Digitalisierung in der Medizin soll die ambulante und stationäre Welt revolutionieren: Doch wer soll das bezahlen?

Susanne Rytina

Interessenkonflikte

31. Juli 2018

Berlin – Was der Fortschritt in der Digitalisierung in der Medizin zur Verbesserung von Diagnose und Behandlung beitragen kann, wurde viel diskutiert auf dem Hauptstadtkongress. Offen bleibt, wie etwa Apps, Algorithmen und Medizintechnik im Gesundheitswesen erstattet werden sollen. Darauf scheint noch keine Antwort gefunden, wie die Diskussion der Start-up-Szene mit Vertretern aus der Klinik, pharmazeutischen Industrie, Krankenkassen und Gesundheitspolitik zeigte [1].

„Wir befinden uns nicht in einem Experimentierstatus. Die digitale Welt ist da und sie ist wettbewerbsfähig“, betonte Dr. Markus Müschenich, Managing Director von Flying Health Incubator, ein Unternehmen, das Start-up-Firmen im Gesundheitswesen unterstützt. Er nannte einige Beispiele:

  • So habe die App „mySugr“ 1,3 Millionen Nutzer, die damit ihren Diabetes kontrollieren und managen können.

  • Die App „Preventicus“ führt rund 2 Millionen Herz-Rhythmus-Analysen durch, um Vorhofflimmern zu identifizieren.

  • Der Chatbot Ada habe vor allem in Südamerika 350.000 Nutzerinnen zum Zika-Virus beraten und die zweitgrößte Datenbank zum Thema aufgebaut.

  • Google Verily habe einen Algorithmus entwickelt, der aufgrund von Fotos des Augenhintergrunds, Herz-Kreislauf-Erkrankungen prognostiziert.

„Es gibt schon Hinweise für eine ganz neue Evolutionsstufe – hier geht es nicht nur darum, dass Ärzte imitiert und optimiert werden“, so Müschenich. Er prognostizierte, dass schon 2025 digitale Expertensysteme die Diagnosen von Ärzten in Deutschland absichern werden – über Chatbots oder auch Avatare, die auf den Patienten eingehen und fast schon suggerierten, dass man mit einem richtigen Arzt oder einer richtigen Krankenschwester kommuniziere. „Wir werden Hybridtechnologien haben – über Online-Sprechstunden, aber auch ganz normale Arztkontakte.“

Die geringere Zahl traditioneller Besuche in der Praxis kann nach Ansicht von Müschenich dazu beitragen, dass Ärzte mehr Spaß an ihrer Arbeit haben – und das tun könnten, warum sie ursprünglich den Beruf ergriffen hätten: „Wir haben alle einmal davon geträumt, Patienten durch schwierige Krankheiten zu begleiten“, sagte er.

 
Wir werden Hybridtechnologien haben – über Online-Sprechstunden, aber auch ganz normale Arztkontakte. Dr. Markus Müschenich
 

Digital vor ambulant vor stationär?

In der Zukunft werde es eine neue Kategorie geben – einen neuen digitalen Sektor, der den ambulanten und stationären Sektor wie eine Wolke umschließe, prognostizierte Münschenich. Bei den Digitalbudgets gelte: digital vor ambulant vor stationär. Wenn eine App wie „mySugr“ dazu führe, dass es weniger Diabetiker mit entgleistem Blutzuckerspiegel gebe, dann liege der Nutzen klar auf der Hand. Eine solche App könne dem Patienten auch Kliniken empfehlen, in denen es zum Beispiel Diabetologen gibt. „Das, was die digitale Welt am besten kann, ist steuern. Für die, die dann nicht mitmachen, kann es problematisch werden“, warnte Müschenich. So wie etwa ein Händler, der sich weigere, bei Amazon gelistet zu werden, Umsatzeinbußen in Kauf nehmen müsse.

Das Vorstandsmitglied der Barmer, Dr. Mani Rafi, betonte, dass er sich auf keinen Fall einen neuen digitalen Sektor wünsche, nachdem man gerade versuche, die Gräben an den Schnittstellen von ambulanten und stationären Sektor zu überwinden zugunsten einer besseren Qualität.

Die Barmer selbst engagiere sich im Bereich digitale Präventionsangebote mit der Migräne-App M-sense, mit der Patienten ein Migräne-Tagebuch führen können und mithilfe der App besondere Muster (Trigger) ausgelesen werden könnten, die die den Ausbruch der Migräne begünstige. Man kooperiere hier mit der betrieblichen Gesundheitsvorsorge der Telekom, um die Gesundheit der Konzernmitarbeiter zu verbessern.

Was die prinzipielle Erstattung von digitalen Angeboten angeht, müsste „erst der Kleiderschrank aufgeräumt werden“, empfahl Rafi. „Wenn wir etwas Neues einführen, muss etwas anderes abgeschafft werden, das nicht zielführend ist. Für jeden neuen Pullover, den wir uns anschaffen, muss ein alter weggelegt werden“, forderte er.

Die Art und Weise jedoch, wie Produkte und digitale Leistungen erstattet werden sollen, ist noch ungelöst. Die Dynamik der Entwicklung erzeugt Probleme im System. „Alle paar Monate gibt es neue Smartphones oder Smartwatches. Da kommt ja ständig etwas Neues dazu. Ich kann aber nicht alle paar Monate an der Preisschraube drehen und ständig Angebote weiterentwickeln“, illustrierte Rafi die Probleme.

 
Das, was die digitale Welt am besten kann, ist steuern. Dr. Markus Müschenich
 

Das Gesundheitswesen sei keine Konsumgüterindustrie. Wenn man sich bei Amazon etwas kaufe und werfe es dann weg, dann sei dies Privatsache. Im Gesundheitssystem funktioniere dies aber nicht so. Die Chance der Digitalisierung müsse genutzt werden, es dürfe aber nicht im Chaos enden. Standards und Regeln seien gefragt, so Rafi.

Start-ups müssen schnell sein, um im Wettbewerb zu überleben

Hans Raffauf, Mitbegründer der App Clue, mit der Frauen ihren Menstruations-Zyklus verfolgen, hat sein Start-up vor allem mit ausländischem Geld gegründet. „Die Geschwindigkeit, die wir an den Tag legen müssen, um im Wettbewerbsumfeld erfolgreich zu sein, steht in keinem Verhältnis zu dem Aufwand, den es bräuchte, um in einen Zertifizierungsprozess der Krankenkassen zu gehen, damit die Kosten rückerstattet werden“, berichtete Raffauf.

Er sah einen Riesenbedarf für eine finanzielle Unterstützung von Start-ups, vor allem in der Frühphase. Die Clue-Gründer hätten sich am Anfang bei einem Innovationsfond in Deutschland beworben, seien aber nicht genommen worden. Die App gibt es inzwischen seit 5 Jahren und habe weltweit 10 Millionen Nutzerinnen, die meisten in den USA und in südamerikanischen Staaten.

Ob und wie man am besten mit Gesundheitssystemen zusammenarbeiten könne, sei noch offen. Denkbar sei es in Zukunft etwa, dass über die App auch Gynäkologen empfohlen werden, die spezialisiert sind auf verschiedene Krankheiten, etwa Endometriose.

 
Wenn wir etwas Neues einführen, muss etwas anderes abgeschafft werden, das nicht zielführend ist. Dr. Mani Rafi
 

„Bei uns kommen weltweit gut 250 Millionen Daten im Monat herein. Und wir wissen über unsere Nutzerinnen unheimlich viel. Wir wissen, wie alt sie sind, wann sie Sex haben, welche Emotionen sie haben, wie stark ihre Blutung ist. Und mit diesem Wissen kommt uns auch eine unheimliche Verantwortung zu“, berichtete Raffauf. Die Daten würden nicht monetarisiert werden und z.B. an Dritte – etwa Pharmafirmen – weitergegeben, damit sie auf dieser Basis ihre Produkte entwickeln, betonte der Unternehmer.

Ob auch die großen Player wie Google diese ethischen Richtlinien verfolgten, wagte er zu bezweifeln. „Wir müssen ihnen genau auf die Finger schauen“, warnte er. Sein Unternehmen finanziere sich über die Gebühren, die die Nutzerinnen bezahlen: 1 Dollar, 1 Euro oder 10 Kronen im Monat.

Sana-Kliniken – aus eigenem Antrieb Entwicklungen vorantreiben

Ungeduldig, dass die Mühlen im Gesundheitswesen so langsam mahlen, zeigte sich auch Thomas Lemke, der Vorsitzende der Sana-Kliniken AG: „Ich persönlich glaube, dass die Zeiten vorbei sind, in denen Dinge nur im Beharrungszustand bleiben können. Mehr als es viele wahrhaben wollen, werden wir mit den Entwicklungen beschäftigt sein.“ Wer was bezahle, sei aber noch ungeklärt.

Kliniken könne in diesem Prozess nicht immer darauf warten, bis die Politik alles geregelt habe. „Für unser Unternehmen kann ich in Anspruch nehmen, dass wir anfangen, mal loszulaufen, Dinge entwickeln und mal anbieten“, sagte der Betriebswirtschaftler. Wenn man nicht endlich starte, gehöre man auch nicht zu denen, die die Entwicklung mitgestalteten, sagte er. Lemke ist der Ansicht, dass letztlich vom Patienten der Druck zur Digitalisierung erzeugt werde. „In der digitalen Zukunft wird die traditionelle Krankenhausplanung kaum mehr eine Rolle spielen, weil der Patient seine Auswahlkriterien ganz anders trifft“, meinte er. „Wer diese Entwicklung nicht mit vorantreibt, wird von der Versorgungslandschaft verschwinden.“

Birgit Fischer von Verband der forschenden Pharma-Unternehmen (vfa) sieht in der Digitalisierung die Chance, dass ambulanter und stationärer Sektor zusammenwachsen und in Zukunft gemeinsam über neue Gesundheitslösungen für Patienten nachgedacht werde. Die traditionellen Geschäftsmodelle der Leistungserbringer seien durch den Prozess in Frage gestellt worden. Sie schloss sich Lemkes Forderung an, dass sich die Anbieter selbst auf den Weg machen müssen.

 
Es muss unser gemeinsames Ziel sein, die Versorgungsqualität zu verbessern. Dr. Mani Rafi
 

Politik will Prozesse beschleunigen

Die Politik werde ihre Prozesse im Bereich Digitalisierung in der Medizin beschleunigen, stellte der Gesundheitspolitiker Gottfried Ludewig (CDU) in Aussicht. Er ist im Bundesgesundheitsministerium der Leiter für den Bereich Digitalisierung. Das Thema der Erstattung von digitalen Leistungen müsse in die Nutzenbewertung integriert werden.

Ludewig sprach sich auch dafür aus, den Kassen mehr Freiheit zuzugestehen, um neue Dinge ausprobieren zu können, jedoch mit standardisierten Regeln. Man brauche Innovationen und Start-ups. Es sei nicht vorgesehen, dass kommerzielle Algorithmen etabliert werden, die zum Beispiel in einer App Ärzte im Ranking bevorzuge, die die größten Werbeanzeigen zahlten. Digitalisierung solle dahin steuern, wo die Versorgungsqualität im Sinne von Outcome und Qualität dem Patienten zugutekomme.

Doch zahlt sich Digitalisierung bei den Leistungserbringern auch wirtschaftlich aus? „Ich habe die Hoffnung, dass man mit der Digitalisierung Gelder einsparen wird. Es muss unser gemeinsames Ziel sein, die Versorgungsqualität zu verbessern“, sagte das Barmer-Vorstandsmitglied Rafi. Die meisten Gründer machten den Fehler, ihr Produkt so anzupreisen, dass es im großen Stil Kosten erspare.

„Da bin ich makroökonomisch total anderer Meinung“, konterte Clou-Chef Raffauf: „Ich glaube, dass das, was wir machen, die Gesamtgesundheitswirtschaft halbieren wird.“

 

Kommentar

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