„Erschreckende Zahlen“: Gewalt gegen Ärzte nimmt drastisch zu – KBV will neue Gesetze, ein Gewaltpräventions-Coach gibt Tipps

Christian Beneker

Interessenkonflikte

20. Juli 2018

Ärztevertreter sparen derzeit nicht mit drastischen Worten. Von "Verrohung" ist die Rede, von "populistischem Ärztebashing" und "verbaler Kriminalisierung". Anfang Mai haben sich die Kassenärztliche Bundesvereinigung und der NAV-Virchow-Bund mit den ersten Hochrechnungen des jüngsten Ärztemonitors zum Thema Gewalt gegen Ärzte zu Wort gemeldet. Beide fordern, die Gesetze zu verschärfen, um Ärzte und Praxisangestellte besser vor Übergriffen zu schützen [1].

Aus gutem Grund, wie Dr. Dirk Heinrich, Bundesvorsitzender des NAV-Virchow-Bundes, berichtet. "Gewalt ist längst Alltag in unseren Praxen", so Heinrich. Er führt seine Praxis in Hamburg Billstedt, einem Problemviertel der Stadt. "Da kann es wegen einer verweigerten AU-Bescheinigung schon zum Krach kommen. Die allgemeine Verrohung und ein immer höheres Anspruchsdenken sind die Ursachen dafür", so Heinrich.

1.000 Beleidigungen pro Tag

In der Tat: In deutschen Arztpraxen kommt es durchschnittlich 75 Mal pro Arbeitstag zu körperlicher Gewalt. "Die Zahlen, die die Umfrage zutage fördert, sind erschreckend", sagt Heinrich. Jeder 4. Vertragsarzt hat in seinem Arbeitsleben schon einmal körperliche Gewalt durch einen Patienten erlebt, so die 1. Auswertung von rund 11.000 Befragungen, die das Infas-Institut für die KBV und den NAV-Virchow-Bund vorgenommen hat. Jeder 6. Praxis-Arzt hatte im letzten Jahr Kontakt mit körperlicher Gewalt (17%), das sind 25.050 Vertragsärzte.

Weitaus häufiger haben es Ärzte und ihre Mitarbeiter mit verbaler Gewalt zu tun. "Vier von zehn Ärzten hatten im letzten Jahr Kontakt mit verbaler Gewalt, was 18.470 Vertragsärzten entspricht. Dabei berichtet jeder Arzt im Schnitt von 10 Fällen verbaler Gewalt im Jahr. Das sind 184.700 Vorfälle im Jahr, also bei jährlich 200 Arbeitstagen knapp 1.000 Vorfälle an einem Tag", teilt der Virchow Bund mit. Körperliche Gewalt findet gegenüber Ärztinnen und Ärzten gleichermaßen häufig statt (16% und 17%).

Die Zahlen, die die Umfrage zutage fördert, sind erschreckend. Dr. Dirk Heinrich

Ein weiteres Ergebnis der Umfrage: Je größer die Praxis ist, desto eher kommt es zu verbalen Attacken. Je kleiner die Praxis, desto häufiger ist körperliche Gewalt.

Die meisten Ärzte nehmen das Problem offenbar hin, ohne entsprechende Maßnahmen zu ergreifen. Nur jeder 4. betroffene Arzt erstattet Anzeige, so der NAV-Virchow-Bund. Die Täter bleiben in der Regel unbehelligt. Mindestens das solle sich ändern, meint Heinrich. "Die Ärzte sollten die Übergriffe auf jeden Fall anzeigen! In meiner Praxis gehen wir konsequent gegen Rüpel vor und bringen eventuelle Vorfälle in jedem Fall zur Anzeige. So hat sich schnell herumgesprochen, dass bei uns auch Beleidigungen nicht ok sind."

Die Ärzte sollten die Übergriffe auf jeden Fall anzeigen! Dr. Dirk Heinrich

Härtere Strafen?

Sowohl KBV als auch der NAV-Virchow-Bund fordern nun wegen der Gewalt in den Praxen neue gesetzliche Regelungen vom Gesetzgeber. Nach ihrer Ansicht sollen Ärzte in den Straftatbestand "Tätlicher Angriff auf Vollstreckungsbeamte (§ 114 StGB)" aufgenommen werden. Damit wären sie den Vollstreckungsbeamten und Rettungskräften gleichgestellt. Die Rettungskräfte wurden erst vor einem Jahr durch § 115 "Widerstand gegen oder tätlicher Angriff auf Personen, die Vollstreckungsbeamten gleichstehen" in den erweiterten Straftatbestand aufgenommen.

Diese Forderung sieht man beim Bundesjustizministerium (BMJV) kritisch. "Grundsätzlich unterscheidet das Strafrecht nicht nach Opfergruppen", sagt Maxilian Kall vom BMJV. "Die Rettungskräfte wurden ausnahmsweise aufgenommen, weil sie polizeiähnlich arbeiten und in der Vergangenheit besonders oft körperlicher Gewalt ausgesetzt waren." Außerdem übten die Rettungs- und Einsatzkräfte die staatliche Funktion des Rettungsdienstes aus, hieß es. Deshalb seien sie für den Staat besonders schutzwürdig.

Zudem gebe es bei niedergelassenen Ärzten und ihren Mitarbeitern sowie für Krankenhausärzte und -personal keine Rechtslücke, nur weil sie vom neuen Gesetz nicht explizit mit eingeschlossen werden, betont Kall. Wenn es in einer Praxis zu Gewalt kommt, greife das Strafrecht bei verbaler oder körperlicher Gewalt auf die Straftatbestände Nötigung, Körperverletzung oder gefährliche Körperverletzung zurück. "Darauf stehen je nach Fall bis zu zehn Jahre Haft", sagt Kall.

"Gewalt kommt nicht aus heiterem Himmel"

Ob die Drohung einer höheren Strafe gegen aggressive Patienten im Behandlungszimmer helfen würde, ist offen. Dr. Martin Eichhorn, Trainer für Gewaltprävention aus Berlin, meint, der Gewalt solle von vorneherein der Nährboden entzogen werden: "Das beste Mittel gegen Gewalt ist Zuwendung und ein guter, verbindlicher Umgangston sowohl mit den Patienten als auch im Praxisteam." Gewalt komme eben nicht aus heiterem Himmel. Sie kann deshalb schon im Vorfeld minimiert werden – auch durch kurze Wartezeiten. "Wer flott ins Behandlungszimmer gebeten wird, dem schwillt selten der Kamm."

Beleidigungen, Schläge oder Würgen kommen vor. Manche Patienten führen Waffen mit sich, die bei der Untersuchung sichtbar werden. Dr. Martin Eichhorn

Trotzdem könnten körperliche Gewalt oder Beleidigungen nie vollständig vermieden werden, sagt Eichhorn. Selbst wenn die Atmosphäre und der Umgangston tadellos sind, könne es knallen. "Beleidigungen, Schläge oder Würgen kommen vor. Manche Patienten führen Waffen mit sich, die bei der Untersuchung sichtbar werden, etwa am Gürtel", berichtet Eichhorn. "Bei verbalen Attacken muss der Praxischef konsequent handeln. Entweder kann er den Patienten zur Rede stellen oder sein Hausrecht geltend machen und ihn der Praxis verweisen", erklärt Eichhorn.

Und wenn es hart auf hart kommt? Dann sind vereinbarte Fluchtwege aus der Praxis ebenso hilfreich wie Codewörter, mit denen sich die Mitarbeiter des Praxisteams gegenseitig warnen können. Auch sollten praxisinterne Handlungsleitfäden klar vorgeben, was zu tun ist, wenn ein Patient ausflippt. "Man sollte sich jedoch niemals auf einen Kampf einlassen", betont Eichhorn. "Im Zweifel ist der Aggressor entschlossener und den Umgang mit Gewalt gewohnt."

Hilfreich ist es, die Stimme als Waffe einzusetzen und den gewalttätigen Patienten anzuschreien, rät Eichhorn. Denn Lärm verstört. Man könne auch Ekel hervorrufen und Erbrechen simulieren. "Bei plötzlichen Ekelgefühlen weicht jeder Mensch zurück", so Eichhorn

Heinrich brauchte auf diese Kniffe nicht zurückgreifen, als ihn eines Tages ein Patient attackierte. "In dem Stadtviertel, in dem meine Hamburger Praxis liegt, gibt es viele kräftige Jungs", berichtet Heinrich. "Als ich in der Praxis angegriffen wurde, kamen mir zwei von ihnen aus dem Wartezimmer zu Hilfe und haben den Querulanten kurzerhand rausgeschmissen."

 

 

Kommentar

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