MEINUNG

Praxis-Problem Bluthochdruck: Ein Experte zerpflückt den Zielwert 130 und gibt Tipps für vernünftige Messungen und Therapie

Dr. Michael LeFevre, MD, MSPH

Interessenkonflikte

14. Juni 2018

Wo man die Schwelle setzt, was als (noch) physiologisch und was als „krank“ gilt, macht oft einen Riesen-Unterschied [1]. Ein Beispiel ist die aktuelle Leitlinie des American College of Cardiology (ACC) und der American Heart Association (AHA) zur Prävention, Diagnose, Bewertung und Therapie der Hypertonie des Erwachsenen. Sie hat im November 2017 den Hypertonie-Grenzwert von 140/90 auf 130/80 mmHg gesenkt [2,3].

Wie viele erwartet hatten, haben sich die Hypertonie-Experten in der alten Welt nicht angeschlossen. Die neue europäische Leitlinie für die Behandlung von Bluthochdruck, die Anfang Juni auf dem Kongress der „European Society of Hypertension“ (ESH) in Barcelona vorgestellt worden ist, hält an der Definition eines Bluthochdrucks ab Werten von 140/90 mmHg fest und setzt verstärkt auf Prävention und Früherkennung. Menschen mit optimalen Blutdruckwerten unter 120/80 mmHg sollen sich alle 5 Jahre einer Blutdruck-Screening-Messung unterziehen. Erwachsene mit hochnormalen Blutdruckwerten (130-139/85-89 mmHg) mindestens jährlich. Der Hype um die 130 könnte dadurch abflauen.

Welche Argumente sprechen dafür und welche dagegen?

Der amerikanische Präventionsmediziner und Professor für Family Medicine, Dr. Michael LeFevre, von der University of Missouri School of Medicine in Columbia, Missouri, gehört ebenfalls zu den Kritikern der ACC/AHA-Leitlinien. In seinem hier folgenden Kommentar fasst er noch einmal die Überlegungen der Gegner von „130“ zusammen, warnt vor Übertherapie und gibt wertvolle Tipps für präzisere Blutdruck-Messungen im Praxisalltag:

Erster Schritt: Bessere BlutdruckMessungen beim Arzt

Die Bestimmung des Blutdrucks ist eine dynamische, also nicht statische Messung und hängt davon ab, wann, wo und wie gemessen wird. So konzentriert sich die neue ACC/AHA-Leitlinie auch auf das Vorgehen bei der Blutdruck-Messung. Korrekt durchgeführte Messungen sind zwar der Standard in klinischen Studien, dauern aber ca. 10 Minuten und werden in der Praxis so nicht routinemäßig durchgeführt (Tab. 1).

Tabelle 1. Wichtige Voraussetzungen für eine präzise Blutdruck-Messung in der Praxis.

Der Patient soll mindestens 30 min vor dem Praxisbesuch kein Koffein oder Nikotin zu sich genommen und sich nicht nennenswert körperlich belastet haben.

Der Patient soll mindestens 5 min entspannt auf einem Stuhl sitzen (mit Rückenlehne, Füße auf dem Boden).

Stellen Sie sicher, dass der Patient seine Blase entleert hat.

Während der Entspannungsphase und der Messung wird nicht gesprochen.

Alle Kleidungsstücke, die den Bereich der Manschetten-Platzierung bedecken, werden ausgezogen.

Es muss die richtige Manschettengröße verwendet werden.

Der Arm des Patienten wird abgelegt bzw. unterstützt.

Die Manschetten-Mitte wird am Oberarm des Patienten in Höhe des rechten Vorhofs (Mitte des Brustbeins) positioniert.

Wiederholte Messungen sollten im Abstand von 1-2 min erfolgen.

Es wird dann der Mittelwert aus mindestens 2 Messungen gebildet.

Selbst eine korrekt durchgeführte Blutdruck-Messung in der Praxis ist für die Diagnose oder Behandlung der Hypertonie nur suboptimal. Die beste Orientierungshilfe bieten ambulante Messungen mit 12- bis 24-stündiger ambulanter oder häuslicher Blutdruck-Überwachung [2,4]. Die Bereitschaft zur automatisierten Blutdruck-Messung in der Praxis, welche den in Tabelle 1 geforderten Kriterien entspricht, ohne dass ein Mediziner im Raum ist, nimmt zu [5]. Die mit dieser Methode erhaltenen Blutdruck-Werte liegen um 5-10 mmHg niedriger als bei Messungen, an denen ein Arzt beteiligt ist. Sie spiegeln die Werte, die außerhalb der Praxis erhoben werden, besser wider. Dieser Ansatz wurde in der SPRINT-Studie (Systolic Blood Pressure Intervention Trial) gewählt, auf die in der ACC/AHA-Leitlinie verwiesen wird [6].

Fazit: Die gegenwärtig praktizierte routinemäßige Blutdruck-Messung in der Praxis sollte nicht die Grundlage für die in der Leitlinie empfohlenen Zielwerte sein.

Evidenzen für eine Herabsetzung der Hypertonie-Grenzwerte auf 130/80 mmHg

9 Studien wurden in der ACC/AHA-Metaanalyse, welche der Leitlinie zugrunde liegt, berücksichtigt [7]. Die Studien rekrutierten selektiv Personen mit einem hohen kardiovaskulären Risiko, wobei die Nachbeobachtungszeit zwischen 2,0 und 5,7 Jahren lag. Die beiden größten Studien folgten den Patienten durchschnittlich 3,3 und 4,7 Jahre lang [6,8]. Es wurde kein statistisch signifikanter Vorteil für die Parameter Gesamtmortalität, kardiovaskulär bedingte Mortalität, Herzinsuffizienz oder renale Ereignisse gefunden, wenn der untere Schwellenwert zugrunde gelegt wurde. Auch die Unterschiede bei den tödlichen oder nicht tödlichen Myokard-Infarkten waren nicht signifikant.

Nur bei kombinierten großen kardiovaskulären Ereignissen (6,2% vs. 7,3%; relatives Risiko = 0,84; Number needed to treat, NNT: 91) und der Kombination aus tödlichem und nicht tödlichem Schlaganfall (2,4% vs. 2,9%; relatives Risiko = 0,82; NNT: 200) kam es zu einem signifikanten Rückgang, wenn der untere Schwellenwert zugrunde gelegt wurde.

Auf Basis dieser Studien sowie der Beobachtungsdaten, die den Blutdruck mit dem kardiovaskulären Risiko verbinden, definiert die ACC/AHA-Leitlinie die Hypertonie als Blutdruck von ≥130/80 mmHg. Diese Leitlinie stützt sich auf die Überzeugung, dass das Erreichen dieses Ziels zu einer Absenkung des Risikos für kardiovaskuläre Ereignisse führen wird, was auch für die große Gruppe der Erwachsenen unter 75 Jahren mit niedrigem bis mittlerem Risiko gelten soll, die in den Studien nicht berücksichtigt worden war.

Was schlägt das ACC/AHA nun vor, was mit den Patienten geschehen soll, deren Blutdruck über dieser Grenze liegt? Die Ärzte sollen sie behandeln, Lebensstil-Fragen angehen und Medikamente einsetzen. Bei Personen, die bereits eine antihypertensive Behandlung erhalten, soll diese intensiviert werden.

Allein nur ihren Lebensstil zu ändern, wird nur unter 65-Jährigen empfohlen, deren  kardiovaskuläres 10-Jahres-Risiko unter 10% beträgt. Die Leitlinie bleibt jedoch auch vage bei der Frage, was mit diesen Patienten geschehen soll, wenn sie nach 3 bis 6 Monaten zur Verlaufskontrolle zurückkehren.

Auch eine intensive Lebensstil-Veränderung führt im Schnitt nach 12 bis 24 Monaten nur zu einem Rückgang des systolischen Blutdrucks um ca. 2 mmHg [9]. Der leichtere Weg ist es damit immer, den Schritt in die medikamentöse Behandlung zu tun, statt die „Krankheit“ unkontrolliert zu lassen.

Meiner Meinung nach geht man zu weit, wenn man die Ergebnisse der Studien pauschal übernimmt und jede Person mit einem Blutdruck über 130/80 mmHg als Patient mit unkontrollierter Hypertonie einstuft. Vor allem wenn dies auf der Grundlage einer routinemäßigen Blutdruck-Messung in der Hausarztpraxis geschieht.

Wenn man diese geänderten Empfehlungen unkritisch umsetzt, wird damit eventuell viel Schaden angerichtet. Die negativen Konsequenzen unsauberer Messmethoden und von Übermedikation können den leichten Rückgang bei den kardiovaskulären Ereignissen in den Studien an Hochrisiko-Personen im Nu zunichtemachen.

Über 90% der Teilnehmer der SPRINT-Studie, deren Blutdruck-Zielwerte reduziert wurden, waren bereits zuvor behandelt worden. Über die Einleitung einer Pharmakotherapie mit dem neuen Zielwert liegen nur wenige Daten vor. Besonders schwerwiegende Nebenwirkungen traten bei 38,3% bzw. 37,1% der Personen in den Interventions- bzw. in den Kontrollgruppen auf, kamen also insgesamt ähnlich häufig vor. Allerdings nahmen bestimmte gefährliche Nebenwirkungen, wie Hypotonie, Synkopen, Elektrolytstörungen, akute Nierenerkrankungen und akutes Nierenversagen in der Interventionsgruppe signifikant zu [6]. Dies sollte man bei der Auswahl der Patienten berücksichtigen.

Das American College of Physicians und die American Academy of Family Physicians (AAFP) bieten einen wohldurchdachten und ausgewogenen Leitfaden an, welcher die Ergebnisse dieser Studien für Erwachsene ab 60 Jahren beinhaltet (Tab. 2) [2,10,11]. Die AAFP hat es abgelehnt, die neue ACC/AHA-Leitlinie zu unterstützen und setzt weiterhin auf die evidenzbasierte Leitlinie aus dem Jahr 2014 zum Management der Hypertonie Erwachsener [12,13].

Tabelle 2. Gegenüberstellung der Leitlinien zur Pharmako-Therapie bei der Hypertonie älterer Menschen ab 60 bzw. 65 Jahren [2,11].

American College of Physicians/American Academy of Family Physicians guideline (AAFP)

American College of Cardiology/American Heart Association guideline (ACC/AHA)

Die Behandlung wird für Erwachsene ab 60 Jahren mit systolischem Blutdruck bei oder über 150 mmHg empfohlen, um einen systolischen Blutdruck von unter 150 mmHg zu erreichen und dadurch das Risiko für Schlaganfall und kardiale Ereignisse sowie die Mortalität zu senken (starke Empfehlung basierend auf qualitativ hochwertigen Evidenzen).

Die Behandlung wird für nicht stationäre, ambulante, selbstständig lebende Erwachsene ab 65 Jahren mit einem durchschnittlichen systolischen Blutdruck von mindestens 130 mmHg empfohlen, um einen systolischen Blutdruck von unter 130 mmHg zu erreichen (starke Empfehlung basierend auf qualitativ hochwertigen Evidenzen).

Die Einleitung oder Intensivierung einer Pharmakotherapie sollte bei bestimmten Personen ab 60 mit hohem kardiovaskulärem Risiko in Betracht gezogen werden, um einen systolischen Blutdruck von unter 140 mmHg zu erreichen (schwache Empfehlung basierend auf minderwertigen Evidenzen).

Entscheidungen über die Intensität der Pharmakotherapie und die Wahl der Medikamente werden sinnvollerweise auf der Grundlage des klinischen Urteils, der Präferenzen der Patienten und eines teambasierten Ansatzes getroffen, um das Risiko und den Nutzen für Hypertonie-Patienten ab 65 mit hoher Belastung durch Komorbiditäten und begrenzter Lebenserwartung zu bewerten (moderate Empfehlung basierend auf Konsensmeinung).

Grundsätzliche Bedenken

In der Hypertonie-Therapie behandeln wir bei asymptomatischen Patienten einen Risikofaktor, um der Krankheit vorzubeugen. Wir behandeln nicht eine Krankheit, um Leiden zu lindern.

Die meisten Menschen, welche die Blutdruck senkenden Medikamente zur Prävention erhalten, werden nicht profitieren. Viele werden Nachteile haben.

Die Festlegung einer Schwelle und eines Therapieziels sollte auf wissenschaftlichen Daten über die Absenkung eines kardiovaskulären Risikos erfolgen. Natürlich sollte man aber die Vor- und Nachteile unter Berücksichtigung der individuellen Umstände abwägen und vor allem auch die Entscheidung des Patienten berücksichtigen.

 

Kommentar

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