Von wegen Nierenschutz! Vor allem Diabetiker (aber auch andere) profitieren renal eher von weniger aggressiver Blutdrucksenkung

Michael van den Heuvel

Interessenkonflikte

28. Juni 2018

Eine aggressive Senkung des systolischen Blutdrucks erhöht das Risiko für chronische Nierenerkrankungen, was insbesondere Patienten mit Typ-2-Diabetes betrifft, so das Fazit aus Sekundär-Analysen der SPRINT- und der ACCORD-Studie, die Prof. Dr. Srinivasan Beddhu, Division of Nephrology and Hypertension, University of Utah School of Medicine (Salt Lake City) und Kollegen kürzlich im Lancet veröffentlicht haben. Er fordert, die Nierenfunktion von Diabetes-Patienten unter antihypertensiver Therapie engmaschig zu überwachen [1].

„Viele Jahre lang galten niedrige Blutdruckwerte als notwendig, um den Nierenschutz bei Patienten mit hohem Blutdruck zu optimieren“, schreibt Prof. Dr. Giuseppe Mancia von der Policlinico di Monza, Italien, in einem Kommentar dazu [2]. Mancia ist einer der Hauptautoren der neuen europäischen Leitlinien zur Blutdrucksenkung, die – wie berichtet – kürzlich vorgestellt worden sind.

Grund für die Empfehlung möglichst niedriger Werte sei gewesen, dass sich dadurch auch die Ausscheidung glomerulärer Proteine verringere. Dabei könne die Niere ihren Blutfluss über weite Blutdruck-Bereiche hinweg anpassen, so dass es kein Risiko für eine mangelnde Durchblutung gebe. Nicht zuletzt hätten klinische Studien gezeigt, dass eine gute Blutdrucksenkung die fortschreitende Verschlechterung der glomerulären Filtrationsrate verlangsame – verglichen mit Patienten, bei denen der Blutdruck weniger stark gesenkt wird.

Jedoch, so ergänzt Mancia, seien die Empfehlungen zur Blutdrucksenkung für den Erhalt der Nierenfunktion kürzlich überarbeitet worden. „Randomisierte kontrollierte Studien haben keinen Zusammenhang zwischen der Blutdrucksenkung und dem Schutz der Nieren gezeigt – weder bei diabetischer noch bei nicht-diabetischer Nephropathie.“

Vor diesem Hintergrund empfehlen aktuelle Leitlinien einen Zielwert unter 140/90 mmHg statt unter 130/80 mmHg, falls die renale Protektion das Ziel ist. Eine neue Veröffentlichung bestätige den Trend.

Die Suche nach den richtigen Zielwerten

Die aktuelle Publikation kommentiert Mancia: „Die Arbeit von Beddhu und Kollegen weist mehrere Stärken auf, darunter erstens, dass die anfängliche Randomisierung beibehalten wurde, und zweitens, dass Sensitivitätsanalysen durchgeführt wurden, um die Diagnose einer beginnenden Nierenerkrankung zu validieren.“ Zudem seien gesunde Probanden untersucht worden, was Aussagen zur Primärprophylaxe von Nierenerkrankungen ermögliche.  

 
Müssen wir den Nierenschutz teilweise opfern, um den bestmöglichen kardiovaskulären Schutz zu erreichen? Prof. Dr. Giuseppe Mancia
 

„Beddhus Studie wirft jedoch eine Frage auf, die schwer zu beantworten sein könnte“, ergänzt Mancia. Wie berichtet, empfehlen die neuen US-Leitlinien aus kardiovaskulärer Sicht eine Blutdrucksenkung auf unter 130/80 mmHg. „Müssen wir den Nierenschutz teilweise opfern, um den bestmöglichen kardiovaskulären Schutz zu erreichen, einem Ziel, das größere Auswirkungen auf die Gesundheit der Allgemeinbevölkerung hat?“, fragt Mancia unter der Prämisse, dass mehr Menschen von der kardiovaskulären als von der renalen Prävention profitieren.

Als Antwort empfiehlt er einen Mittelweg: „Ich glaube, dass ein Blutdruckziel existiert, um kardiovaskulären und renalen Schutz zu maximieren.“ Dieses Ziel sieht er bei systolisch 120 bis 130 mmHg, aber „näher bei 130 mmHg“. Um ein solches Ziel mit Evidenz zu belegen, setzt Mancia auf Studien, die zum Teil schon laufen und 3 unterschiedliche Blutdruckziele vergleichen. In SPRINT und ACCORD gab es nur 2 Vergleichsarme mit unter 120 mmHg bzw. unter 140 mmHg.

2 Kohorten mit insgesamt 11.000 Teilnehmern ausgewertet

Ausgangspunkt von Beddhus aktueller Analyse war die Frage, wie tief der systolische Blutdruck bei Typ-2-Diabetes-Patienten gesenkt werden kann, ohne dass es zu renalen Komplikationen kommt. Bislang war unklar, wie sich eine starke Blutdrucksenkung renal auswirkt. Beddhu hat deswegen Daten aus SPRINT und ACCORD ausgewertet, um hier Klarheit zu schaffen.

Die SPRINT-Studie testete bekanntlich eine intensive Blutdrucksenkung mit einem systolischen Zielwert unter 120 mmHg gegen den Standard-Zielwert von unter 140 mmHg. Die Teilnehmer hatten mindestens einen Risikofaktor für kardiovaskuläre Erkrankungen. Menschen mit Diabetes waren jedoch explizit ausgeschlossen.

 
Ich glaube, dass ein Blutdruckziel existiert, um kardiovaskulären und renalen Schutz zu maximieren. Prof. Dr. Giuseppe Mancia
 

Die ACCORD-Studie untersuchte eine ähnliche Fragestellung bei Patienten mit Typ-2-Diabetes. Hier wurde im Blutdruck-Arm der Studie – es gab bekanntlich auch einen, der verschiedene HbA1c-Ziele verglich – ein systolischer Zielwert von unter 120 mmHg mit dem Standardzielwert von unter 140 mmHg verglichen.

Beddhu führte eine Sekundäranalyse von Datensätzen aus beiden Studien (n = 4.311 in der ACCORD-Studie; n = 6.715 in der SPRINT-Studie) durch. Alle Teilnehmer hatten zu Beginn keine nephrologischen Probleme. Er definierte neu auftretende chronische Nierenerkrankungen als Abnahme der geschätzten glomerulären Filtrationsrate (estimated Glomerular Filtration Rate, eGFR) um mehr als 30%, oder auf einen absoluten Wert unter 60 ml/min/1,73 m2.

Beddhu ermittelte nach einer Laufzeit von 3 Jahren folgende Inzidenzen für chronische Nierenerkrankungen:

  • ACCORD-Studie, intensive antihypertensive Therapie: 10,0%

  • ACCORD-Studie, Standardtherapie: 4,1%

  • SPRINT-Studie, intensive antihypertensive Therapie: 3,5%

  • SPRINT-Studie, Standardtherapie: 1,0%

Innerhalb der jeweiligen Studie waren alle Unterschiede zwischen den Studienarmen signifikant. Der absolute Risikounterschied war in der ACCORD-Studie signifikant höher als in der SPRINT-Studie – 5,9% versus 2,5%.

Nierenfunktion engmaschiger überwachen

„Die Ergebnisse sollten uns davon abhalten, Patienten mit aggressiver Blutdrucksenkung zu behandeln, um ihre Nieren zu schützen“, lautet Mancias Resümee für die Praxis. Damit gelinge es nicht, das Fortschreiten bestehender Nierenerkrankungen zu verlangsamen. Vielmehr erhöhe sich das Risiko neuer Nephropathien – vor allem bei Patienten mit Typ-2-Diabetes, aber auch bei Menschen ohne die Stoffwechselerkrankung.

 
Die Ergebnisse sollten uns davon abhalten, Patienten mit aggressiver Blutdrucksenkung zu behandeln, um ihre Nieren zu schützen. Prof. Dr. Giuseppe Mancia
 

„Unsere Ergebnisse legen nahe, die Nierenfunktion bei Erwachsenen mit Typ-2-Diabetes während einer intensiven blutdrucksenkenden Therapie besonders engmaschig zu überwachen“, ergänzt Beddhu.

Er wünscht sich zusätzliche Langzeitstudien, um die klinische Bedeutung von antihypertensiven Therapien auf die Nierenfunktion besser zu verstehen. In der kurzen Nachbeobachtungszeit sieht Beddhu die größte Schwäche seiner Veröffentlichung, wie er schreibt.

 

Kommentar

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