MEINUNG

Holen Sie sich Kollege „Dr. KI“ in Ihre Praxis: „Sie werden schneller und besser die richtige Diagnose stellen.“

Paul Klammer

Interessenkonflikte

1. August 2018

Prof. Dr. Michael Forsting

Unterstützung durch Computer ist für Ärzte nichts Neues. Doch in den vergangenen Jahren haben Forscher und Technologieunternehmen neue Programme entwickelt, die ärztliche Kerntätigkeiten wie Anamnese und Diagnostik übernehmen können. Sie beruhen auf sogenannter künstlicher Intelligenz. Welche Anwendungen sind in den kommenden Jahren für Praxen und Kliniken zu erwarten? Was leisten sie? Und: Wie wird sich der Alltag für Ärzte dadurch verändern? Antworten auf diese Fragen gibt Prof. Dr. Michael Forsting, Direktor des Instituts für Diagnostische und Interventionelle Radiologie und Neuroradiologie sowie Medizinscher Leiter der zentralen IT des Universitätsklinikums Essen, im Interview mit Medscape.

Medscape: Wie muss man sich Anwendungen von künstlicher Intelligenz (KI) in der Medizin vorstellen?

Prof. Dr. Forsting: Vereinfacht gesagt sind das selbst lernende Computerprogramme. Sie werden mit echten Ergebnissen trainiert. Das kann zum Beispiel ein Algorithmus sein, der erkennt, ob ein Tumor maligne ist oder nicht. Dafür muss ich kein mathematisches Modell von Malignität entwickeln, sondern trainiere die Software mit vielen Bildern von malignen und nicht-malignen Tumoren. Sie lernt selbst, worin sich die eine von der anderen Gruppe unterscheidet.

Medscape: Gibt es bereits KI-Anwendungen auf dem Markt?

Prof. Dr. Forsting: Für einige Programme können Sie schon Lizenzen kaufen. Diese bestimmen zum Beispiel das Knochenalter von Kindern und helfen bei der Frühdiagnose des Schlaganfalls oder bei der Verlaufskontrolle von Multipler Sklerose und Tumoren.

Medscape: In welchen Bereichen der Medizin werden in den nächsten fünf Jahren Anwendungen mit künstlicher Intelligenz in die Praxis kommen?

 
Mit dieser Datenfülle kann man sehr genau vorhersagen, ob ein Tumor bereits metastasiert ist. Prof. Dr. Forsting
 

Prof. Dr. Forsting: In meinem Feld, der Radiologie, werden wir relativ schnell drei große Anwendungsbereiche sehen. Das liegt auch daran, dass bei uns die Daten schon digital vorliegen. Das ist eine Voraussetzung für die Anwendung künstlicher Intelligenz. Der erste Bereich ist das Screening. Bislang gilt beim Mammografie-Screening das Vier-Augen-Prinzip. Es gibt aber Ansätze, den ersten Radiologen durch einen trainierten Algorithmus zu ersetzen. Dessen Empfindlichkeit kann so eingestellt werden, dass er die sicher negativen Befunde aussortiert. Der Radiologe muss dann nur noch die zweifelhaften Befunde anschauen.

Eine zweite Anwendung ist die Verlaufsbeobachtung. Software kann beispielsweise auf MRT-Aufnahmen eines MS-Patienten nach neuen Läsionen suchen, völlig ermüdungsfrei. Zusätzlich mindern wir so auch den Satisfaction-of-Search-Fehler, der in der Radiologie schon lange bekannt ist. Durch die Konzentration auf das Suchen und Zählen läuft der Arzt Gefahr, wichtige Nebenbefunde zu übersehen, beispielsweise dass der Patient ein Aneurysma einer Hirnarterie entwickelt hat. Wenn ihn der Algorithmus bei der Arbeit unterstützt, wird seine Aufmerksamkeit weniger strapaziert.

Den dritten Anwendungsbereich kann man unter dem Stichwort Radiomics zusammenfassen. Ein künstlich intelligentes System kann Entitäten, zum Beispiel Tumore, anhand von mehreren hundert Eigenschaften vergleichen, während ein Radiologe nur fünf oder sechs Eigenschaften vergleicht. Mit dieser Datenfülle kann man sehr genau vorhersagen, ob ein Tumor bereits metastasiert ist. Das heißt, mit künstlicher Intelligenz können wir Radiologen viel tiefer in die Biologie eines Tumors hineinschauen als wir das bislang konnten.

Medscape: Wo sehen Sie jenseits der Radiologie Entwicklungen, wo künstliche Intelligenz Ärzte unterstützen kann?

Prof. Dr. Forsting: Es wird bald Anwendungen für seltene Erkrankungen geben. Das werden Algorithmen sein, die bei einer ungewöhnlichen Befundkonstellation helfen werden, die richtige diagnostische Richtung zu finden. Man kann sich solche Systeme vorstellen wie riesige Lehrbücher, die sich selbst ganz schnell durchblättern, und damit Ärzte wirksam unterstützen. Darüber hinaus glaube ich sogar, dass künstliche Intelligenz die sprechende Medizin sehr viel stärker beeinflussen wird als beispielsweise die Radiologie.

 

Ich kann mir nicht vorstellen, dass Patienten ablehnend reagieren, wenn der Computer geholfen hat, die richtige Diagnose zu finden. Prof. Dr. Forsting
 

Medscape: Warum?

Prof. Dr. Forsting: Ein Beispiel: Ich habe kürzlich einen Vortrag vor Psychiatern gehalten. Dort wurde ich gefragt, wann angesichts der künstlichen Intelligenz das Ende der Radiologie kommen werde. Darauf habe ich ihnen geantwortet: Wenn man heute Fotos eines Menschen auf Instagram mit einem Programm analysiert, kann man die Diagnose einer Depression mit der gleichen Genauigkeit stellen wie ein Allgemeinmediziner. Wenn man zusätzlich noch die Aktivitäten des Menschen auf Facebook analysiert, dann kann man die Diagnose genauso zuverlässig stellen wie ein Psychiater.

Bedenkt man nun, dass heute über jeden Menschen noch sehr viel mehr digitale Daten verfügbar sind, ist offensichtlich, dass die sprechende Medizin, die noch nicht digitalisiert ist, in Zukunft deutlich stärker durch solche Technologien beeinflusst werden wird als die Disziplinen, die fast ausschließlich mit digitalen Daten arbeiten.

Medscape: Was haben Ärzte davon, wenn sie Programme, die auf künstlicher Intelligenz basieren, in ihre Praxis holen?

Prof. Dr. Forsting: Sie werden schneller und besser die richtige Diagnose stellen. Ich erwarte keine Abwehr bei den Ärzten, sobald sie das erkennen.

Medscape: Aber ist nicht die Befürchtung berechtigt, dass Ärzte noch mehr Zeit vor dem Computer verbringen werden und noch weniger am Patienten?

Prof. Dr. Forsting: Nicht unbedingt. Vielleicht werden sie sogar mehr Zeit für den Patienten haben. Außerdem müssen sie sich fragen, was Patienten brauchen. Wer ernsthaft erkrankt ist, braucht möglichst schnell die treffende Diagnose und die passende Therapieempfehlung. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Patienten ablehnend reagieren, wenn der Computer geholfen hat, die richtige Diagnose zu finden. Dass Patienten weiterhin ärztliche Begleitung bei der Bewältigung der Diagnose benötigen, steht außer Frage.

 
Es wird irgendwann nicht mehr vertretbar sein, diese Systeme nicht einzusetzen, selbst wenn sie noch nicht perfekt arbeiten. Prof. Dr. Forsting
 

Medscape: Muss der Praktiker in seiner Praxis große Umstellungen vornehmen, wenn er KI-Systeme einsetzen will?

Prof. Dr. Forsting: Nein. KI-Systeme sind Software-Applikationen, für die Sie einen Computer benötigen. Die meisten Praxen sind bereits digitalisiert. In der Diagnostik und der konservativen Therapie, also den Feldern, für die demnächst Anwendungen auf den Markt kommen werden, werden keine großen Veränderungen notwendig sein.

Medscape: Wie tief muss man sich in die Materie einarbeiten, um von den Entwicklungen der künstlichen Intelligenz zu profitieren?

Prof. Dr. Forsting: Man muss von der Technologie wenig verstehen. Die Anwendungen werden so gestaltet sein, dass man gar nicht merkt, dass im Hintergrund künstliche Intelligenz arbeitet. Sie werden sie kaufen, wie Sie bislang Lehrbücher oder Zugänge zu Fachdatenbanken gekauft haben.

Medscape: Wer haftet denn, wenn künstlich intelligente Systeme, die den Arzt bei der Anamnese oder Diagnosestellung unterstützen, einen Fehler machen – der Entwickler oder der Anwender?

Prof. Dr. Forsting: Diese Frage wird gern gestellt. Ich halte sie für längst gelöst. Es haftet der Anwender. Nehmen wir zum Vergleich die Labormedizin. Mitte der 80er Jahre wurde ein Blutbild noch von einer MTA unter dem Mikroskop ausgezählt. Heute macht das natürlich ein Automat. In jedem Fall haftet derjenige, der das Labor betreibt.

Durch die künstliche Intelligenz werden aber schärfere Qualitätssicherungsmaßnahmen möglich. Bei einem automatisierten Mammografie-Screening, kann man dem Algorithmus beispielsweise bei jedem 10. Bild eine Aufnahme mit bekanntem Ergebnis vorlegen. Wenn er das nicht erkennt, dann sieht man sofort, dass etwas nicht in Ordnung ist. Die Systeme werden so mit der Zeit noch besser werden. Ich glaube sogar, dass sich die mediko-legale Betrachtung dann umkehren wird. Es wird irgendwann nicht mehr vertretbar sein, diese Systeme nicht einzusetzen, selbst wenn sie noch nicht perfekt arbeiten.

 

Kommentar

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