Ist der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA), das oberste Beschlussgremium der gemeinsamen Selbstverwaltung der Ärzte, Zahnärzte, Psychotherapeuten, Krankenhäuser und Krankenkassen in Deutschland, für seine Beschlüsse überhaupt verfassungsrechtlich ausreichend legitimiert? Im Zusammenhang mit einer Klage wegen nicht übernommener Therapiekosten hatte das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) im November 2015 Zweifel an der generellen Legitimation des G-BA angedeutet.
Immerhin bestimmt der G-BA laut eigener Darstellung auf seiner Website in Form von Richtlinien den Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) für mehr als 70 Millionen Versicherte und legt damit fest, welche Leistungen der medizinischen Versorgung von der GKV erstattet werden.
Aber, so hatte das BVerfG damals in seinem Beschluss festgelegt, der demokratisch gewählte Gesetzgeber müsse ausreichend detaillierte Vorgaben für den Leistungskatalog der Krankenkassen festsetzen. Als Folge des Beschlusses hatte das Bundesgesundheitsministerium (BMG) 3 Rechtsgutachten in Auftrag gegeben.
Nun liegen diese Gutachten zur Frage der Legitimation des G-BA vor. Und sie fallen sehr unterschiedlich aus:
Maßvolle Reformen des G-BA sieht das Gutachten von Prof. Dr. Ulrich M. Gassner , Universität Augsburg, und seinem Bayreuther Kollegen PD Dr. Thomas Holzner vor.
Das Rechtsgutachten von Prof. Dr. Winfried Kluth kommt zu dem Schluss, alles beim Alten zu belassen.
Für deutliche Reformen plädiert dagegen Prof. Dr. Thorsten Kingreen in seinem Gutachten.
Erst nach einer Anfrage der FDP-Fraktion wurden die Studien jetzt auf der Website des Ministeriums veröffentlicht. Und jetzt?
Wie demokratisch legitimiert ist der G-BA?
Der G-BA entscheidet nicht nur über fast alle Bereiche der medizinischen Versorgung, etwa die Erstattungsfähigkeit innovativer Behandlungsmethoden. Er bestimmt auch zahlreiche strukturelle Weichenstellungen, wie etwa den Bedarf an niedergelassenen Fachärzten oder Mindestmengen, die eine Spezialklinik an bestimmten Behandlungen vorweisen muss. Ähnlich einem Gesetzgeber verabschiedet der G-BA Richtlinien und andere Normen, an die sich alle Beteiligten (Ärzte, Versicherte etc.) halten müssen. Setzt ein Arzt eine Therapie ein, die der G-BA nicht genehmigt hat, übernimmt die Krankenkasse auch keine Kosten dafür.
Die demokratische Legitimation des G-BA ist aber in doppelter Hinsicht zweifelhaft: Zum einen haben die Versicherten dort kein Stimmrecht. Zum anderen überlässt der Bundestag dem G-BA zu viel Entscheidungskompetenz, so hat das BVerfG in seinem Beschluss vom November 2015 geurteilt. Es hat gefordert, dass der demokratisch gewählte Gesetzgeber ausreichend detaillierte Vorgaben für den Leistungskatalog der Krankenkassen festsetzen muss.
Keine, maßvolle oder radikale Reformen?
Was jetzt genau passieren muss, sollten die Rechtsgutachten klären – und kommen zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen. Den G-BA im Wesentlichen in seiner bisherigen Form zu belassen, zu diesem Schluss gelang das Rechtsgutachten von Kluth, der in Halle-Wittenberg Staatsrecht unterrichtet. Wörtlich heißt es: „Die Untersuchung zeigt auf, dass diese Gefahr in Bezug auf den Gemeinsamen Bundesausschuss und seine Trägerorganisationen nicht vorliegt. Das Handeln ist überwiegend durch die Orientierung an Gemeinwohl-dienlichen Belangen zum nachhaltigen Erhalt eines wirtschaftlichen und qualitätsvollen Gesundheitswesens ausgerichtet.“
Die im G-BA nicht repräsentierten Akteure – etwa aus der Pflege oder den Gesundheitsfachberufen – seien bei Entscheidungen des G-BA nicht schwerwiegend in eigenen Grundrechten betroffen, meint Kluth. Er plädiert lediglich dafür, die Stimmrechte des GKV-Spitzenverbandes neu zu verteilen: So sollten 3 der 5 Vertreter, die der Verband für den G-BA bestellt, Vertreter der Versicherten sein.
Dagegen hält Kingreen, der an der Universität Regensburg den Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Sozialrecht und Gesundheitsrecht innehat, eine Reform der Rechtsetzung des G-BA für unerlässlich. Er schreibt: „Die Bestimmungen des Sozialgesetzbuchs V (SGB V) über die Rechtsetzung des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) müssen reformiert werden. Denn der G-BA besitzt für den Erlass von allgemeinverbindlichen Richtlinien, die sog. Außenseiter (Versicherte sowie nicht im G-BA repräsentierte Leistungserbringer) mit einer gewissen Intensität betreffen, keine verfassungsrechtlich hinreichende demokratische Legitimation.“
Kingreen sieht den Gesetzgeber in der Pflicht, den G-BA ausreichend zu legitimieren. Er schlägt deshalb vor, dass das Bundesgesundheitsministerium künftig die vom G-BA erlassenen Richtlinien als allgemeinverbindlich erklärt. Nur leichte Korrekturen mit Patienten- oder Versicherten-Vertretern hält Kingreen für wenig sinnvoll. Er meint, dass dadurch die Fehlvorstellung, das öffentliche Gesundheitswesen sei eine „Selbstverwaltungsangelegenheit“ einzelner Interessengruppen, noch mehr kultiviert werde.
Einen Mittelweg strebt das Rechtsgutachten von Gassner und Holzner an. Gassner führt dazu aus: „Wir haben versucht, den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts weiterzudenken und zu extrapolieren. Hiervon ausgehend kann es nur einen Königsweg zur Reform geben. Dieser Weg schließt Radikallösungen aus.“ Gassner und Holzner halten vor allem die Versicherten selbst im G-BA für deutlich unterrepräsentiert.
Moderate Reformen – die Vorschläge im Detail
Das knapp 300-seitige Gutachten von Gassner und Holzner empfiehlt Reformen in 12 Einzelbereichen des Leistungsrechts der gesetzlichen Krankenversicherung. Grundsätzlich halten Gassner und Holzner den G-BA für ausreichend legitimiert.
Sie legen deshalb ihren Schwerpunkt auf die im Beschluss des BVerfG geforderten Einzelfallprüfungen. Zu den 12 Einzelbereichen zählen z.B. Verordnungsbeschränkungen und -ausschlüsse in der Arzneimittelversorgung, Therapiehinweise, Schutzimpfungen oder die Einbeziehung von Medizinprodukten in die Arzneimittelversorgung. Dabei prüfen und bewerten die Gutachter für jeden Einzelbereich die Rubriken – etwa den Gehalt der Richtlinie, die personale Reichweite oder die Regelungsbetroffenheit und Regelungsintensität.
Gassner und Holzner plädieren für ein Vetorecht der Patientenorganisationen bei Beschlüssen, und sie setzen sich für Mitbeteiligungsrechte des Ausschusses für Gesundheit des Bundestages bei der Berufung des unparteiischen Vorsitzenden des G-BA ein. Zentraler Reformvorschlag ist die Einrichtung einer Gemeinsamen Schiedsstelle, die im Konfliktfall und bei möglichen Blockaden im Gremium einberufen wird. Diese Schiedsstelle soll neben den G-BA-Mitgliedern aus 8 zusätzlichen unparteiischen Sachverständigen bestehen. Gewählt werden diese 8 Sachverständigen vom Ausschuss für Gesundheit des Bundestages.
Auch sollen die Mitglieder der Schiedsstelle zusätzlich zu den G-BA-Mitgliedern Stimmrechte erhalten. Damit könnten die Unparteiischen – die aus dem G-BA selbst sowie die aus der Schiedsstelle – mit 11 Stimmen den 10 Stimmen von Krankenkassen und Leistungserbringern überlegen sein. Die Augsburger Gutachter schlagen auch vor, die bei Richtlinien bestehenden Aufsichtsbefugnisse des Bundesministeriums für Gesundheit auch auf Beschlüsse auszudehnen.
Prüfung der Rechtsgutachten dauert an
Wie geht es nun mit den 3 Gutachten weiter? Wie Sebastian Gülde, Sprecher des BMG, gegenüber Medscape bestätigt, dauert die Prüfung der Rechtsgutachten noch an: „Die erstellten Gutachten spiegeln die Bandbreite der in der Rechtswissenschaft vertretenen Positionen hinsichtlich der verfassungsrechtlichen Legitimation des G-BA wider.“
Die Gutachter, so Gülde, beleuchteten die verfassungsrechtliche Legitimation aus unterschiedlichen Perspektiven und seien zu verschiedenen Ergebnissen gekommen. „Vor diesem Hintergrund werden die in den Gutachten behandelten komplexen Fragestellungen und Vorschläge eingehend geprüft“, so Gülde.
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Diesen Artikel so zitieren: Ist der G-BA überhaupt ausreichend demokratisch legitimiert? Gutachten machen Vorschläge für Reformen - Medscape - 26. Jun 2018.
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