Chicago – Zwischen den ersten Symptomen der Alzheimer-Demenz und der definitiven Diagnose vergehen oft Jahre. Ein Grund liegt darin, dass Patienten und Angehörige, aber auch Ärzte häufig nicht wissen, dass dem kognitiven Abbau oft Schlaf-, Persönlichkeits- oder Verhaltensstörungen vorangehen, manchmal um Jahre. Sie tun die Frühzeichen als normale Alterserscheinungen ab.
Eine interdisziplinäre Arbeitsgruppe hat evidenzbasierte Praxisempfehlungen entwickelt, welche die Früherkennung voranbringen sollen. Prof. Dr. Alireza Atri, Direktor des Banner Sun Gesundheitsforschungszentrums, Sun City, und einer der Vorsitzenden der Arbeitsgruppe, stellte sie bei der Alzheimer‘s Association International Conference (AAIC) vor [1].
Sorgen ernst nehmen, Bezugspersonen einbinden!
Im Kern lassen sich die Empfehlungen in 3 Punkten zusammenfassen:
Alle Menschen mittleren oder höheren Lebensalters, die selbst oder deren Bezugspersonen respektive deren Ärzte kognitive, alltagsfunktionelle oder Verhaltensbeeinträchtigungen schildern, sollten zeitnah und individuell angemessen untersucht werden.
Diese Veränderungen sollten nicht als „normale Alterung“ (miss)interpretiert werden, bevor sie nicht gründlich geprüft wurden.
In die Evaluation sollten nicht nur Patient und Arzt, sondern wenn irgend möglich auch Familie, Vertrauenspersonen oder Betreuer einbezogen werden.
„Bisher hatten wir keine spezifischen multidisziplinären Leitlinien für Alzheimer und verwandte Demenzen, die den diagnostischen Prozess auf allen Ebenen des Gesundheitssystems leiten und Standards formulieren, die Patientenversorgung, -autonomie sowie Outcomes verbessern“, meinte Atri.
Die neuen Empfehlungen, 20 an der Zahl, sollten dazu beitragen, dass kognitive und Verhaltenssymptome „in patientenzentrierter, strukturierter und gemeinschaftlicher Weise“ untersucht werden, erläuterte er.
„Die Untersuchung von Verhaltens- und Kognitionseinschränkungen ist gerade in der Primärversorgung oft eine enorme Herausforderung“, betonte Atris Ko-Vorsitzender Prof. Dr. Bradford Dickerson, Direktor der Abteilung für Frontotemporale Störungen, Massachusetts General Hospital, Boston. Trotz der Fortschritte, die in den letzten Jahren in der Demenzdiagnostik erzielt worden seien, bedürften die Kollegen dringend der Anleitung, wie solche Tests in der täglichen Praxis angewandt werden sollten.
Früherkennung lässt dem Patienten die Chance, selbst zu planen
Auch wenn eine dauerhaft wirksame Therapie noch nicht verfügbar ist, kann eine Früherkennung der Demenz den Patienten in die Lage versetzen, Entscheidungen über die Behandlung und seine künftigen Lebensumstände selbst zu treffen. Familien können rechtzeitig planen, wie und wo die Versorgung in welchem Stadium der Krankheit stattfinden soll.
Außerdem eröffnet die Früherkennung dem Kranken die Chance, sich für die Teilnahme an Therapiestudien zu qualifizieren, in die vorzugsweise Patienten in frühen Demenzstadien eingeschlossen werden – einfach, weil die Erfolgschancen dann besser stehen.
Und dies sind – in Kürze zusammengefasst – die 20 Empfehlungen (Empfehlungsstärke von A: „unbedingt zu tun“, über B: „wird empfohlen“ bis C: „kann man machen“ – jeweils in Klammern). Eine ausführliche und kommentierte Veröffentlichung soll später im Jahr erfolgen.
20 Empfehlungen zur Früherkennung der Alzheimer-Demenz
Für Patienten, die selbst oder bei denen Bezugspersonen kognitive, Verhaltens- oder Funktionseinschränkungen beobachten, soll der Arzt eine mehrstufige, auf das konkrete Problem bezogene Evaluation veranlassen. (A)
Bei Patienten mit atypischen oder rasch fortschreitenden kognitiv-verhaltensbezogenen Symptomen soll zusätzlich und nachdrücklich die Hinzuziehung eines Spezialisten angeraten werden. (A)
Für die Evaluation sollen dem individuellen Erscheinungsbild, den Risikofaktoren und dem Patientenprofil angepasste Instrumente verwendet werden. Erstes Ziel ist festzustellen, ob ein CBS (Cognitive-Behavioural Syndrome, Kognitions-Verhaltens-Syndrom) vorliegt. Zweites Ziel ist, mögliche Ursachen und dazu beitragende Faktoren zu prüfen, um zu einer ätiologischen Diagnose zu kommen. (A)
Eine auf Kooperation abzielende Arzt-Patienten-Angehörigen-Kommunikation ist anzustreben. (A)
Inhalt der Anamnese sind a) Kognition, b) Alltagsaktivitäten, c) Stimmung und neuropsychiatrische Symptome, d) sensorische und motorische Fähigkeiten. Strukturierte Erfassungsinstrumente sind hilfreich. (A)
Individuelle Risikofaktoren für kognitiven Abbau sollen erfasst werden. (A)
Der Arzt soll Kognition, Stimmung und Verhalten untersuchen sowie eine Demenz-zentrierte neurologische Untersuchung vornehmen. (A)
Dabei sind validierte Erfassungsinstrumente zu verwenden. (A)
Patienten mit asymptomatischer Anamnese oder Klinik oder mit unsicherer Diagnose sollen einem Spezialisten vorgestellt werden. (A)
Der Spezialist soll eine umfassende Anamnese und Untersuchung der kognitiven, neuropsychiatrischen und neurologischen Funktionen vornehmen, um zur CBS-Diagnose zu gelangen. (A)
Eine neuropsychologische Untersuchung soll erfolgen, wenn die kognitiven Tests keine ausreichende Information liefern, etwa wenn der Patient Probleme im Alltag schildert, aber in den Tests unauffällig abschneidet oder wenn abnorme Testergebnisse aufgrund einer komplexen Klinik schwer interpretierbar sind. Zum Minimalprogramm gehören Untersuchungen von Lernen und Gedächtnis, exekutiven Funktionen, visuell-räumlichen Funktionen und Sprache. (A)
Labortests sollten in mehreren Stufen dem individuellen Risiko- und Patientenprofil angepasst erfolgen. (A)
Ein Kernspin- oder – falls nicht verfügbar oder kontraindiziert – Computertomogramm soll angefertigt werden. (B)
Bleiben Unsicherheiten in der Diagnose, können weitergehende Labortests veranlasst werden. (A)
Bei etablierter CBS-Diagnose, aber Unsicherheit hinsichtlich der Ätiologie kann ein Demenzspezialist die diagnostische Sicherheit mithilfe des FDG-PET verbessern. (B)
Bleiben weiterhin Unsicherheiten, kann eine Liquor-Untersuchung auf Aβ42-Amyloid und das Tau/p-Tau-Profil erfolgen. (C)
Bleibt die Diagnose weiterhin unsicher, kann ein Demenzspezialist ein Amyloid-PET veranlassen. (C)
Bei gesicherter CBS-Diagnose und wahrscheinlicher autosomal-dominanter Vererbung soll der Demenzspezialist entscheiden, ob ein Gentest angeboten wird. Ein genetisch geschulter Berater sollte dies begleiten. (A)
Während des Evaluationsprozesses ist der Dialog mit dem Patienten und dessen Bezugspersonen essenziell, um deren Verständnis und Kenntnis über die Diagnose sicherzustellen. (A)
Patienten und Bezugspersonen sind umfassend, ehrlich und empathisch zu informieren über das CBS, seine Ursachen, Stadium und Schweregrad, Prognose, Therapieoptionen und -chancen mit allen Facetten inklusive Sicherheitsbedenken sowie alle Aspekte, die eine weitere Lebensplanung mit der Krankheit erfordert.
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Diesen Artikel so zitieren: 20 Empfehlungen, um Allgemeinmedizinern und Spezialisten die Früherkennung der Alzheimer-Demenz zu erleichtern - Medscape - 2. Aug 2018.
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