Nur Opioide im Blick: US-Ärzte „übersehen“ zunehmenden Cannabis-Konsum von Schwangeren – und bei uns?

Michael van den Heuvel

Interessenkonflikte

26. Juli 2018

In den USA konsumieren Schwangere immer häufiger Cannabis, berichtet Dr. Lauren M. Jansson vom Department of Pediatrics der Johns Hopkins University School of Medicine Baltimore in JAMA [1]. Sie warnt nicht nur vor neurobiologischen Folgen und Entwicklungsdefiziten, sondern auch vor suchtbedingter Vernachlässigung der Kinder. Ärzte sollten solche Frauen gezielter behandeln, und staatliche Institutionen sollten eigene Programme entwickeln – so lauten ihre Forderungen.

„Das Bewusstsein für Schäden durch Cannabis in der Schwangerschaft muss auch in Deutschland weiter geschärft werden“, betont Prof. Dr. Rainer Thomasius im Gespräch mit Medscape. Er ist ärztlicher Leiter des Deutschen Zentrums für Suchtfragen des Kindes- und Jugendalters (DZSKJ) am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf. Angaben aus den Beratungsstellen, aus Kliniken oder von Niedergelassenen seien widersprüchlich: „Manche Mediziner schätzen das gesundheitliche Risiko geringer ein, verglichen mit Alkohol oder Tabak, andere sehen sehr wohl Gefahren.“ In Summe sei das Bild uneinheitlich.

 
Das Bewusstsein für Schäden durch Cannabis in der Schwangerschaft muss auch in Deutschland weiter geschärft werden. Prof. Dr. Rainer Thomasius
 

Ob es in Deutschland zu Änderungen beim Cannabis-Konsum gekommen sei, könne er nicht sagen. „Ich kenne nur Daten aus den USA, wo vor allem in Bundesstaaten mit Legalisierung die Zahl schwangerer Konsumentinnen deutlich ansteigt.“ Die Folgen seien weitreichend: „Es geht nicht nur um die Organmanifestation, sondern um die Kompetenz zur Elternschaft.“

Mehr Cannabis-Konsum durch Legalisierungen?

Das haben amerikanische Ärzte angesichts der gravierenden Opioid-Epidemie übersehen oder sogar forciert. Teilweise sei vorgeschlagen worden, Marihuana als sichere Alternative bei der Behandlung von Schmerz einzusetzen, so Jansson. Eine andere Empfehlung betrifft die Legalisierung von Cannabis, um Todesfälle durch Opioid-Abusus zu verringern. Die Erstautorin kritisiert, durch öffentliche Diskussionen habe sich der Cannabis-Konsum schwangerer Amerikanerinnen von 2,4% (2002) auf 3,9% (2014) erhöht.

Und aufgrund besserer Verfahren enthielten Extrakte der Pflanze mehr aktive Komponenten. „Eine Ausweitung der Verwendung von Cannabis bei schwangeren und stillenden Frauen, wie es wahrscheinlich bei Legalisierung der Fall sein wird, könnte zu einem erhöhten Risiko für die Exposition von Föten und Kindern führen, wenn das teratogene Potenzial von Cannabis weiterhin unterschätzt wird“, lautet ihre Kritik. Deshalb sei es wichtig, langfristige Daten von Exponierten zu erheben, Stillrichtlinien zu entwickeln und Interventionsprogramme zu erarbeiten.

Neurobiologische Folgen

Jansson sieht in erster Linie Gefahren durch Delta-9-Tetrahydro-Cannabinol (THC). Das psychoaktive Molekül passiert die Blut-Plazenta-Schranke. Es gebe etliche Hinweise aus Studien, dass pränatale Expositionen mit Schäden beim Fötus bzw. beim ungeborenen Kind in Verbindung stünden. Endocannabinoid-Rezeptoren bilden sich bereits in der 14. Schwangerschaftswoche. Sie haben wichtige Funktionen bei der fetalen und postnatalen Gehirnentwicklung, der neuronalen Konnektivität und der Differenzierung von Gliazellen.

Und Endocannabinoide sind als Neuromodulatoren u.a. die für die fetale Gehirnentwicklung essentiell. „Die Zufuhr von Cannabinoiden wie THC kann das fetale Wachstum sowie die strukturelle und funktionelle Gehirnentwicklung beeinträchtigen“, fasst Jansson zusammen.

Sie vermutet außerdem, dass THC die Reifung von Dopamin-, Opioid-, Glutamat- und GABAergen Neurotransmittersystemen beeinflusst, etwa im Nucleus accumbens, in der Amygdala und in kortikalen Regionen. Zeitpunkt und Dauer der Exposition könnten hier eine Rolle spielen, wobei Details noch unbekannt seien. Ärzte wissen jedoch, dass pränatale THC-Exposition das neurologische Verhalten und die Entwicklung bis in die Teenagerjahre negativ beeinflusst. Dazu gehören u.a. motorische Defizite, Schlafstörungen, Lernstörungen, Aggressionen und anderen Entwicklungs- oder Verhaltensauffälligkeiten.

Soziale Schwierigkeiten in Schwangerschaft und Stillzeit

Es geht aber nicht nur um neurobiologische Effekte bei Kindern. Auch die Eltern spielen eine Rolle. „Frauen können trotz bekannter negativer Folgen ihren Konsum nicht mehr kontrollieren und verbringen viel Zeit damit, Cannabis zu beschaffen oder zu konsumieren“, berichtet Jansson. Es komme zur Toleranz und zur Entwicklung von Entzugssymptomen. „Alle diese Symptome können die Fähigkeit einer Mutter beeinträchtigen, sich um ein Kind zu kümmern.“

 
Die Zufuhr von Cannabinoiden wie THC kann das fetale Wachstum sowie die strukturelle und funktionelle Gehirnentwicklung beeinträchtigen. Dr. Lauren M. Jansson
 

Konkret nennen die Autoren Beeinträchtigungen der Aufmerksamkeit, des Urteilsvermögens und der Koordination als potenziell riskante Verhaltensweisen. Auch psychiatrische Komorbiditäten seien zu berücksichtigen. Welche Bedeutung der zusätzliche Konsum von Opioiden, Nikotin oder Alkohol hat, muss noch erforscht werden. 

„Trotz dieser Risiken scheint es, dass Kliniker den Cannabis-Konsum während der Stillzeit nicht ansprechen“, weiß Jansson. In einer Studie mit 74 Laktationsspezialisten befürworteten 85% das Stillen trotz eines bekannten Marihuana-Konsums. Viele nationale Richtlinien formulieren keine Einschränkungen.

Besser informieren, besser behandeln

Die Expertin fordert konsistente medizinische Empfehlungen: „Schwangere und stillende Frauen sollten angewiesen werden, Cannabis-Konsum zu vermeiden, und Eltern, die sich um Kinder kümmern, sollte ebenfalls abstinent sein.“ Deshalb sei es wichtig, niedrigeschwellige Behandlungsprogramme anzubieten.

 
Man muss Frauen vor oder während der Schwangerschaft bzw. Stillenden unbedingt anraten, abstinent zu werden. Prof. Dr. Rainer Thomasius
 

Das bestätigt auch Thomasius: „Man muss Frauen vor oder während der Schwangerschaft bzw. Stillenden unbedingt anraten, abstinent zu werden.“ Er rät zum Screening, um herauszufinden, ob bereits eine Abhängigkeit vorliegt. Mangelnde Einsicht oder Motivation der Patientin seien Gründe zur Vermittlung an die Suchtberatung. Daran orientiere sich die weitere Therapie, ggf. in Suchtambulanzen oder Suchtkliniken.

 

Kommentar

3090D553-9492-4563-8681-AD288FA52ACE
Wir bitten darum, Diskussionen höflich und sachlich zu halten. Beiträge werden vor der Veröffentlichung nicht überprüft, jedoch werden Kommentare, die unsere Community-Regeln verletzen, gelöscht.

wird bearbeitet....