Bei Patienten sind vermeintliche oder tatsächliche Penicillin-Allergien mit häufigeren Methicillin-resistenten Staphylococcus aureus- (MRSA) und Clostridium difficile-Kolonisationen assoziiert. Das vermuten Dr. Kimberly G. Blumenthal von der Division of Rheumatology, Allergy and Immunology, Department of Medicine, am Massachusetts General Hospital Boston und ihre Kollegen. Basis ihrer Veröffentlichung im British Medical Journal ist eine Kohortenstudie [1].
Sie führt erhöhte Risiken größtenteils auf den Einsatz von Breitband-Antibiotika als Alternativen zu Penicillin zurück. In vielen Fällen sei dies nicht erforderlich, da Patienten keine Unverträglichkeit hätten, schreibt die Erstautorin.
„Hier handelt es sich um eine riesige Kohorte, bessere Daten wird man kaum bekommen“, sagt PD Dr. Frank Hanses vom Klinikum der Universität Regensburg und von der Deutschen Gesellschaft für Infektiologie (DGI) zu Medscape. „Deutsche Daten in der Größenordnung werden wir nie bekommen.“ Er ergänzt: „Die Autoren haben ihren Finger sprichwörtlich in eine Wunde gelegt.“ Der Studie zufolge komme es durch Antibiotika mit breiterer Wirkung zu Kollateralschäden. „Vor allem Clindamycin und Fluorchinolone hatten wir hinsichtlich von MRSA bzw. Clostridien schon immer in Verdacht.“
Hanses bewertet die Ergebnisse als „extrem plausibel“ und ergänzt: „Wir haben im Alltag auch Penicillin-Allergien recht häufig aus der Anamnese heraus.“ Es sei „1:1 auf Deutschland übertragbar, dass die meisten Patienten wahrscheinlich keine echte Penicillin-Allergie haben“.
Das erklärt Hanses so: „Die meisten Patienten haben ein Antibiotikum mal nicht vertragen, hatten vielleicht nur gastrointestinale Nebenwirkungen.“ Für Ärzte sei es schwierig, dies nur im Gespräch von echten Anaphylaxie-Risiken abzugrenzen. Im Zweifelsfall würden andere Wirkstoffe eingesetzt. „Dass die Strategie bei Patienten handfeste Nachteile in Form von Resistenzen hat, beachten nur wenige Ärzte“, so Hanses.
Mehr Breitband-Antibiotika – mehr resistente Keime
Um herauszufinden, welche Auswirkungen vermeintliche oder tatsächliche Penicillin-Allergien haben, werteten Blumenthal und ihre Kollegen Daten von 301.399 Erwachsenen aus. Sie wurden zwischen 1995 und 2015 im britischen Gesundheitssystem hausärztlich behandelt, ohne dass es Hinweise auf MRSA bzw. C. difficile gab. Bei der Analyse medizinischer Aufzeichnungen fand sie 64.141 Personen, bei denen Ärzte eine Penicillin-Allergie vermerkt hatten.
Aufgrund der vorliegenden Daten sei die Diagnose:
bei 176 Personen (0,3%) vorläufig, etwa aufgrund ausstehender Untersuchungsergebnisse,
bei 294 (0,5%) unwahrscheinlich,
bei 6.812 (10,8%) möglich,
bei 46.545 (73,6%) wahrscheinlich,
bei 9.141 (14,5%) recht wahrscheinlich und
bei 236 Personen (0,4%) absolut sicher.
Allergische Reaktionen wurden angegeben:
bei 117 Personen (0,2%) als minimal,
bei 5.193 (8,2%) als mild,
bei 54.372 (86,0%) als moderat,
bei 3.054 (4,8%) als schwer,
bei 320 (0,5%) als sehr schwer und
bei 146 (0,2%) als lebensbedrohlich.
237.258 Personen ohne solche Eintragungen kamen als Kontrollen mit hinzu.
In der gesamten Kohorte infizierten sich 1.365 Personen mit MRSA. Darunter waren 442 mit Penicillin-Allergie und 923 in der Vergleichsgruppe. C. difficile trat in 1.688 Fällen auf, und zwar bei 442 Versicherten mit Penicillin-Allergie und bei 1.246 Kontrollen.
Im Mittel lag das Follow-up bei 6 Jahren. In der Gruppe mit Penicillin-Allergie fand Blumenthal als bereinigte Hazard Ratio 1,69 (MRSA) bzw. 1,26 (C. difficile), verglichen mit der Kontrollgruppe.
Anschließend werteten die Autoren Verordnungen aus: Bei Penicillin-Allergie setzten Ärzte alternativ Makrolide (Inzidenzrate 4,15), Clindamycin (3,89) oder Fluorchinolone (2,10) ein. Damit erklären sie 55% aller zusätzlichen MRSA- und 35% aller zusätzlichen C. difficile-Fälle.
Pharmakologische Alternativen häufig überflüssig
Blumenthal zufolge seien viele Änderungen der Medikation jedoch überflüssig. Rund 10% aller Patienten berichten im Anamnesegespräch von einer vermeintlichen oder tatsächlichen Penicillin-Allergie. Ärzte nehmen die Information in Patientenakten auf und ändern ihr Verschreibungsverhalten, ohne die Information zu hinterfragen. Sie setzen häufiger Reservesubstanzen ein, obwohl das nicht immer erforderlich wäre.
Wie Medscape berichtet hat, stellen Experten viele der genannten Unverträglichkeiten bei Kindern und Erwachsenen infrage. „Hierzulande ist davon auszugehen, dass höchstens 10 bis 20 Prozent der anamnestisch genannten Penicillin- bzw. β-Lactam-Allergien solche sind“, sagt Prof. Dr. Knut Brockow vom Klinikum rechts der Isar der TU München.
Das bestätigt auch PD Dr. Jörg-Janne Vehreschild vom Universitätsklinikum Köln: „Oft geht sie lediglich auf anekdotische Angaben der Patienten zu einem Hautausschlag nach Tabletteneinnahme zurück, die vielleicht vom damals behandelnden Arzt als Penicillin-Allergie bezeichnet wurde, ohne dass jemals ein qualifizierter Allergietest vorgenommen wurde.“
Dr. Keith A. Sacco vom Department of Internal Medicine an der Mayo Clinic Jacksonville, USA, und seine Kollegen veröffentlichten eine Metaanalyse und Review zum Thema. Demnach fanden Allergologen bei 95,1% aller Patienten mit vermeintlicher Penicillin-Allergie keine Hinweise im Test.
In der Notaufnahme vertrauen Ärzte den Aussagen von Patienten oder Angehörigen. Aus Zeitgründen sind keine Tests möglich. Um keine unerwünschten Reaktionen zu provozieren, wird im Zweifelsfall die Medikation angepasst.
Stärken und Schwächen der Studie
Mit ihrer Beobachtungsstudie zeigt Blumenthal Assoziationen, aber keine Kausalitäten. Als Stärken nennt sie die große, repräsentative Stichprobe. Außerdem hätten ältere Studien im klinischen Bereich zu ähnlichen Ergebnissen geführt.
Wie viele Versicherte tatsächlich eine Penicillin-Allergie hatten und wie viele sich vielleicht symptomlos mit MRSA bzw. C. difficile infiziert hatten, können die Autoren nicht sagen. Ärzten rät Blumenthal, im Anamnesegespräch genannte Penicillin-Allergien kritisch zu hinterfragen und – falls die Zeit bleibt – zu testen.
Medscape Nachrichten © 2018 WebMD, LLC
Diesen Artikel so zitieren: Fehldiagnose ‚Penicillin-Allergie‘: Mehr Resistenzen durch zu viele Breitband-Antibiotika – „Finger in die Wunde gelegt“ - Medscape - 12. Jul 2018.
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