Mainz – Von wegen Ärztemangel. Auf dem 79. Ordentlichen Medizinischen Fakultätentag (oMFT) in Mainz diskutierten Referenten und Publikum die Leitfrage: „Wie viele Ärzte braucht das Land?“ [1]. Prof. Dr. Ferdinand Gerlach, der Vorsitzende des Sachverständigenrates zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen, warnte vor einer vorschnellen Antwort. Nach seiner Lesart gibt es nicht zu wenige Ärzte. Sondern im Gegenteil zu viel Versorgung.
Mehr Medizinstudienplätze lösten die Versorgungsprobleme in den ländlichen Regionen nicht, hieß es. Man könne die Probleme der Versorgungspolitik nicht mit der Adjustierung des Medizinstudiums lösen, pflichtete auch MFT-Generalsekretär Frank Wissing im Anschluss an die oMFT-Tagung in Mainz bei: „Wir müssen stattdessen sorgfältig analysieren, mit welchen neuen Versorgungsformen und Anreizen wir die bestehenden Probleme in der Fläche angehen können.“
Jährlich rund 6.500 Ärzte mehr
Zuvor hatte Gerlach anhand von Zahlen dargelegt, dass die Versorgungslage in Deutschland im internationalen Vergleich sogar sehr üppig sei. Es sei deshalb „zunächst ein Abbau eklatanter Überversorgung im stationären und im ambulanten-fachspezifischen Bereich erforderlich“, sagte er.
Beispiele: So liege Deutschland etwa bei der Verweildauer der Patienten im Akutkrankenhaus mit 7,6 Tagen (Stand 2015) international in der Spitzengruppe. Und bei den behandelten Patienten in Akutkrankenhäusern pro Jahr und 1.000 Einwohnern nimmt Deutschland mit 235 Fällen unter 32 Ländern sogar den 2. Platz hinter Österreich ein. Tendenz: steigend. Der OECD-Durchschnitt beträgt hier nur 151 Fälle.
Ein vergleichbares Bild der Überversorgung zeige sich in der ambulanten Versorgung: An einem beliebigen Montag stehen fast 8% der deutschen Bevölkerung vor der Tür eines niedergelassenen Arztes. Am Montag, den 1. Oktober 2007 (zu einer Zeit, als alle Kontakte noch dokumentiert wurden) erreichten die deutschen Patienten einen Spitzenwert: 9,7 Millionen suchten an diesem Tag eine Arztpraxis auf. Das sind 11,75% aller Deutschen.
„Flatrate-Mentalität“ der Patienten
Gerlach sprach von einer „Flatrate-Mentalität“ der Patienten. Für das Jahr 2018 schätzt Gerlach, dass es jeder Einwohner des Landes durchschnittlich auf rund 20 Arztkontakte bringt. Kein Wunder, dass die deutschen Hausärzte mit im Schnitt 50,8 Wochenstunden (Stand 2009) international am längsten arbeiten und mit durchschnittlich 250 Patienten in der Woche die meisten Menschen behandeln.
„Wir haben derzeit rund 385.000 Ärzte und seit 10 Jahren einen jährlichen Nettozuwachs von rund 6.500 Ärzten“, so Gerlach. Wie viele Ärzte wirklich nötig sind, zeige der internationale Vergleich. Zwar liege Deutschland im OECD-Vergleich mit 4,1 Ärzten pro 1.000 Einwohner unter 29 Ländern an Platz 5, aber mit 0,9 Ärzten pro 1.000 Belegungstagen an Platz 14 von 17 Ländern. Die sehr hohen Fallzahlen an den Kliniken dünnen also die Zahl der Ärzte aus, „bis man das reale Gefühl eines Mangels hat“, so Gerlach.
Sein Fazit: „Mehr Geld“ allein sei keine Lösung. „Mehr Ärzte“ allein auch nicht. Zunächst müssten die Strukturprobleme behoben werden, dann könne man gegebenenfalls über mehr Studienplätze nachdenken.
Mit seiner Position wendet sich Gerlach gegen die Haltung der Bundesärztekammer. Die Delegierten des 121. Deutschen Ärztetages in Erfurt forderten die Bundesländer auf, mehr Geld „für eine Erhöhung der Zahl der Studienplätze in der Humanmedizin um bundesweit mindestens zehn Prozent bereitzustellen“. „Die Versorgung der immer älter und kränker werdenden Bevölkerung braucht dringend mehr Ärztinnen und Ärzte“, so der Ärztetag.
Systemdebatte hilft nicht weiter

Dr. Martina Wenker
Dr. Martina Wenker, Präsidentin der Ärztekammer Niedersachsen und Vizepräsidentin der Bundesärztekammer, betonte die gegenwärtige Mangelsituation in Praxen und Krankenhäusern. Von einer Überversorgung könne nicht die Rede sein, meint sie. Eine ständige Systemdebatte zu führen, sei wichtig, aber zum Beispiel für Chefärzte in einem kleinen Kreiskrankenhaus, dem aktuell die Ärzte ausgehen, kein Fortschritt. Längst nehme die Verweildauer im Krankenhaus ab, ebenso wie die Zahl der Kliniken selbst und die Zahl der Ärzte in den Krankenhäusern.
„Fakt ist, es kneift überall, auch im ambulanten Bereich“, sagte Wenker. Nicht nur ländliche Regionen, sondern auch Großstädte hätten inzwischen Probleme, Hausarzt-Praxen zu besetzen. „Für tausend Ärzte, die z.B. in Niedersachsen jetzt jährlich in den Ruhestand gehen, kommen von den hiesigen 3 medizinischen Fakultäten nur noch insgesamt 600 junge Absolventen jährlich nach“, sagte die Präsidentin.
Man dürfe nicht weiter ausländische Ärzte anwerben und damit die Versorgung in deren Herkunftsländern ausdünnen, während man selbst zu wenig Ärztinnen und Ärzte ausbilde, betonte Wenker. „Wir brauchen mehr Ärzte und damit mehr Medizin-Studienplätze. Ich sehe da die Fakultäten in der Pflicht.“
Auch Gerlach könnte sich zur Not mehr Medizin-Studienplätze vorstellen, aber nur als Ableger bereits bestehender Fakultäten, und zwar in unterversorgten Gebieten, wo besonders auf die Ausbildung von Generalisten Wert gelegt werden sollte. „Dort könnten nach internationalen Erfahrungen die Klebe-Effekte dafür sorgen, dass die Studierenden sich später in den unterversorgten Gebieten niederlassen.“ Allerdings wäre auch dies keine schnelle Lösung. Vom Erstsemester bis zum Facharzt dauert es gut 14 Jahre.
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Diesen Artikel so zitieren: Zu wenige Ärzte? Oder zu viel Versorgung? Diskussion beim Fakultätentag, ob wirklich mehr Medizin-Studienplätze nötig sind - Medscape - 22. Jun 2018.
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