Azithromycin gegen Kindersterblichkeit in Afrika: Studie testet massenhafte Verteilung – Experte sieht „Verzweiflungstat“

Susanne Rytina

Interessenkonflikte

30. Mai 2018

In manchen Ländern Afrikas – etwa in Niger – sterben 10% der Kinder vor ihrem 5. Geburtstag. Mit einer großzügigen Verteilung von Antibiotika ließen sich nach Ansicht von US-Forschern tausende von Kinderleben retten. So zumindest das Fazit ihrer im NEJM veröffentlichten Studie [1]. Für die Studie wurde Azithromycin an fast 200.000 Kinder unter 5 Jahren aus Niger, Tansania und Malawi verteilt.

„Die Studie zeigt, dass wir kleine Kinder mit einer simplen Intervention vor dem Tod bewahren können", betont Erstautor Prof. Dr. Jeremy Keenan, University of California San Francisco (UCSF) in einer Pressemitteilung.

 
Die Studie zeigt, dass wir kleine Kinder mit einer simplen Intervention vor dem Tod bewahren können.  Prof. Dr. Jeremy Keenan
 

Die WHO und andere Experten finden die Ergebnisse zwar viel versprechend, sind aber dennoch besorgt, dass die massenweise Verteilung des Medikaments Antibiotika-Resistenzen fördern könne. Die Gesundheit zukünftiger Generationen könnte so beeinträchtigt werden.

„Es widerspricht dem derzeitigen Dogma, weil momentan jeder versucht, den Antibiotika-Gebrauch zu reduzieren", sagt Prof. Dr. Per Ashorn, Experte der WHO für pädiatrische Infektionskrankheiten, gegenüber Nature News . Die WHO brauche mehr Daten, um den Ansatz zu bewerten.

Verteilung von Medikamenten im Blindflug – ein Armutszeugnis?

Prof. Dr. Steffen Borrmann

Dem Tropenmediziner Prof. Dr. Steffen Borrmann, Institut für Tropenmedizin, Universität Tübingen bereitet weniger das Problem möglicher Antibiotika-Resistenzen Kopfzerbrechen. „Als Arzt geht es mir zunächst darum, heute das Leben eines Kindes zu retten und dann morgen zu schauen, was man gegen mögliche Resistenzen tun kann", argumentiert er gegenüber Medscape, „Bedenklich ist eher das massenweise Verteilen von Medikamenten, weil es ein sehr grobes Werkzeug ist,“ kommentiert Borrmann das Studienkonzept.

„Für mich sieht das eher nach einer Verzweiflungstat aus, Tabletten aufs Geratewohl zu verteilen, weil es sonst kein funktionierendes Gesundheitssystem gibt, in dem Menschen diagnostiziert und behandelt werden“, sagt er.

 
Es widerspricht dem derzeitigen Dogma, weil momentan jeder versucht, den Antibiotikagebrauch zu reduzieren. Prof. Dr. Per Ashorn
 

„Das massenhafte Verteilen von Antibiotika im Blindflug kann und sollte nur eine Übergangslösung sein“, betont Borrmann. So baue sich Azithromycin schon nach 5 Tagen im Körper ab. Von einem nachhaltigen Effekt könne daher keine Rede sein.

Prinzipiell seien solche groben Interventionen ein Armutszeugnis für die Entwicklungspolitik, da sie nicht die eigentlichen Ursachen für die Infektionskrankheiten beheben, so Borrmann. Letztlich seien der Mangel an Ärzten und Kliniken, fehlende sanitäre Anlagen, verunreinigtes Wasser und Mangelernährung die Gründe dafür, dass die Kinder derart anfällig für Infektionen sind.

Dies unterstreiche auch ein aktueller Bericht der Vereinten Nationen zur Kindersterblichkeit. „Wenn sie die deutsche Gesundheits-Infrastruktur nach Niger verpflanzen würden, hätte die untersuchte Intervention keinen Effekt“, sagte Borrmann.

Hygiene, Ernährung und Gesundheitsversorgung verbessern

Die Studie sei vor allem deshalb wichtig, weil sie die Probleme in den afrikanischen Entwicklungsländern verdeutliche, so Borrmann: „Wir können uns hier nicht auf die Schulter klopfen und so tun, als seien die Probleme gelöst. Die Krankheiten sind nicht das Problem, da diese heilbar sind. Kein Kind müsste an Malaria sterben. Es liegt an der Armut und der fehlenden Gesundheitsversorgung. Es ist also ein von Menschen gemachtes Problem“, betont er.

 
Für mich sieht das eher nach einer Verzweiflungstat aus, Tabletten aufs Geratewohl zu verteilen, weil es kein funktionierendes Gesundheitssystem gibt ... Prof. Dr. Steffen Borrmann
 

Wer den Ansatz einer massenhaften Verteilung von Azithromycin unterstütze, solle auch daran arbeiten, die Kindersterblichkeit durch eine bessere Hygiene, Ernährung und Gesundheitsversorgung zu reduzieren, meint auch Prof. Dr. Ramanan Laxminarayan, Direktor des Center for Disease Dynamics, Economics and Policy in Washington DC (USA) gegenüber Nature News.

Auch er warnt vor Antibiotikaresistenzen: „Wenn sich eine Resistenz entwickelt, können andere Infektionen, die jetzt noch behandelbar sind, schwerer bekämpft werden.“

In 3 Gemeinschaften in Malawi, Tansania und Niger haben Keenan und Kollegen insgesamt 4 Dosen Azithromycin oder Placebo an 190.238 Kinder unter 5 Jahren (oral; 20 mg/kg Körpergewicht) verabreicht – über einen Zeitraum von 2 Jahren bei einer Dosis pro Halbjahr. Endpunkt war die Kindersterblichkeit, die durch einen Zensus in den Gemeinschaften regelmäßig erhoben wurde.

Signifikanter Rückgang in Niger

Die jährliche Gesamtmortalität betrug 14,6 Todesfälle auf 100 Personenjahre in den Gruppen, die Azithromycin erhielten (9,1 in Malawi, 22,5 in Niger und 5,5 in Tansania) und 16,5 Todesfälle pro 100 Personenjahre in Gruppen, die das Placebo erhielten (9,6 in Malawi, 27,5 in Niger und 5,5 in Tansania).

In Tansania ging die Mortalitätsrate von 5,5 auf 5,4 Todesfälle pro 1.000 Personenjahre, in Malawi von 9,6 auf 9,1 und in Niger von 27,5 auf 22,5 pro 1.000 Personenjahre zurück. Dies entspricht einem relativen Rückgang um 3,4% in Tansania, um 5,7% in Malawi. Den größten Rückgang verzeichnete das ärmste Land Niger mit 18,1%.

Die Vorteile waren nur in Niger – dem Land mit der höchsten Ausgangssterblichkeit – signifikant. Den größten Nutzen hatten Kinder im Alter unter 6 Monaten. In dieser Altersgruppe kam es zu einem Rückgang der Sterblichkeit um 24,9%. 

Intention-to-treat Analysen zeigen, dass über alle 4 Zeitperioden der Intervention die Mortalität in den Gruppen, die Azithromycin erhielten, um 13,5% (95% KI, 6,7-19,8) niedriger war, als in den Placebo-Gruppen, so die Autoren. Keenan und Kollegen hoffen, dass das Antibiotikum künftig in ressourcen-armen Ländern verteilt werden kann, um Millionen von vulnerablen Kindern zu schützen.

 
Das massenhafte Verteilen von Antibiotika im Blindflug kann und sollte nur eine Übergangslösung sein. Prof. Dr. Steffen Borrmann
 

Azithromycin gilt generell als sicher, bestätigt Borrmann, der mit seiner Arbeitsgruppe 2010 selbst zum Wirkstoff geforscht hat. 2013 hatte die FDA allerdings vor möglichen kardiovaskulären Problemen gewarnt. Die Behandlung von Säuglingen könnte nach den Ergebnissen einer Studie in Pediatrics außerdem zu vermehrten hypertrophen Pylorus-Stenosen führen. Dennoch gebe es zu kaum einem Medikament so viele Daten, die für die Sicherheit sprechen, wie für Azithromycin, wendet Borrmann ein.

 

Kommentar

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