Barcelona — Nun sind sie offiziell – die neuen europäischen Leitlinien zur Diagnose und Behandlung des Bluthochdrucks. Beim Kongress der „European Society of Hypertension“ (ESH) sind sie am Wochenende in Barcelona erstmals vorgestellt worden [1]. Und damit haben auch alle Spekulationen ein Ende, ob die Europäer den US-Amerikanern mit ihrer im November vergangenen Jahres vorgestellten – und heiß umstrittenen – Guideline folgen. Tatsächlich tun sie es nicht.
Auch in den Empfehlungen von 2018 der European Society of Cardiology (ESC) und der European Society of Hypertension (ESH) werden Patienten mit systolischen/diastolischen Blutdruckwerten von 130 bis 139 und 85 bis 89 mmHg nach wie vor als „hoch-normaler“ Blutdruck kategorisiert.
So bleiben also auch die neuen europäischen Leitlinien beim alten Klassifikationssystem für hohen Blutdruck. Was sich jedoch ändert: Es wird ein stringenterer Ansatz beim Screening und der initialen Behandlung empfohlen als in der früheren Version aus dem Jahr 2013. Damit sollen die beiden Hauptprobleme bei der antihypertensiven Therapie adressiert werden, heißt es in einer Pressemitteilung der Deutschen Hochdruckliga e.V. DHL® zur Präsentation:: die hohe Dunkelziffer bei der Erkrankung und die mangelnde Compliance und damit schlechte Blutdruckkontrolle.
Konkret empfehlen die neuen Leitlinien daher ein regelmäßiges Screening des Blutdrucks – bei Menschen mit „optimalen“ Werten unter 120/80 mmHg in 5-Jahres-Intervallen; bei solchen mit „hoch-normalen“ Werten von 130-139/85-89 mmHg in mindestens jährlichen Abständen.

Prof. Dr. Bernhard Krämer
Außerdem soll die Initialtherapie nun direkt mit Fixkombinationen beginnen. „Die medikamentöse Therapie soll nun primär als 2-fach-Kombinationstherapie aus ACE-Hemmern oder Angiotensin-Rezeptor-Blockern (ARB) und Kalziumantagonist oder Thiazid-Diuretikum erfolgen, die Monotherapie hat als Erstlinientherapie ausgedient“, erläutert Prof. Dr. Bernhard Krämer, Direktor der V. Medizinischen Klinik, UMM Universitätsmedizin Mannheim und Präsident der Deutschen Hochdruckliga e.V. DHL®, die Neuerungen.
Eine weitere Neuerung in 2018: Die europäische Leitlinie empfiehlt als Therapieziel der medikamentösen Blutdrucktherapie einen systolischen Wert von unter 140 mmHg für die meisten Patienten, aber auch ein Ziel von unter 130 mmHg für Patienten, die jünger als 65 sind – und die eine solche intensive Therapie tolerieren.
Die Klassifikation der arteriellen Hypertonie der Europäer kontrastiert mit derjenigen der kontrovers diskutierten US-Leitlinien aus dem November 2017 der American College of Cardiology (ACC), der American Heart Association (AHA) und anderer Gesellschaften. Denn diese hatten bereits einen Bereich von 130 bis 139 und 80 bis 89 mmHg als Stadium 1 Hypertonie klassifiziert. Und für die meisten Patienten bereits in diesem Bereich (oder darüber) – unabhängig vom Alter – eine medikamentöse Therapie gefordert, um die Werte auf unter 130/80 mmHg zu senken.
Anders nun die Europäer: „Wir haben die Ziele überarbeitet, unter der Vorstellung, dass alle Patienten – einschließlich der älteren – einen Blutdruck unterhalb von 140/90 mmHg als primäres Ziel erreichen sollten“, sagte Prof. Dr. Bryan Williams, University College London, Großbritannien gegenüber Theheart.org | Medscape Cardiology.
Williams war einer der Vorsitzenden der 2018 ESC/ESH Hypertension Guidelines Development Taskforce, dies gemeinsam mit Prof. Dr. Giuseppe Mancia, Universität Mailand-Bicocca, Italien. Sie präsentierten in Barcelona beim ESH 28th European Meeting on Hypertension and Cardiovascular Protection das Dokument, das formal im August publiziert werden soll.
„Bei Menschen im Alter unter 65 empfehlen wir einen systolischen Blutdruck von 130 mmHg oder niedriger, aber nicht unter 120 mmHg“, sagte Williams. Für die über 65-Jährigen empfehlen die Leitlinien ein Ziel unter 140 mmHg, je nach Verträglichkeit – „aber nicht unter 130 mmHg“, so Williams. Beim diastolischen Blutdruck sei ein Wert unter 80 mmHg für alle unter einer antihypertensiven Therapie das Ziel.
„Zuviel für viele alte Patienten“
„Die Empfehlungen sind damit weniger aggressiv als die US-Leitlinien – vor allem bei den älteren Patienten“, erläuterte er. Im Allgemeinen werden in den US-Leitlinien keine Unterschiede im Hinblick auf das Alter der Patienten gemacht – das Ziel von unter 130 mmHg systolisch gilt quasi für jeden.
„Meiner Ansicht nach ist das für viele alte Patienten zuviel – vor allem wenn sie sehr hohe Ausgangswerte haben“, sagte er. „Wir schlagen eher vor, normalerweise bei diesen Patienten nicht unter 130 mmHg zu gehen.“
Auch die US-Klassifikation, schon bei einem systolischen Blutdruck über 130 mmHg von einer Stadium 1 Hypertonie zu sprechen, wird von den europäischen Experten nicht unterstützt. „Wir bleiben bei der Hochdruck-Definition ab einem Praxis-Blutdruck über 140/90 mmHg“, sagte Williams weiter, „wir halten Änderungen in der Klassifikation derzeit nicht für gerechtfertigt.“
Die US-Hypertonie-Leitlinie von 2017 ist auf beiden Seiten des Atlantiks kritisiert worden, weil sie die Blutdruckklassifikation auf diejenigen Patienten ausgeweitet hatte, die Werte von 130 bis 139 und 80 bis 89 mmHg haben – und davor noch als „Prä-Hypertoniker“ klassifiziert worden waren.
Wie kürzlich von Medscape berichtet, hat eine in JAMA Cardiology publizierte Analyse ergeben, dass durch die Neu-Klassifikation mit Stadium 1 insgesamt 45,4% der US-Population und damit 105 Millionen Erwachsene als hyperton gelten. Das ist ein Anstieg um nahezu die Hälfte im Vergleich zur Definition in den früheren Leitlinien.
Start mit der 2-fach-Kombination
Mit dem Fokus auf eine bessere Blutdruckkontrolle bei denjenigen, die behandelt werden, empfiehlt die neue europäische Leitlinie auch eine intensivere medikamentöse Therapie von Beginn an. „Es ist eine radikale neue Empfehlung, die Hypertonie bei den meisten Patienten schon initial mit einer Zweifach-Kombination zu behandeln“, so Williams.
In der früheren Leitlinie von ESH/ESC war die Zweifach-Kombination – vor allem zum Therapiestart – noch eher als Ausnahme angesehen – und nur für Patienten mit besonders hohen Ausgangswerten oder besonders hohem kardiovaskulärem Risiko empfohlen worden.
„Wir empfehlen die Fixkombination, weil sich damit die Therapieadhärenz verbessern lässt“, erläuterte der Experte. „Denn die mangelnde Adhärenz ist einer der Hauptfaktoren, die zu einer schlechten Blutdruckkontrolle beiträgt. Mit einer weiteren Verbreitung von Fixkombinationen – so hoffen wir – können wir auch die schlechten Kontrollraten in den Griff bekommen."
Empfohlen werden in den neuen Leilinien als initiale Blutdrucksenker vor allem die ACE-Hemmer oder Angiotensin-Rezeptor-Blocker (ARB) kombiniert mit Kalziumantagonisten oder einem Diuretikum. Ist eine stärkere Blutdrucksenkung nötig, sollen die 3 Substanzklassen kombiniert werden – am besten wiederum in einer einzigen Tablette. Zur weiteren Intensivierung können dann Spironolacton, ein Alpha- oder Betablocker ergänzt werden.
Betablocker können zudem laut Leitlinie in jedem Stadium hinzugefügt werden, wenn die Patienten eine Indikation für eine solche Therapie haben, etwa bei KHK, Herzinsuffizienz oder Vorhofflimmern.
Dieser Artikel wurde von Sonja Böhm aus www.medscape.com übersetzt und adaptiert.
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Diesen Artikel so zitieren: Neue ESH/ESC-Bluthochdruck-Leitlinie: Europa bleibt der alten Hypertonie-Definition treu, aber einiges ändert sich doch - Medscape - 13. Jun 2018.
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