Mailand, Italien, bei der Präsentation der Leitlinie auf dem Kongress. „Wird die Therapie gut vertragen, sollten wir eine weitere Absenkung in den Bereich von 120 bis 129 mmHg anstreben.“
Keine Senkung unter 120 mmHg
Mit dieser Zahl, 120 mmHg, wird erstmals auch ein unterer Grenzwert für die Blutdrucksenkung genannt. Denn auch wenn für Gesunde der Bereich unter 120/70 mmHg optimal ist und ein so niedriger Blutdruck die Prognose weiter verbessert, gilt das nicht für Hypertonie-Patienten: „Sie haben oftmals schon ein geschädigtes Gefäßbett. Bei solchen Patienten, etwa mit etablierter kardiovaskulärer Erkrankung, schwindet der Nutzen einer Absenkung unter einem systolischen Wert von 120 mmHg und es steigt im Gegenzug das Risiko für unerwünschte Effekte“, verweist Landmesser auf die bekannte „J-Kurve“ in der Hochdrucktherapie.
Die neuen Zielkorridore bewertet er als hilfreich: „Damit ist es einfacher, den Therapieerfolg zu kontrollieren: Zum ersten Mal wird ein Von-bis-Bereich genannt, in dem unsere Patienten mit der Therapie ankommen sollten“, so der Experte.
Für Patienten, die neben ihrer Hypertonie auch eine chronische Nierenfunktionsstörung haben, wird in der Leitlinie keine Untergrenze genannt – Landmesser würde jedoch auch bei ihnen einen Blutdruck im Bereich von 120 bis 129 mmHg empfehlen.
Nicht zu lange warten
Der Stellenwert von Lebensstilmaßnahmen wie körperliche Bewegung, Ernährungsumstellung einschließlich Salzrestriktion, Normalisierung des Körpergewichts und Rauchstopp wird auch in der neuen Leitlinie unvermindert hoch bewertet. Die nicht medikamentösen Maßnahmen sind weiterhin die Basis des Bluthochdruck-Managements.
Wenn damit jedoch innerhalb von 3 bis 6 Monaten keine deutliche Besserung erreicht werden kann, sollte die Behandlung durch Arzneimittel ergänzt werden, so die Leitlinie – und zwar gleich durch mindestens 2 Wirkstoffe.
Kombinationstherapie von Anfang an
Eine der wichtigsten Neuerungen: Die Empfehlungen von ESC und ESH sehen regulär für die Mehrheit der Patienten eine initiale Zweifachkombination vor. Prof. Dr. Bryan Williams, London, Großbritannien, Vorsitzender der Leitlinienkommission, erläuterte die Rationale dafür: „Die meisten Bluthochdruckpatienten benötigen letztlich doch mehrere Wirkstoffe für eine effektive Kontrolle. Das bisherige schrittweise Vorgehen hat jedoch oftmals dazu geführt, dass die Patienten trotz suboptimaler Erfolge langfristig auf einer Monotherapie verblieben sind.“
Das soll sich nun ändern, die initiale Gabe zweier Wirkstoffe soll der Standard sein. Die Leitlinie sieht im Großen und Ganzen nur 2 Ausnahmen vor: Menschen mit Grad-1-Hypertonie und geringem kardiovaskulärem Risiko kommen eventuell noch mit einer Monotherapie aus. Und – am anderen Ende der Skala – sehr gebrechliche ältere Patienten tolerieren eine Monotherapie womöglich besser.
„Kombinationstherapien haben oftmals einen synergistischen Effekt, so dass die einzelnen Komponenten niedriger dosiert werden können und die Behandlung besser verträglich ist“, erläutert Landmesser einen Vorteil der in der Leitlinie propagierten neuen Vorgehensweise. Bei den meisten Patienten sollte demnach im 1. Therapieschritt eine Kombination aus einem Hemmstoff des RAAS-Systems (ACE-Hemmer oder Angiotensin-Rezeptor-Blocker) und einem Kalziumantagonisten oder (Thiazid-) Diuretikum eingesetzt werden.
Genügt diese Zweifachkombination nicht, so wird als 2. Therapieschritt eine Dreifachkombination aus RAAS-Blocker, Kalziumantagonisten und Diuretikum vorgeschlagen. Im 3. Therapieschritt werden zusätzlich Alpha- und Betablocker sowie Spironolacton und weitere Wirkstoffe genannt. Der Einsatz von Betablockern kann aber auf jeder Stufe erwogen werden, wenn eine entsprechende Komorbidität vorliegt.
„Single-Pill-Strategie“ für bessere Adhärenz
Sowohl die Zweifach- als auch für die Dreifachkombinationen sollten vorzugsweise in einer einzigen Tablette enthalten sein, erklärte Williams. Die Fachgesellschaften setzen nach seinen Worten große Hoffnungen in die „Single-Pill“-Strategie; sie soll die Patientenadhärenz nachhaltig stärken.
„Viele Patienten fragen, ob es nicht möglich ist, die Anzahl ihrer Medikamente zu reduzieren“, bestätigt Landmesser auf Nachfrage von Medscape. „Damit meinen sie meist nicht weniger Wirkstoffe, sondern sie möchten tatsächlich weniger Tabletten einnehmen und ihren Alltag dadurch vereinfachen.“
Auch Landmesser sieht eine große Chance durch Fixkombinationen. „Das macht sehr viel Sinn und deshalb ist dieser Punkt sehr stark herausgehoben in der Leitlinie“, erklärt er. „Fixkombinationen tragen zu einer erhöhten Effizienz sowie einer besseren Verträglichkeit und Akzeptanz beim Patienten bei. Das ist aus meiner Sicht eine der Empfehlungen in dieser Leitlinie, die für die Praxis besonders wichtig sind.“
Allerdings müssten für eine konsequente Umsetzung dieser Strategie noch deutlich mehr verschiedene – auch unterschiedlich dosierte – Fixkombinationen von den Herstellern entwickelt und etabliert werden.
Höherer Stellenwert der ambulanten und häuslichen Blutdruckmessung
Einen deutlich höheren Stellenwert als bisher soll die ambulante (z.B. 24-Stunden-) und häusliche Blutdruckmessung einnehmen. „Messungen im häuslichen Umfeld geben einen guten Überblick über das Tagesprofil und erfassen auch spezielle Situationen im Patientenalltag“, so Landmesser. „Zudem hat eine aktuelle Studie, die im New England Journal of Medicine publiziert wurde, gezeigt, dass diese Messungen sehr gut mit der Prognose der Patienten korrelieren.“
Messungen im häuslichen Umfeld des Patienten können zum Beispiel helfen, eine maskierte Hypertonie zu entdecken, die sonst in der Praxis übersehen worden wäre. Umgekehrt können sie helfen, eine Weißkittel-Hypertonie richtig einzuordnen, bei der der Patient nur in der Praxis erhöhte Blutdruckwerte, zu Hause jedoch eher normale Werte hat. Das heißt aber keineswegs, dass eine Weißkittel-Hypertonie harmlos wäre: „Das ist keine ‚unschuldige‘ Erkrankung“, betonte Prof. Dr. Thomas Kahan, Stockholm, Schweden, in der Leitliniensitzung.
Landmesser bestätigt im Gespräch mit Medscape: „Die Weißkittel-Hypertonie gibt Hinweise darauf, dass der Patient in bestimmten Situationen leicht erregbar ist. Wenn das auch sonst in seinem Alltag wiederholt passiert, dann kann das seine Prognose durchaus verschlechtern.“ Außerdem geht die Weißkittel-Hypertonie oftmals einer manifesten Hypertonie voraus.
Liegt bei Patienten mit Weißkittel-Hypertonie bereits wegen ihrer Begleiterkrankungen ein hohes kardiovaskuläres Risiko vor oder haben sie gar schon einen Endorganschaden – er wird nicht mehr als „target organ damage“, sondern als „hypertension-mediated organ damage“ (HMOD) bezeichnet –, rät die Leitlinie, eine Blutdruck senkende Therapie zu beginnen.
Blutdruckselbstmessung stärkt Patientenverantwortung
Um die Zuverlässigkeit der häuslichen Messungen zu erhöhen, empfiehlt Landmesser eine einmalige Schulung und Beratung in der Praxis oder Klinikambulanz: „Der Arzt oder das Praxisteam kann dem Patienten sein individuelles Gerät erklären und sicherstellen, dass dieses noch intakt ist und zuverlässige Messwerte liefert.“
Die regelmäßige häusliche Blutdruckmessung kann laut Landmesser einen wichtigen Beitrag leisten, um den Patienten partnerschaftlich in seine Therapie einzubeziehen: „Damit wird die Verantwortung des Patienten gestärkt und er nimmt aktiv an seiner Behandlung teil.“
MEHR
|
Medscape © 2018 WebMD, LLC
Die dargestellte Meinung entspricht der des Autors und spiegelt nicht unbedingt die Ansichten von WebMD oder Medscape wider.
Diesen Artikel so zitieren: Die neue europäische Hypertonie-Leitlinie und ihre wichtigsten Empfehlungen im Experten-Check beim ESC-Kongress - Medscape - 3. Sep 2018.
Kommentar