AOK-Pflegebericht 2018: Alarmierende Unterschiede in der Pflege-Qualität – wie auch kleine Schritte helfen können

Christian Beneker

Interessenkonflikte

27. Juni 2018

Es gibt Unterschiede in der Versorgungsqualität in deutschen Pflegeheimen – und diese sind alarmierend hoch. Das hat das wissenschaftliche Institut der AOK (WidO) in seinem jüngsten Pflegebericht 2018 z.B. anhand der Dekubitus-Fälle festgestellt [1]. „Und das liegt nicht nur an der Pflege“, sagt Dr. Antje Schwinger, Leiterin des Forschungsbereiches Pflege im WidO zu Medscape.

Tatsächlich haben die Autoren des Pflegeberichtes erstmals in Deutschland die Abrechnungsdaten sowohl der Pflegeversicherung als auch der Krankenversicherung der Patienten gemeinsam ausgewertet und damit nicht nur Pflegedaten, sondern auch medizinische Daten miteinbezogen, wie Schwinger erläutert.

 
In Kontrast zu 780.000 hochbetagten und multimorbiden Menschen in deutschen Pflegeheimen steht die umfassend untersuchte Fehlversorgung in diesen Einrichtungen. Autoren des Pflegeberichts
 

Nach Auswertung dieser Abrechnungsdaten von AOK-Versicherten aus 5.622 Pflegeheimen zeigen sich z.B. bei der Zahl der Antipsychotika-Verordnungen, der Harnwegsinfekte und der Dekubitus-Fälle große Unterschiede.

Auch die Anzahl der Krankenhauseinweisungen, die durch „Vorsorge oder rechtzeitige Intervention im ambulanten Sektor“ hätten verhindert werden können (die sog. ambulant-sensitiven Hospitalisierungen), sowie die Zahl der versorgenden Ärzte in den Heimen gingen in die Betrachtung ein – mit erstaunlichen Erkenntnissen.

„In Kontrast zu 780.000 hochbetagten und multimorbiden Menschen in deutschen Pflegeheimen steht die umfassend untersuchte Fehlversorgung in diesen Einrichtungen“, resümieren die Autoren. Woher die großen Unterschiede rühren, legt die Studie nicht dar.

Große Unterschiede je nach Pflegeheim

Beispiel Dekubitus: Im Durchschnitt tritt jährlich bei 8,5 von 100 Heimbewohnern ein Druckgeschwür neu auf. Die AOK-Studie hat nun festgestellt: Das Viertel der Heime mit den meisten betroffenen Patienten hat mit 12 oder mehr neuen Dekubitus-Fällen im Jahr 3-mal so viele wie das Viertel der Heime mit den niedrigsten Raten. Gezählt wurde hier „die Häufigkeit von Bewohnern mit einer Dekubitus-Diagnose und mit einer Verordnung geeigneter Verbandsmaterialien zur Wundversorgung bzw. von Dekubitus-spezifischen Hilfsmitteln“, so die Studie.

Bei der Verordnung von Antipsychotika zeigte sich: 41% der Demenzkranken im Pflegeheim erhalten mindestens einmal pro Quartal ein Antipsychotikum. „Im auffälligsten Viertel der Pflegeheime sind es so viele, dass statistisch gesehen jeder Bewohner mit Demenz in 2 Quartalen eine Antipsychotika-Verordnung erhält“, so das WidO. „Damit liegt diese Rate um das 1,5-Fache höher als beim Viertel der Heime mit den niedrigsten Werten.“

Ähnlich bei den Harnwegsinfekten (HWI). Im Durchschnitt der Quartale haben 4,7% der Bewohner einen HWI, so die WidO -Zahlen. „Für ein Viertel der Pflegeheime (75. Perzentil) ergab sich mit mindestens 26,1 Fällen pro 100 Bewohner eine zweieinhalbmal so hohe Rate wie bei jenen 25% der Pflegeheime mit den niedrigsten Raten mit maximal 10,1 Fällen“, so der Bericht.

Auch an der Schnittstelle zwischen Pflegeheim und Krankenhaus zeigt sich eine weit auseinanderklaffende Versorgungsqualität. Nach den WidO-Zahlen wird jeder 5. Pflegeheimbewohner innerhalb eines Quartals ins Krankenhaus eingewiesen. 40% dieser Einweisungen gelten aber als vermeidbar und wären bei einer besseren ärztlichen Versorgung unnötig.

„Selbst, wenn nicht alle Fälle von Krankenhauseinweisungen tatsächlich vermeidbar sind – die breite Ergebnisspanne zwischen den Pflegeheimen wirft auch hier Fragen auf“, betont Schwinger. Pro Jahr summieren sich die ambulant-sensitiven Krankenhausfälle durchschnittlich auf 32 pro 100 Bewohner. Die 5% der Heime, die am auffälligsten sind, haben doppelt so hohe Raten wie der Durchschnitt. Das heißt, dort sind es 63 Fälle pro 100 Bewohner.

Viele Hausärzte im Heim bedeuten noch nicht gute Versorgung

Angesichts der Defizite ist die durchschnittliche Versorgung durch Hausärzte im Pflegeheim erstaunlich: Durchschnittlich 58,5 verschiedene Hausärzte auf 100 Heimbewohner kümmern sich um die medizinische Versorgung. Die Studie spricht denn auch von einem „eklatant hohen Koordinationsaufwand für das Pflegepersonal“.

 
Die Ärztezahl ist nur eine Zahl. Wir wissen nicht, was sie für die Versorgungsqualität bedeutet. Dr. Antje Schwinger
 

Beim auffälligsten Viertel der Pflegeheime sind mindestens sagenhafte 81,4 Hausärzte je 100 Bewohner involviert, bei 5% der Pflegeheime sogar 124,5 Ärzte und mehr. Dass mehr Ärzte als Bewohner involviert sind, erklärt sich unter anderem damit, dass manche Bewohner den Hausarzt wechseln oder mehrere in Anspruch nehmen. Beim unauffälligsten Viertel zählte das WidO immer noch 40,6 behandelnde Hausärzte pro 100 Heimbewohner.

Allerdings könne die Zahl der Ärzte nicht mit dem Auftreten von Dekubitus oder Harnwegsinfektionen in Verhältnis gesetzt werden, sagt Schwinger: „Die Ärztezahl ist nur eine Zahl. Wir wissen nicht, was sie für die Versorgungsqualität bedeutet. Das herauszufinden, wäre eine Aufgabe für die Zukunft.“

Zunächst aber will das WidO weitere Versorgungs-Parameter zur Auswertung heranziehen, z.B. die Mundgesundheit, Stürze oder Fixierungen, so Schwinger. „Vor allem müssen wir dann die Pflegeheime durch eine passende Risikoadjustierung vergleichbar machen, bevor man mit den Studienergebnissen auf die Heime zugeht.“

„Dass nicht nur die Pflege und die medizinische Versorgung, sondern ein ganzes Bündel von Ursachen die Versorgungsqualität von Pflegebedürftigen ausmacht, betont der Bremer Pflegewissenschaftler, Prof. Dr. Stefan Görres. Er geht mit seinen Thesen deutlich über das Indikatoren-Set des WidO hinaus.

„Die Aussage z.B., dass die Versorgungsqualität automatisch stark sinkt, wenn bei der Pflege die Fachkraftquote von 50 Prozent unterschritten wird, ist höchst umstritten“, sagt Görres zu Medscape. „Zu Recht. Denn es gibt für diesen Zusammenhang 1. überhaupt keine Evidenz, 2. ist die Zahl von 50% willkürlich gewählt und 3. gibt es eine Menge anderer Faktoren, die die Qualität im Pflegeheim bestimmen.“

Görres zählt zwar auch die Besser-Qualifikation des Personals dazu. Aber es gebe auch Hinweise, dass es schlicht um die Anzahl der Pflegenden geht, egal wie sie qualifiziert sind. „Wenn viele Hilfskräfte da sind, wirkt sich auch das positiv aus.“

Aber nicht allein die Pflege, auch die Trägerschaft, die geographische Lage, die Finanzierung und die Größe der Einrichtung beeinflussen die Qualität, hat Görres festgestellt. Nach amerikanischen Studien verzeichnen Häuser in „For-Profit“-Trägerschaft 3-mal so hohe Raten an Krankenhauseinweisungen wie Häuser in „Non-Profit“-Trägerschaft.

 
Die Aussage z.B., dass die Versorgungsqualität automatisch stark sinkt, wenn bei der Pflege die Fachkraftquote von 50 Prozent unterschritten wird, ist höchst umstritten. Prof. Dr. Stefan Görres
 

Nach Görres Worten hat auch die Anzahl und Dauer von Arzt-Bewohner-Kontakten Einfluss auf die Versorgungsqualität. Letzteres untermauere die Ergebnisse der WidO-Studie. Allerdings sagt Görres auch: „Wenn viele Ärzte da sind, aber alle anderen Faktoren bleiben schlecht, dann nützen auch die vielen Ärzte nichts. Es muss eben auch regelmäßige Besprechungen geben oder ein Pflegemanagement-System. Man muss eine Vielzahl von Faktoren messen und verbessern, um am Ende eine gute Qualität zu erhalten.“

Dass im Hinblick auf eine bessere Versorgung von Pflegebedürftigen auch kleine Schritte helfen, zeigt eine Initiative des Ärztenetzes „Genial“ im Niedersächsischen Lingen. Dort hat das Ärztenetz eine Heimärztin für 6 Pflegeheime der Region angestellt. „Wir haben kein Geld, um Outcome-Studien zu finanzieren“, sagt Dr. Wolfgang Hentrich vom Vorstand des Netzes zu Medscape. Aber wir haben mal die Krankenhauseinweisungen selbst nachgezählt. Und wir haben festgestellt: Seit der Einführung der Heimärztin im Jahr 2015 sind sie um ein Drittel gesunken.“

 

Kommentar

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