Kassel – Seit Jahren warnen Ärzte, Diätassistenten und andere Ernährungsexperten vor den Folgen einer Mangelernährung. Doch: Die Zahlen sind weiterhin alarmierend. Dies war eine zentrale Botschaft beim Kongress „Ernährung 2018“ in Kassel [1]. Ärzte und Ernährungswissenschaftler machten sich dafür stark, Mangelernährte künftig schneller zu identifizieren – etwa mithilfe von Screenings bei Klinikaufnahme.

Prof. Dr. Christian Löser
In Deutschland sind über 1,5 Millionen Menschen mangelernährt, informierte Prof. Dr. Christian Löser, Chefarzt der Medizinischen Klinik der DRK-Kliniken Nordhessen in Kassel. „Jeder vierte stationär in ein Krankenhaus aufgenommene Patient hat Anzeichen einer Mangelernährung“, so der Kongresspräsident. Die Tagung stand unter dem Motto „Ernährung ist Therapie und Prävention“ und wurde von der Deutschen Gesellschaft für Ernährungsmedizin e.V. (DGEM), vom Bundesverband Deutscher Ernährungsmediziner e.V. (BDEM) sowie vom Berufsverband Oecotrophologie e.V. (VDOE) veranstaltet.
Mangelernährt, stellte Löser klar, sind nicht nur dünne Menschen. Auch Dicke, die sehr schnell ohne gezielte Diät viel abnehmen, rutschen häufig in den Mangel, obwohl sie noch immer normal- bis übergewichtig sind. Ihnen fehlt es jedoch an Muskelmasse und wichtigen Nährstoffen. „Adipös und mangelernährt zugleich – das gibt es“, erklärte Löser. „Mangelernährung ist keine Primavista-Diagnose.“
Die DGEM-Definition von krankheitsassoziierter Mangelernährung umfasst alle, die
ungewollt einen Gewichtsverlust von mehr als 10% binnen 3 bis 6 Monaten hatten,
einen Body-Mass-Index (BMI) von unter 18,5 kg/m² haben oder
einen BMI unter 20 kg/m² aufweisen und einen unbeabsichtigten Gewichtsverlust von mehr als 5% in den letzten 3 bis 6 Monaten hatten.
Vielfältige Ursachen – gravierende Folgen
Löser zählte einige Ursachen der Mangelernährung inmitten von Überfluss auf:
soziale Isolation,
schlechter Zahnstatus oder schlechtsitzende Prothesen,
Demenz,
Depressionen,
Alkoholabhängigkeit und
Armut.
Manchmal ist es erst die konsumierende Erkrankung, die den Gewichtsverlust auslöst. Konsumierende Erkrankungen erhöhen den Grundumsatz und zehren aus. Der Patient freut sich womöglich, scheinbar ohne Anstrengungen abgenommen zu haben, dabei zehren Tuberkulose, AIDS oder – besonders häufig – Krebs seine Reserven auf. „Jeder Zweite in der Onkologie hat bei Diagnose einen Gewichtsverlust“, informierte Löser.
Im Idealfall wird dieser Gewichtsverlust sofort mitbehandelt. Denn viele internationale Studien zeigen, welche Folgen dauerhafte Mangelernährung bei schwer Erkrankten hat. Eine britische Analyse von 2006 ermittelte, dass mangelernährte Senioren häufiger zum Arzt und ins Krankenhaus müssen als adäquat ernährte. Zudem landen sie nach Klinikaufenthalten verstärkt in Pflegeeinrichtungen, statt wieder selbstständig leben zu können.
Eine Ende 2017 publizierte Studie aus Kanada zeigte um 18 bis 32% verlängerte Klinikaufenthalte bei Mangelernährten und insgesamt um ein Drittel erhöhte Behandlungskosten. Löser veröffentlichte schon 2010 einen Artikel, der internationale Studienergebnisse zur Mangelernährung vorstellte. In allen Studien fand sich unter Mangelernährten eine höhere Letalität, eine höhere Komplikationsrate und längere Verweildauer in Kliniken. Wurden die Patienten befragt, berichteten Mangelernährte von einer verminderten Lebensqualität.

Prof. Dr. Hartmut Bertz
Prof. Dr. Hartmut Bertz, Oberarzt der Klinik für Innere Medizin I und Sektionsleiter Ernährungsmedizin und Diätetik am Universitätsklinikum Freiburg, verdeutlichte auf dem Kongress die Nachteile, die Krebskranke haben, wenn sie an Mangelernährung leiden: „Sind Patienten mangelhaft mit Mikronährstoffen versorgt, gibt es mehr Komplikationen bei dringenden Interventionen“, berichtete er. „Die Wundheilung ist schlechter, die Chemotherapie wird schlechter vertragen, die Patienten haben mehr Infekte. Wird die Chemotherapie deswegen unterbrochen, haben die Tumorzellen mehr Zeit, sich zu erholen.“ Die Überlebensrate sinkt. Wer mit Mangelernährung überlebe, so Bertz, fühle sich oft schlapp, müde und depressiv.
Bertz und Löser rechneten vor, wie teuer die Folgen von Mangelernährung die Gesundheitssysteme zu stehen kommen. Löser erwähnte eine aktuelle Hochrechnung für die gesamte EU – ihr zufolge verursacht die Mangelernährung pro Jahr unmittelbare Kosten von 170 Milliarden Euro.
Mit kurzen Screenings Leben retten
„Im Gegensatz zum Problem Überernährung ist das Problem Mangelernährung bei rechtzeitigem Erkennen schnell und effizient behandelbar“, sagte Löser. Er selbst forscht seit Jahrzehnten zum Thema und hat in seiner Klinik ein Konzept implementiert, um Patienten mit Mangelernährung rasch zu identifizieren und zu therapieren – das „Kasseler Modell“.
Die wichtigsten Säulen davon sind:
Screenings aller stationären Patienten bei Aufnahme: „So ein Screening dauert 3 bis 4 Minuten, und mit seiner Hilfe können wir uns die Hochrisiko-Patienten herauspicken“, erklärte Löser. Er empfahl für die Screenings 2 Fragebögen: das Nutritional Risk Screening (NRS-2002) und das Subjective Global Assessment (SGA). Beide ermitteln unter anderem, welchen Anteil seines Gewichts ein Patient in den letzten Monaten verloren hat und wie umfangreich die Nahrungsaufnahme in der letzten Woche war. Beim SGA stehen zudem der Verlust von subkutanem Fettgewebe, Ödeme und Muskelschwund auf dem Prüfstand.
Wenn sich der Verdacht erhärtet, bekommt der Patient eine professionelle, individuelle Ernährungsberatung. Dafür steht ein interdisziplinäres Ernährungsteam zur Verfügung.
Es gibt standardisierte Ernährungsregimes und -ziele.
Je nach Bedarf und Gesundheitszustand wird die Ernährung umgestellt bzw. ergänzt. Infrage kommen zum Beispiel hochkalorische Menülinien, die Möglichkeit, Zwischenmahlzeiten wie frische Shakes oder Fingerfood auszuwählen, mit hochwertigen Eiweißkonzentraten angereicherte Nahrung und Trink- und Zusatznahrungen.
Bei Entlassung bekommen alle Patienten einen Ratgeber mit nach Hause.
Die Nachsorge bleibe allerdings eine Herausforderung, vor allem, wenn Patienten ins Pflegeheim zurück- bzw. umziehen. Auch Risikofaktoren wie soziale Isolation und Armut verschwinden nicht von allein.
Prinzipiell müsse die Herausforderung Mangelernährung darum global angegangen werden, zeigten die Experten sich einig. Anlässlich der Dreiländertagung „Ernährung 2018“ unterzeichneten Löser und andere Verantwortliche aus DGEM, VDOE und BDEM darum ein Positionspapier namens „Kasseler Erklärung“.
Ernährungsmedizin, fordern sie, muss einen festen Platz in medizinischen Ausbildungscurricula von Studierenden und Fachärzten bekommen. Zudem soll Ernährungstherapie zur definierten Leistung der gesetzlichen Krankenversicherungen werden, auch in der Prävention. Damit ließen sich Erkrankungen verhindern oder zumindest lindern – unter anderem durch den zu erwartenden Rückgang der Mangelernährung.
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Diesen Artikel so zitieren: Kongress „Ernährung 2018“: Adipös und doch mangelernährt? Ein kurzes Screening kann Prognose bessern und Leben retten - Medscape - 2. Jul 2018.
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