Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen hat sein jüngstes Gutachten vorgelegt. „Unsere Analysen der vorhandenen Angebote und der konkreten Inanspruchnahme ambulanter und stationärer Leistungen lassen erkennen: Trotz vielfältiger Reformgesetze gibt es weiterhin – nebeneinander – Über-, Unter-und Fehlversorgung im deutschen Gesundheitssystem“, sagt der Vorsitzende des Sachverständigenrats, Prof. Dr. Ferdinand Gerlach. „Wir empfehlen, hier mit einem Bündel von Maßnahmen gegenzusteuern“. In dem Gutachten „Bedarfsgerechte Steuerung der Gesundheitsversorgung“ legen die 7 Mitglieder des Rates auf über 700 Seiten ihre Empfehlungen zu 7 Themenkreisen vor [1].
Die Versorgung mit Arztpraxen besser planen
Vertragsarztsitze sollen künftig nicht mehr einfach an den Meistbietenden gehen. Denn längst kaufen Medizinische Versorgungszentren (MVZ) oder andere Investoren reihenweise Praxen auf – und zwar zu horrenden Preisen. Da kommt der einzelne Arzt nicht mehr mit. Zudem entziehen die Investoren ihre Praxen so der Bedarfsplanung. Deshalb will der Rat die Zulassung zeitlich beschränken, etwa auf 30 Jahre bei MVZ-eigenen Praxen. In Gebieten, in denen sich eine Unterversorgung anbahnt, sollen Arztsitze bereits 5 Jahre vor der voraussichtlichen Aufgabe des Sitzes nachbesetzt werden können.
Auch am Geldhahn will der Rat drehen. Er schlägt Landarztzuschläge vor (bis zu 50% Zuschlag auf Grundleistungen) und eine „morbiditätsorientierte Pauschalvergütung“ hausärztlicher Patienten, wobei spezifische Leistungen weiterhin einzeln vergütet werden sollen.
Die Krankenhausversorgung besser planen
Geht es nach dem Willen des Rates, so wird der stationäre Bedarf zukünftig nicht mehr anhand der Zahl der Krankenhausbetten geplant, sondern „durch eine leistungsorientierte Planung“, wie es hieß. So werden Mortalität, Morbidität, der medizinische Fortschritt und die Patientenwünsche die entscheidenden Parameter sein. Auch Personal- und Geräteausstattung der Krankenhäuser sollen berücksichtigt werden. Ein obligatorisches Zweitmeinungsverfahren werde helfen, etwa die überbordende Zahl der Hüft-TEP-Operationen und andere „mengenanfällige Eingriffe“ auf das Maß des Notwendigen zu reduzieren.
Außerdem spricht sich der Rat für eine monistische Krankenhausfinanzierung aus. Das heißt: Versorgung und Investitionen flössen künftig aus dem Säckel der Krankenkassen. Dazu sollen die Krankenhäuser mit den Kassen entsprechende Verträge abschließen. Das zusätzlich nötige Geld könnte durch Steuern oder einen höheren Kassenbeitrag aufgebracht werden, um die Unterfinanzierung zu beenden.
Allerdings sieht der Rat hier kaum Chancen, dass seine Forderungen umgesetzt werden. Deshalb setzt er auf Verstetigung und Ausbau des Strukturfonds. „Der Bundesanteil soll aus Steuermitteln – statt durch den Gesundheitsfonds – getragen werden. Im Gegenzug sollte der Bund eine koordinierende Rolle erhalten“, sagt der stellvertretende Vorsitzende des Rates, Prof. Dr. Eberhard Wille, laut einer Pressemitteilung.
Die sektorübergreifende Versorgung gezielt steuern
Die Verträge zur integrierten Versorgung haben die sektorübergreifende Medizin zu wenig verbessert, so der Rat. Deshalb soll auf regionaler Ebene eine Art Mini-G-BA (Gemeinsamer Bundesausschuss) tätig werden. Er würde anhand regionaler Mortalität in einer Region die sektorübergreifende Versorgung planen und verantworten.
Krankenhäuser könnten in diesem Zusammenhang zeitlich begrenzte Aufträge zur ambulanten Versorgung erhalten. Die sektorübergreifende Vergütung müsse anhand eines Katalogs „hybrider Leistungen“ nach dem Motto „gleicher Preis für gleiche Leistung“ bezahlt werden.
Patientensteuerung – Königsweg HzV
Der Rat empfiehlt, die hausarztzentrierte Versorgung (HzV) auszubauen, weil ein koordinierender Hausarzt auch die fachärztliche Versorgung effizienter macht. Sollten Patienten einen Facharzt aufsuchen ohne Überweisung vom Hausarzt, hält der Rat auch eine „Facharztkontaktgebühr“ für denkbar (Ausnahmen wären Haus- und Augenärzte, Gynäkologen, Psychiater und Arztbesuche von Minderjährigen beim hausärztlich tätigen Kinderarzt).
Auch das Know-how der Patienten über gesundheitliche Themen müsse ausgebaut werden, meint der Rat, und zwar „um die kritische Auseinandersetzung mit Gesundheitsinformationen zu verbessern“, so das Gutachten.
Im Rahmen des Entlassmanagements aus dem Krankenhaus empfiehlt der Rat, die Mitgaberegeln von Medikamenten zu erweitern. Die Medikation sollte dem Patienten nach seiner Entlassung für eine ganze Woche verschrieben werden dürfen.
Sorgenkind Notfall-Versorgung
Bereitschaftsdienst, Rettungsdienst und Notaufnahme sollen künftig durch eine Integrierte Leitstelle (ILS) mit einer einheitlichen Telefonnummer koordiniert werden, um das Gedränge etwa in den Notaufnahmen der Krankenhäuser zu lichten. Breit ausgebildete Ärzte in den ILS schätzen dann das Problem des Anrufers ein und wählen den passenden Versorgungspfad, sei es ein Hausbesuch, der Rettungsdienst oder der „Verweis auf die reguläre vertragsärztliche Versorgung“, so das Gutachten.
Entsprechend sollen an den Krankenhäusern integrierte Notfallzentren geschaffen werden, die den bisherigen Flickenteppich aus Bereitschaftsdienstpraxen und Notfallambulanzen ersetzen. Eine Triage der Patienten am Eingangstresen des Notfallzentrums würde über den Versorgungsweg entscheiden.
Die sektorübergreifende Notfallversorgung soll extrabudgetär bezahlt werden. Die integrierten Praxen sollen nur an besonders geeigneten Kliniken eingerichtet werden, die zum Beispiel über eine 24-Stunden-Bereitschaft für Computertomografie verfügen.
Bewegung hilft – Maßnahmen gegen Rückenschmerzen
Offenbar braucht es den Sachverständigenrat, um noch einmal auf das längst Bekannte hinzuweisen: Ärzte sollen ihre Patienten mit `unspezifischem Rücken´ verpflichtend darüber aufklären, dass Bewegung besser ist als Bettruhe, und bildgebende Verfahren „in der Regel nicht zielführend sind“.
Vor allem müsse leitliniengerecht behandelt werden, hieß es. Der Rat spricht sich zudem für den Direktzugang zur Physiotherapie aus, also ohne Verordnung durch den niedergelassenen Arzt. Zugleich gehören die Operationen eingedämmt, meint der Rat. Deshalb plädiert er für ein verpflichtendes Zweitmeinungsverfahren gemäß der Zweitmeinungsrichtlinie des G-BA.
Die Versorgung psychisch Kranker braucht die ordnende Hand
Vor allem soll die ambulante Versorgung durch Tagesklinken und niedergelassene Psychiater und die teilklinische Versorgung ausgebaut werden, so der Rat, zum Beispiel in „Zentren für seelische Gesundheit“. Für eine breitere ambulante Versorgung müsse auch die faktische Auslastung der schon vergebenen KV-Sitze für Psychotherapie überprüft werden. Sollten Sitze nicht ganz ausgelastet sein, schlägt der Rat vor, „ggf. anteilige Sitze zu ermöglichen“. Bei vollstationären Einrichtungen dagegen rät der Rat zur Zurückhaltung.
Die Koordination der Behandlung sollte ein „bestimmter Leistungserbringer je Patient“ individuell übernehmen. Für die telemedizinische Behandlung von psychisch erkrankten Patienten zum Beispiel in ländlichen Gebieten soll das Fernbehandlungsverbot gelockert werden. Generell plädiert der Rat hier für standardisierte telemedizinische Angebote.
Die zur Verfügung stehenden Mittel müssen „gezielt und nachhaltig eingesetzt werden“, kommentiert der Ratsvorsitzende Gerlach die Empfehlungen: „Damit soll jeder eine Versorgung erhalten, die aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen, seinem objektiven Bedarf und in diesem Rahmen auch seiner informierten Entscheidung entspricht.“
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Diesen Artikel so zitieren: Sachverständigenrat analysierte Versorgungsbedarf: Die wichtigsten Ratschläge aus dem 700-Seiten-Gutachten - Medscape - 11. Jul 2018.
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