Längere Fixierung nur mit richterlicher Anordnung – aktuelle Leitlinie zeigt Alternativen zum Zwang in der Psychiatrie

Michael van den Heuvel

Interessenkonflikte

25. Juli 2018

Dauern Fixierungen an Beinen, Armen, Bauch, Brust oder Stirn länger als eine halbe Stunde, reichen ärztliche Anordnungen allein nicht aus. Vielmehr ist die Genehmigung eines Richters erforderlich. Werden solche Maßnahmen in der Nacht vorgenommen, muss eine Entscheidung am nächsten Morgen eingeholt werden.

Zu diesen Ergebnissen kam das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe (Az. 2 BvR 309/15 u.a.) in einem aktuellen Urteil [1]. Der Senat bewertet Zwangsmaßnahmen als „Eingriffe in das Grundrecht auf Freiheit der Person“ und deshalb auch als „Ultima Ratio“. Eine zeitgleich veröffentlichte S3-Leitlinie zur Verhinderung von Zwang zeigt Ärzten und Pflegekräften, welche alternativen Möglichkeiten sie in der Praxis haben [2].

„Das ist ein sehr erfreuliches Urteil“, sagt Prof. Dr. Arno Deister in einer Pressemitteilung [3]. Er ist Präsident der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN). Das Urteil schaffe „klare, längst überfällige Regeln, die für alle verbindlich sind“, freut es sich. Geklagt hatten 2 Patienten aus Bayern bzw. Baden-Württemberg. Der Senat gibt beiden Ländern bis 30. Juni 2019 Zeit, verfassungsgemäße Rechtsgrundlagen zu schaffen.

Deister verweist anlässlich des Urteils auf bekannte Probleme in der Psychiatrie: „Es kann nicht sein, dass in unserem Land aufgrund von Personalmangel und einer schlechten Infrastruktur nicht alle Möglichkeiten ausgeschöpft werden können, um auf Zwang zu verzichten.“ Dem müsse sich auch eine moderne und aufgeschlossene Gesellschaft verpflichtet fühlen. „Eine Reihe wissenschaftlich belegter Empfehlungen gibt hier allen in der psychiatrischen Versorgung Tätigen eine hilfreiche Orientierung.“ Die wichtigsten Empfehlungen der neuen DGPPN-Leitlinie im Überblick:

Personal und Weiterbildung

Als Grundlage jeder Betreuung fordern Experten eine quantitativ und qualitativ ausreichende Personalausstattung. Soweit möglich, empfehlen sie empathische, partnerschaftliche Interaktionen zwischen Mitarbeitern und Patienten. Das wird nicht immer möglich sein. Deshalb sollten Angestellte mit spezifischen Risikofaktoren vertraut sein und ihr Handeln daran ausrichten.

Ein wichtiger Bestandteil der Weiterbildung sind Aggressionsmanagement-Trainings mit Deeskalationstechniken und Strategien zum Umgang mit aggressivem Verhalten von Patienten. Angestellte lernen Techniken, um in jeder Phase einer Eskalation richtig zu handeln. Dazu gehört, die eigene Sicherheit zu gewährleisten bzw. Aggressoren nicht zu gefährden.

 
Es kann nicht sein, dass in unserem Land aufgrund von Personalmangel und einer schlechten Infrastruktur nicht alle Möglichkeiten ausgeschöpft werden können, um auf Zwang zu verzichten. Prof. Dr. Arno Deister
 

Reicht das Vorgehen nicht aus, folgen freiheitsbeschränkenden Maßnahmen im gesetzlichen Rahmen. Die Autoren raten außerdem, Mitarbeitern im Anschluss an Patientenübergriffe eine systematische Nachsorge anzubieten. Dies sei zur Prävention psychischer Folgeerkrankungen erforderlich.

„Verhandeln anstatt Behandeln“

Vom Personal zu den Patienten. Alle vertrauensbildenden Maßnahmen zwischen Angestellten und psychisch kranken Menschen seien laut Leitlinie geeignet, vorbeugend gegen aggressive und gewalttätige Verhaltensweisen zu wirken. Angebote unabhängiger Beschwerdeinstanzen in der Einrichtung, Prozesse zur kooperativen Entscheidungsfindungen oder Behandlungsvereinbarungen („Verhandeln anstatt Behandeln“) können einen Beitrag leisten.

Der Abschluss solcher Vereinbarungen kommt als aktives Angebot der Einrichtung bei Patienten mit Zwangsmaßnahmen in der Vorgeschichte zum Einsatz. Solche Dokumente enthalten Absprachen zur Einschaltung externer Vertrauenspersonen, zur Weitergabe von Informationen, zu erfolgreich eingesetzten Medikationen, aber auch zur Deeskalationsstrategie vor unvermeidbaren Zwangsmaßnahmen. Patientenverfügungen können bei korrekter Formulierung ähnliche Zwecke erfüllen.

Architektur und Organisation

Nicht zuletzt wirft die S3-Leitlinie einen Blick auf bauliche Voraussetzungen. „Eine geeignete und qualitativ hochwertige Architektur kann die Häufigkeit von Zwangsmaßnahmen und vermutlich auch aggressiven Vorfällen reduzieren“, heißt es im Dokument. Dies sei bei der Planung und beim Betrieb zu berücksichtigen.

Die Autoren empfehlen, Einrichtungen und Stationen so zu gestalten, dass die Bewegungsfreiheit von Patienten möglichst wenig eingeschränkt wird, beispielsweise über Durchgänge oder offene Türen. Gleichzeitig wird gewarnt, „offene“ Konzepte nicht zu Lasten von Sicherheit umzusetzen.

Auf bekannte Strategien werfen Experten ebenfalls einen kritischen Blick. Manche psychiatrischen Einrichtungen verteilen Patienten in Phasen mit erhöhtem Sicherungsbedarf über alle Stationen, andere betreuen sie lieber gesammelt in einer geschlossen geführten Station. „Gegenwärtig gibt es keine hochwertige Evidenz für eine bestimmte Strategie“, lautet das Fazit. „Eine klare wissenschaftliche begründete Empfehlung kann deshalb nicht gegeben werden.“

Geltungsbereich der Leitlinie

Alle Empfehlungen beziehen sich auf das psychiatrische Versorgungssystem in Deutschland. Sie gelten nicht für die forensische Psychiatrie, nicht bei Kindern und Jugendlichen und nicht bei autoaggressivem Verhalten, Suizidalität oder Selbstgefährdung.

 

Kommentar

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