Fortgeschrittenes Nierenzell-Karzinom: Dank neuer Therapien kann vielen Patienten die Nephrektomie erspart werden

Sonja Boehm

Interessenkonflikte

5. Juni 2018

Chicago – Bei vielen Patienten mit fortgeschrittenem Nierenzell-Karzinom kann auf die bisher als Standard geltende Nephrektomie verzichtet werden. Ihre Überlebenschancen werden dadurch – dank neuer zielgerichteter Therapien wie Sunitinib – in keiner Weise beeinträchtigt.

Dies ist das Ergebnis der beim Jahreskongress der American Society of Clinical Oncology (ASCO) in Chicago vorgestellten europäischen CARMENA Studie (Cancer Renal MEtastatique Nephrectomie Antiangiogéniques) [1]. Die Studie ist zeitgleich im New England Journal of Medicine publiziert worden [2].

„Dank dieser Forschung kann vielen Patienten mit fortgeschrittenem Nierenkrebs die unnötige Operation erspart werden – und eine Menge schwerer Nebenwirkungen als Folge des Eingriffs“, kommentierte als ASCO-Experte Prof. Dr. Sumanta K. Pal, Co-Direktor des Kidney Cancer Program am City of Hope's Comprehensive Cancer Center bei Los Angeles, Kalifornien. Und weiter: „Diese Forschung wird sehr wahrscheinlich zu dramatischen Veränderungen in der Behandlung von Patienten führen, die mit einem metastasierten Nierenzell-Karzinom diagnostiziert werden.“

Jede 5. Erkrankung ist bei Diagnose metastasiert

Den Hintergrund der Studie erläuterte Prof. Dr. Arnaud Méjean von der Abteilung für Urologie am Hopital Européen Georges-Pompidou der Paris Descartes Universität, Frankreich, einer der Studienleiter, der die Ergebnisse bei einer ASCO-Pressekonferenz präsentierte. „Rund 20 Prozent der Patienten mit Nierenkrebs haben bereits bei der Diagnose eine metastasierte Erkrankung“, erklärte er.

 
Dank dieser Forschung kann vielen Patienten mit fortgeschrittenem Nierenkrebs die unnötige Operation erspart werden – und eine Menge schwerer Nebenwirkungen als Folge des Eingriffs. Prof. Dr. Sumanta K. Pal
 

Die Standardbehandlung dieser Patienten war in den letzten 2 Jahrzehnten die zytoreduktive Nephrektomie mit systemischer Therapie. Dies nachdem 2 Phase-3-Studien im Jahr 2001 gezeigt hatten, dass Patienten mit OP und einer systemischen Therapie (damals noch Interferon) länger überlebten als solche, die nur Interferon erhielten.

Aber: „Nachdem in den letzten 10 Jahren viele gezielte Therapien, etwa Sunitinib, in Studien Überlebensvorteile zeigen konnten und für das Nierenzellkarzinom zugelassen worden sind, haben wir uns gefragt, ob die vorherige Nephrektomie – verglichen mit der alleinigen gezielten Therapie – überhaupt noch einen Überlebensvorteil bietet“, erläuterte Méjean.

Klar sei die Situation für Patienten mit niedriger metastatischer Tumorlast – für sie sei die Entfernung der Niere immer noch nützlich. Ebenso eindeutig sei, dass Patienten mit hoher Metastasen-Tumorlast von der Nephrektomie nicht mehr profitierten. Aber die Frage sei gewesen, wie es sich mit den Patienten mit „limitierter metastatischer Tumorlast“ (Performance Status PS 0-1) verhalte.

Mediane Überlebenszeit: 18,4 versus 13,9 Monate

Um diese Frage zu klären, wurden in CARMENA 450 Patienten aus 79 Zentren in Frankreich, Großbritannien und Norwegen aufgenommen. Der Patienten-Einschluss lief über 8 Jahre von 2009 bis 2017. Alle Teilnehmer hatten ein fortgeschrittenes Nierenzellkarzinom, wurden als Patienten mit mittleren oder schlechten Prognosefaktoren eingestuft und kamen per se für eine Nephrektomie und eine Sunitinib-Therapie in Frage. Sie wurden randomisiert und erhielten entweder die Standardtherapie, also zunächst eine Nephrektomie und dann danach einige Wochen später Sunitinib, oder – ohne OP – direkt Sunitinib.

 
Wir haben uns gefragt, ob die vorherige Nephrektomie – verglichen mit der alleinigen gezielten Therapie – überhaupt noch einen Überlebensvorteil bietet. Prof. Dr. Arnaud Méjean
 

Nach einem medianen Follow-up von über 50 Monaten hatten die Patienten im reinen Sunitinib-Arm sogar länger überlebt als diejenigen, die operiert worden waren (18,4 vs 13,9 Monate mediane Überlebenszeit). Damit war die Bedingung für „Nicht-Unterlegenheit“ erfüllt, konstatierte Méjean. Die Hazard Ratio für den Vergleich der beiden Therapiearme betrug 0,89 (95%-Konfidenzintervall:0,71-1,1).

Trotz des relativ groß erscheinenden Unterschiedes in den Überlebenszeiten wurde aufgrund der eher geringen Teilnehmerzahl die vordefinierte Marge für Überlegenheit nicht erreicht. Damit lasse die Studie nicht den Schluss zu, dass der Verzicht auf die Nephrektomie das Überleben verlängere, betonte der Moderator der Pressekonferenz, ASCO Chief Medical Officer, Prof. Dr. Richard L. Schilsky, Senior Vize-Präsident der ASCO aus Chicago.

Aber eindeutig klar sei, so Méjean, dass es die Überlebensprognose der Patienten nicht beeinträchtige, wenn auf die Entfernung der Niere verzichtet werde. In den Endpunkten progressionsfreies Überleben (8,3 vs 7,2 Monate) und „klinischer Nutzen“ (für 47,9 vs 36,6% der Patienten) habe sich die alleinige Sunitinib-Therapie sogar als überlegen erwiesen.

Er verwies auf die Risiken der OP: Blutverlust, Infektionen, Thrombosen und Lungenembolien, oder Herzprobleme. Zudem verzögere der Eingriff den Start der systemischen Therapie – in manchen Fällen verschlechtere sich der Zustand des Patienten in dieser Zeit so stark, dass eine systemische Therapie gar nicht mehr möglich sei.

 
Diese Daten sollten nicht dazu führen, die Nephrektomie sofort über Bord zu werfen. Prof. Dr. Robert J. Motzer und Dr. Paul Russo
 

Méjeans Fazit: „Wenn eine medikamentöse Behandlung notwendig ist, sollte die zytoreduktive Nephrekomie nicht mehr länger als Therapiestandard beim metastasierten Nierenzellkarzinom betrachtet werden!“ Jedoch räumen die Studienautoren auch ein, dass die Nephrektomie natürlich nach wie vor indiziert ist für Patienten, die keine systemische Therapie erhalten, sowie für diejenigen mit nur einer Metastase. Solche Patienten hatten an ihrer Studie auch nicht teilgenommen.

Wie die Autoren berichten, waren von den Studienteilnehmern bis zu ihrer Datenanalyse 326 gestorben, 91% davon krebsbedingt. Aber es gab auch Patienten, die so gut auf Sunitinib allein ansprachen, dass sie nach dem Ende der systemischen Therapie doch noch operiert wurden. Es sei besonders interessant, die Ergebnisse in dieser Subgruppe – und noch einigen anderen – weiter zu verfolgen. 

In einem begleitenden Editorial im New England Journal of Medicine zeigen sich allerdings 2 New Yorker Experten nicht so völlig überzeugt von den Ergebnissen. Prof. Dr. Robert J. Motzer und Dr. Paul Russo wenden ein, dass in der Studie nahezu die Hälfte der Patienten zur „schlechten“ Risiko-Kategorie zählten. Sie glauben, dass die Nephrektomie bei entsprechend ausgewählten Patienten der mittleren Risiko-Kategorie nach wie vor ins Therapie-Repertoire gehöre. Manche Patienten mit limitierter und langsam wachsenden Metastasen könnten nach der OP sogar eine Zeit lang nur überwacht werden und benötigten erst bei Progression eine systemische Therapie.

„Diese Daten sollten nicht dazu führen, die Nephrektomie sofort über Bord zu werfen“, lautet ihre Botschaft, „sondern machen deutlich, wie wichtig eine sorgfältige Selektion der Patienten für einen solchen Eingriff ist.“ Dabei gelte es auf die Risiko-Klassifizierung zu achten, aber auch auf die Resezierbarkeit des primären Tumors, den allgemeinen Gesundheitsstatus und die Komorbiditäten der jeweiligen Patienten.

 

Kommentar

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