Am Wochenende reisen über 30.000 Kardiologen nach München und treffen sich auf dem Messegelände zum größten Kongress ihrer Fachrichtung, dem Jahreskongress der ESC (European Society of Cardiology). Vom 25. bis 29. August diskutieren sie dort die neuesten Entwicklungen der Herzmedizin. Die Innovationen in der Behandlung von Herz-Kreislauf-Erkrankungen der vergangenen 30 Jahre haben einen Anteil von 70% daran, dass Menschen immer älter werden. Doch wie lässt sich die Patientenversorgung weiter verbessern? Werden Kardiologen noch häufiger klassische Eingriffe der Herzchirurgen übernehmen?

Prof. Dr. Andreas M. Zeiher
Medscape sprach im Vorfeld des Kongresses mit Prof. Dr. Andreas M. Zeiher, Direktor der Klinik für Kardiologie, Angiologie und Nephrologie am Universitätsklinikum Frankfurt. Der künftige Präsident der Deutschen Gesellschaft für Kardiologie (DGK) diskutiert in dem Interview die aktuellen Trends in der Kardiologie: TAVIs für Niedrigrisiko-Patienten, der Nachholbedarf bei der Prävention und Qualitätssicherung für die interventionelle Kardiologie. Und er nimmt zu heiklen Themen Stellung: Wer die neuen Methoden anwenden darf, was sie kosten und warum die Kardiologie in Deutschland ein bisschen in Verruf geraten ist. Zeihers Botschaft an den Nachwuchs: „Die Kardiologie ist das spannendste medizinische Territorium, auf dem man sich austoben kann.“
Medscape: Die Klappenerkrankungen sind dieses Jahr Schwerpunkt beim ESC-Kongress in München. Wird der kathetergestützte Klappenersatz durch den Kardiologen bald den chirurgischen Herzklappenersatz verdrängen?
Prof. Zeiher: Verdrängen sicherlich nicht, aber die Tendenz geht grundsätzlich dahin zu überprüfen, ob auch bei Patienten mit niedrigerem Risiko der Einbau der Aortenklappe über Katheter sinnvoll ist und sich für sie auszahlt. Aber es bleibt dabei, dass die Entscheidung, welche Behandlung für den Patienten am sinnvollsten ist, im Heart Team aus Kardiologen und Chirurgen besprochen werden muss. Bisher war die Maßgabe, dass der STS-Score [mit dem man das Risiko eines chirurgischen Eingriffs misst] größer als 3 sein sollte. Bei diesen Patienten sind die Aortenklappen-Stents per Katheter sicher eine adäquate und zu bevorzugende Alternative, insbesondere bei älteren Patienten. Bei niedrigerem Risiko ist es momentan noch in der Evaluierungsphase.
Medscape: Welche Fragen müssen noch beantwortet werden, bevor auch Patienten mit niedrigem Risiko per Katheter behandelt werden können?
Prof. Zeiher: Wir wissen derzeit noch nicht, ob die per Katheter eingebauten Aortenklappen genauso lange halten wie die chirurgisch implantierten. Es ist zwar nicht zu erwarten, dass sich das grob unterscheiden wird, aber das können nur Studien zeigen. In München werden mehrere TAVI-Studien vorgestellt, die auch Patienten mit niedrigerem Risiko eingeschlossen haben. Aber die definitiven Outcome-Studien bei Niedrigrisiko-Patienten laufen derzeit noch. Erste Ergebnisse sind frühestens nächstes Jahr im Herbst zu erwarten.
Medscape: Minimal-invasive Verfahren sind oft günstiger als operative Eingriffe, beim kathetergestützten Herzklappenersatz gilt das nicht. Wie wirtschaftlich sind solche Eingriffe?
Prof. Zeiher: Im Moment sind die Eingriffe tatsächlich gleich teuer. Aber das Problem wird sich lösen, wenn mehrere Klappentypen auf den Markt kommen. Denn bislang ist die Klappe der Kostentreiber. Natürlich muss man berücksichtigen, dass Patienten nach einem chirurgischen Eingriff häufig noch in die Reha gehen und eine längere Rekonvaleszenzzeit haben, die auch etwas Geld kostet. Aber bezüglich des Eingriffs allein unterscheiden sich die kathetergestützte und operative Variante nicht. Ich gehe davon aus, dass sich das, ähnlich wie bei den Stents, mit der Zeit entwickeln wird. Stents haben anfangs auch 2.000 bis 3.000 Euro gekostet. Heute sind es nur noch 180 Euro.
Medscape: Die interventionelle Kardiologie boomt, wie lässt sich sicherstellen, dass alle Patienten eine adäquate Behandlung erhalten?
Prof. Zeiher: Das ist ein Punkt, der mir sehr wichtig ist und den ich auch im Rahmen meiner DGK-Präsidentschaft verfolgen möchte. Wir brauchen eine bessere Qualitätssicherung. Es kann und muss nicht jeder alles machen. Wenn in einem Krankenhaus 20 Mitralclips pro Jahr eingebaut werden, dann können die einfach nicht so gut sein wie an einem Krankenhaus mit 100 Eingriffen dieser Art pro Jahr. Ich bin ein absoluter Verfechter von Mindestmengen. Das ist ein sensibles Thema, bei dem sich sicher einige zurückgesetzt fühlen werden. Aber es gibt gute Zahlen, die zum Beispiel für die TAVI eine steigende Mortalität mit abnehmenden Fallzahlen zeigen. Jeder Arzt kann für sich die Entscheidung treffen, in welchem Umfeld er arbeiten möchte. Wenn in seinem Umfeld diese Verfahren nicht mehr vorgehalten werden können, dann muss man schweren Herzens darauf verzichten.
Medscape: Welche Ziele haben Sie sich noch gesetzt?
Prof. Zeiher: Wir müssen die Öffentlichkeitsarbeit verbessern. Insbesondere dem Laienpublikum wollen wir klarmachen, was die Kardiologie für die Bevölkerung bedeutet. In dieser Hinsicht haben wir einen enormen Nachholbedarf gegenüber anderen Disziplinen. In der Bevölkerung wird oft vergessen, dass 70 Prozent der gewonnenen Lebensjahre in den letzten 30 Jahren de facto auf eine verbesserte Erkennung und Behandlung von Herz-Kreislauf-Erkrankungen zurückzuführen sind. Außerdem hat die verbesserte Öffentlichkeitsarbeit vielleicht den Nebeneffekt, dass wir die Kardiologie wieder spannend machen für den Nachwuchs.
Medscape: Ist sie das denn nicht mehr?
Prof. Zeiher: Für mich ist die Kardiologie das spannendste medizinische Territorium, auf dem man sich austoben kann. Das Fach ist aber ein bisschen in Verruf gekommen, da die Kardiologen oft als diejenigen gelten, die letztlich nur invasiv tätig sein und Geld verdienen wollen. Dem ist aber nicht so. Wir müssen dem potentiellen Nachwuchs die Faszination der kardiologischen Diagnose- und Behandlungsmöglichkeiten aufzeigen. Wir sind eine hochtechnisierte Disziplin und haben oft die Möglichkeit dem Patienten ad hoc zu helfen, nicht nur beim Herzinfarkt, sondern auch beim Klappenersatz, mit dem Defibrillator oder der Ablation von Rhythmusstörungen.
Medscape: International scheint die deutsche Kardiologie aber einen guten Stand zu haben. Beim ESC-Kongress stellt Deutschland den größten Teil der Fakultätsmitglieder. Aber gibt es auch Punkte, an denen Nachholbedarf besteht?
Prof. Zeiher: Am stärksten sind wir sicherlich in der interventionellen Kathetertherapie. Bei Mitralklappen-Interventionen und Aortenklappen-Implantationen ist Deutschland weltweit führend, sowohl von den Zahlen her als auch bezüglich der Qualität. Auch in der Herzinsuffizienztherapie sind wir sehr gut. Wo wir ein bisschen nachhinken ist die Prävention, das war eigentlich schon immer so. Da liegen die Kollegen in den USA oder England etwas vorne.
Medscape: Wo genau sehen Sie Unterschiede?
Prof. Zeiher: Überwiegend bei der Prävention durch Lebensstil-Veränderungen. Das liegt am Entgeltsystem. In England schreibt das NHS klar vor, was man als Arzt machen muss bzw. darf, was finanziert wird und was nicht. In Deutschland ist es sicher auch dem Gesundheitssystem anzulasten, dass Leistungen, die besser abrechenbar sind, häufiger erbracht werden. Eine Ablationsbehandlung ist problemlos abrechenbar. Der Versuch dagegen, Patienten zu gesünderer Ernährung, mehr Sport und dem Verzicht auf das Rauchen zu bewegen, gestaltet sich schon schwieriger.
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Diesen Artikel so zitieren: ESC in der Herzstadt München: „70 Prozent der gewonnenen Lebensjahre verdanken wir der Herz-Kreislauf-Medizin.“ - Medscape - 23. Aug 2018.
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