Die Diskussion ist fast so alt wie die Diabetestherapie selbst: Die Haupt-Mortalitäts- und Morbiditätsursachen bei Typ-2-Diabetikern sind kardiovaskuläre Erkrankungen. Was aber trägt die HbA1c-Senkung zum Schutz vor Herzinfarkt und Schlaganfall tatsächlich bei? Sind Statine, Blutdrucksenker und ASS in der Therapie von Typ-2-Diabetikern vielleicht viel wichtiger als die Blutzuckersenkung? Eine neue Studie hat nun die Position der Verfechter einer intensiven Glukosesenkung (mal wieder) gestärkt.
Das Ergebnis der Studie: Bestimmte Polymorphismen in den für den HbA1c-Wert kodierenden Genen erhöhen möglicherweise das Risiko für koronare Herzkrankheiten, berichtet Dr. Shiu Lun Au Yeung auf Basis einer Mendelschen Randomisierungsstudie [1]. Für andere kardiovaskuläre Erkrankungen, jenseits der KHK, fand er dagegen keine starke Evidenz für einen Zusammenhang. Yeung arbeitet an der School of Public Health, Li Ka Faculty of Medicine, an der Universität von Hong Kong.
Was heißt dies nun für die Praxis? „Die Ergebnisse sind sehr relevant, weil es für Kliniker wichtig ist, Patienten mit erhöhtem Risiko zu erkennen und ihr Risiko möglichst deutlich zu reduzieren“, sagt PD Dr. Julia Szendrödi zu Medscape. Sie forscht am Deutschen Diabetes-Zentrum (DDZ) und am Universitätsklinikum Düsseldorf.
„Yeung versucht, über die Mendelsche Randomisierung nicht nur eine Assoziation darzustellen, sondern die Kausalität (eines Zusammenhangs der Hyperglykämie und dem KHK-Risiko – die Redaktion) mit Fakten zu untermauern.“ Zwar sei dies methodisch nicht zu 100% möglich, aber seine Herangehensweise verstärke die Aussagekraft, dass es Zusammenhänge zwischen dem HbA1c-Wert und koronaren Herzerkrankungen gebe.
Szendrödi ergänzt: „Bei Studien zu oralen Antidiabetika hatte man früher nur den Wunsch, HbA1c-Werte zu verringern.“ Dabei sei unklar gewesen: „Ist das reine Laborkosmetik oder verhindert man in 20 bis 30 Jahren kardiovaskuläre Folgeerkrankungen?“
Zudem habe es keine konsistenten Ergebnisse aus klinischen Studien gegeben: „Interventionsstudien mit älteren, schlechter eingestellten Diabetespatienten (etwa die ACCORD-Studie) zeigten Nachteile einer intensiven glykämischen Kontrolle, während Personen mit neu diagnostiziertem Diabetes (etwa in UKPDS) von guten HbA1c-Werten profitieren.“
Verschiedene Patientenkohorten seien in dieser Hinsicht problematisch. Und bei Beobachtungsstudien könne man störende Einflussfaktoren nicht gänzlich vermeiden. „Diese Nachteile lassen sich mit der auf genetischen Polymorphismen basierenden Mendelschen Randomisierung umgehen.“
Einfluss von HbA1c auf Herz-Kreislauf-Erkrankungen: Offene Fragen
„Beobachtungsstudien legen Assoziationen zwischen Typ-2-Diabetes, HbA1c und diversen kardiovaskulären Erkrankungen nahe, aber eine Vielzahl anderer Parameter, etwa wenig Bewegung oder Übergewicht, könnten natürlich ebenfalls eine Rolle für das kardiovaskuläre Risiko spielen“, schreibt Yeung in seiner Veröffentlichung.
Und er erinnert daran: „Randomisierte kontrollierte Studien wie ACCORD haben überraschenderweise gezeigt, dass eine intensive Blutzuckerkontrolle das Risiko kardiovaskulärer Ereignisse nicht substanziell verringert.“ Ganz im Gegenteil hatte sich bekanntlich in der Studie die Gesamtmortalität langfristig erhöht.
Doch war dies nicht in allen relevanten Studien der Fall. Eine Metaanalyse ergab, dass eine intensive Senkung des HbA1c-Werts bei Patienten mit Typ-2-Diabetes durchaus die Zahl schwerer kardiovaskulärer Ereignisse und von Herzinfarkten senkt. Es fand sich dabei aber kein Einfluss der Blutzuckersenkung auf die Gesamtmortalität, das Risiko eines Schlaganfalls oder einer Herzinsuffizienz.
Andererseits waren in Studien wie LEADER und EMPA-REG OUTCOME HbA1c-senkende Therapien mit dem GLP-1-Analogon Liraglutid oder dem SGLT2-Hemmer Empagliflozin durchaus mit einem kardiovaskulären Benefit assoziiert. Auch eine Metformin-Therapie, die das HbA1c verringert, könnte das Risiko für kardiovaskuläre Ereignisse und die kardiovaskuläre Mortalität verringern ( Medscape berichtete).
„Randomisierte kontrollierte Studien mit dem Ziel, den HbA1c-Wert zu senken, sind schwer zu interpretieren“, schreibt Yeung. Denn die Interventionen haben nunmal diverse Effekte – nicht nur auf den Blutzucker und nicht nur auf Herz-Kreislauf-Erkrankungen. „Außerdem bleibt unklar, ob sich einzelne Ergebnisse aus RCTs auf die gesamte Bevölkerung übertragen lassen.“
Design einer Mendelschen Randomisierungsstudie
Deshalb verfolgte er eine andere Strategie. Während in den Interventionsstudien der HbA1c-Wert unter einem Arzneistoff und Placebo verglichen wurde, übernimmt das bei den Mendelschen Randomisierungsstudien die Natur, da genetische Polymorphismen unterschiedliche HbA1c-Werte bedingen. Die Randomisierung erfolgt dabei natürlich während der Meiose, indem Gene nach dem Zufallsprinzip verteilt werden.
Yeungs Idee war, Einzelnukleotid-Polymorphismen (SNPs) mit starkem Einfluss auf den HbA1c-Wert zu identifizieren. Im nächsten Schritt wurde ermittelt, ob es eine Assoziation zwischen den unterschiedlichen SNPs und dem Risiko von Herz-Kreislauf-Erkrankungen gab. Sein Setting funktioniert unter diesen Bedingungen:
Es existieren SNPs mit starkem Einfluss auf den HbA1c-Wert.
Die SNPs beeinflussen kardiovaskuläre Erkrankungen nicht direkt.
Das Risiko kardiovaskulärer Erkrankungen wird über den HbA1c-Wert vermittelt.
Diese 3 Kriterien überprüfte Yeung in mehreren Schritten. Er arbeitete mit Daten des MAGIC-Konsortiums (Meta-Analyses of Glucose and Insulin-related traits Consortium), einer genomweiten Assoziationsstudie mit 159.940 Teilnehmern. So identifizierte er 38 SNPs als genetische Marker. Diese Polymorphismen beeinflussen den HbA1c-Wert, erwiesen sich aber als unabhängig von weiteren Faktoren. Sie wurden als Instrumente bei CARDIoGRAMplusC4D (Coronary ARtery DIsease Genome wide Replication and Meta-analysis [CARDIoGRAM] plus The Coronary Artery Disease [C4D] Genetics) validiert.
Basis waren 60.801 KHK-Patienten und 123.504 gesunde Kontrollen. Zu den eingeschlossenen Erkrankungen gehörten Herzinfarkte, akute Koronarsyndrome, chronisch stabile Angina pectoris oder Koronarstenosen (>50%).
UK-Bioproben-Bank mit mehr als 500.000 Datensätzen
Nach diesen Vorarbeiten wendete Yeung die SNPs auf eine britische Biobank an. Insgesamt gab es bei 392.038 von 502.642 Personen vollständige Datensätze. Neben Laborparametern wurden auch Diagnosen gemäß ICD-9 und ICD-10 erfasst. Insgesamt hatten 151.068 Patienten ausgeprägte kardiovaskuläre Erkrankungen, darunter waren 29.293 mit KHK, und 9.042 mit Schlaganfällen (3.072 ischämische und 1.655 hämorrhagische Schlaganfälle). Seit Beginn der Rekrutierung im Jahr 2006 war es zu 2.313 kardiovaskulär bedingten Todesfällen gekommen.
Dabei war der HbA1c-Wert nicht generell mit kardiovaskulären Erkrankungen assoziiert (Odds Ratio 1,11 pro % HbA1c, 95% KI 0,83-1,48). Allerdings fand Yeung eine starke Assoziation mit koronaren Herzerkrankungen, was Befunde aus älteren Beobachtungsstudien bestätigt (OR 1,50 pro % HbA1c, 95% KI 1,08-2,11).
Dieser Effekt zeigte sich noch deutlicher, wenn die Wissenschaftler potenziell weniger geeignete SNPs ausschlossen (OR 2,24 pro % HbA1c, 95% KI 1,55-3.25). Eine Assoziation des HbA1c mit Schlaganfällen erwies sich aufgrund der geringen Fallzahlen als nicht eindeutig nachweisbar.
„Das HbA1c kann als eine Ursache für die Entwicklung koronarer Herzerkrankungen in der Bevölkerung bewertet werden“, lautet das Fazit. „Unsere Studie findet im Unterschied zu früheren Beobachtungsstudien jedoch keine starke Evidenz, dass HbA1c-Werte generell mit kardiovaskulären Erkrankungen assoziiert sind.“
Zur Erklärung des Unterschieds führt Yeung Störfaktoren oder ein Bias bei der Auswahl der Studienteilnehmer in Beobachtungsstudien an. Gerade aufgrund der geringen Zahl an Patienten mit Schlaganfall seien weitere Untersuchungen in diesem Bereich erforderlich.
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Diesen Artikel so zitieren: HbA1c gesenkt – vor KHK geschützt? Neue große Studie zu HbA1c-Genvarianten lässt auf kausale Verbindung schließen - Medscape - 24. Jul 2018.
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